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Deutsche und Österreichisch-Ungarische Delegation 19180114 Erklärung zu den besetzten Gebieten

Deutsche und Österreichisch-Ungarische Delegation:

Erklärung zu den besetzten Gebieten

[Brest-Litowsk. 15. Jan. Drahtb[ericht] W[olffs] B[üro], hier nach Stuttgarter Neues Tagblatt, Nr. 29, 17. Januar 1918, Morgen-Ausgabe]

Die der Deutschen und der österreichisch-ungarischen Delegation übermittelten Vorschläge der russischen Delegation betreffend die Entwickelung der Dinge in den von den Zentralmächten besetzten Gebieten Russlands weichen dermaßen von den Ansichten der Verbündeten ab, dass sie in der vorliegenden Form als unannehmbar bezeichnet werden müssen.

Ohne jetzt näher auf die äußere Form dieser Vorschläge eingehen zu wollen, kann doch nicht unbemerkt bleiben, dass sie nicht den Charakter des von den Mittelmächten angestrebten Kompromisses tragen, sondern sich vielmehr als einseitige russische Forderungen darstellen, die den Versuch vermissen lassen, die berechtigten Gründe der Gegenseite in Kalkulation zu ziehen. Trotzdem sind die österreichisch-ungarische und die deutsche Delegation bereit, nochmals, und diesmal formuliert, ihre Anschauungen über die schwebenden Fragen klar zum Ausdruck zu bringen und noch einen Versuch zu unternehmen, ob der von ihnen angestrebte Kompromiss Aussicht auf Verwirklichung bieten kann. Über einen Teil des von den Verbündeten besetzten Gebietes ist in Ziffer 1 des deutschen Entwurfs gehandelt worden. Diese Materie ist durchberaten, bedarf also keiner weiteren Erörterung. Die Frage nach den zur Zeit von den Verbündeten besetzten Gebieten, die ein eigenes staatliches Leben besitzen, wäre rein zeitlich in 4 Stadien zu gliedern:

Den Zeitpunkt zwischen dem Abschluss des Friedens mit Russland und der Beendigung der russischen Demobilisierung, den Zeitpunkt zwischen dem russischen und dem allgemeinen Frieden, den Zeitpunkt des Übergangsstadiums für die neuen Völker und endlich das definitive Stadium, in dem die neuen Staaten die volle Gestaltung ihrer staatlichen Organisation durchführen.

Es muss wiederholt darauf hingewiesen werden, dass für die Mittelmächte, abweichend von dem, was für Russland der Fall ist, mit dem Abschluss des Friedens mit Russland keineswegs auch der allgemeine Friede verbunden ist, dass sie vielmehr gezwungen sind, mit den andern Gegnern den Krieg weiter zu führen. Gegenüber der russischen Regierung erklären die verbündeten Delegationen aufs Neue, dass sie der Anschauung sind, die verfassungsmäßig zuständigen Organe in den neuen Staatsgebilden vorläufig als vollkommen befugt anzusehen, den Willen weiter Kreise der Bevölkerung auszudrücken. Von großer Bedeutung für die Frage der Entstehung der Staatspersönlichkeit ist das Urteil des Obersten Gerichtshofs in Washington vom Jahre 1808 in dem ausgeführt worden ist, dass die souveränen Rechte der Vereinigten Staaten von Nordamerika als voll und ganz bestehend anerkannt werden müssen von dem Tag der Erklärung ihrer Unabhängigkeit ab, d.h. seit dem 4. Juli 1776 ganz unabhängig von ihrer Anerkennung seitens Englands im Vertrag vom Jahre 1782. (flore, Droit international Codice, p. 160).

Die verbündeten Delegationen nehmen Akt von der Erklärung, dass die russische Regierung aus der Tatsache der Zugehörigkeit der besetzten Gebiete zum Bereich des früheren russischen Kaiserreich keine Schlüsse zieht, die irgendwelche tatsächlichen Verpflichtungen der Bevölkerung dieser Gebiete im Verhältnis zur Russischen Republik auferlegen würden, und dass die alten Grenzen des früheren Russischen Kaiserreiches, die Grenzen, die durch Gewalttaten und Verbrechen gegen die Völker gebildet wurden, insbesondere gegen das polnische Volk, gegründet wurden, zusammen mit Zarismus verschwunden sind, ebenso davon, dass für die russische Regierung deswegen die Grundaufgabe der jetzt geführten Verhandlungen nicht darin besteht, uns gegenüber in irgend welcher Weise das weitere zwangsweise Verbleiben der genannten Gebiete im Rahmen des Russischen Reichs zu verteidigen, sondern in der Sicherung der Willensfreiheit und Selbstbestimmung der inneren Staatseinrichtung und der internationalen Lage. In diesem Zusammenhang war die Frage aufzuwerfen, aus welchem Rechtsverhältnis die gegenwärtige russische Regierung ihre Berechtigung und Verpflichtung ableitet, für die Sicherung der Willensfreiheit und Selbstbestimmung dieser Gebiete bis zum Äußersten, das heißt unter Umständen bis zur Fortsetzung des Krieges einzutreten.

Wenn die Tatsache, dass die besetzten Gebiete zum Bestand des früheren russischen Kaiserreiches gehörten, keinerlei Verpflichtung der Bevölkerung dieser Gebiete gegen die russische Republik begründet, ist nicht ohne weiteres ersichtlich, worauf die russische Republik ihrerseits ihre Rechte und Pflichten gegen diese Bevölkerung gründen will. Stellt man sich aber, wie die russische Delegation dies tut, auf den Standpunkt, dass die russische Republik ein derartiges Recht besitzt, so sind in der Tat der Umfang des Territoriums, die politischen Voraussetzungen für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes, das Übergangsregiment und die Form der Willenskundgebung die vier Punkte, über die versucht werden muss, eine Einigung zu erzielen.

Zu Punkt 1. Die Behauptung, das Selbstbestimmungsrecht stehe Nationen, nicht auch Teilen von Nationen zu, entspricht nicht unserer Auffassung des Selbstbestimmungsrechts. Auch Teile von Nationen können ihre Selbständigkeit und Absonderung rechtmäßig beschließen. Es ist dabei keineswegs angenommen, dass die Okkupationsgrenze für die Abtrennung dieser Gebiete maßgebend sein soll. Kurland, Litauen und Polen bilden auch historische angesehene Einheiten. Deutschland und Österreich-Ungarn haben nicht die Absicht, sich die jetzt von ihnen besetzten Gebiete einzuverleiben. Sie beabsichtigen nicht, die fraglichen Gebiete zur Annahme dieser oder jener Staatsform zu nötigen, müssen aber sich und den Völkern der besetzten Gebiete für den Abschluss von Verträgen dieser Art freie Hand behalten.

Zu Punkt 2. Was die Ausführungen hierzu betrifft, so gehen sie an dem grundlegenden Unterschied vorbei, auf den die verbündeten Delegationen immer wieder hingewiesen haben. Eine Zurückziehung der Heere ist solange der Weltkrieg dauert, unmöglich. Jedoch kann angestrebt werden, die Truppen, falls die militärischen Umstände es gestatten, auf diejenige Zahl zurückzuführen, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der technischen Betriebe im Lande unbedingt nötig ist. Die Bildung einer nationalen Gendarmerie kann angestrebt werden. Was die Rückkehr der Flüchtlinge in die während des Krieges evakuierten Gebiete anbelangt, so wird eine wohlwollende Prüfung von Fall zu Fall zugesagt. Diese Frage kann, da sie nicht von ausschlaggebender politischer Bedeutung ist, einer besonderen Kommission überwiesen werden.

Zu Punkt 3. Der russische Vorschlag ist in seinen Einzelheiten nicht klar genug und bedarf einer weiteren Aufhellung. Es ist aber ohne Weiteres anzunehmen, dass mit der fortschreitenden Annäherung eines allgemeinen Friedens den gewählten Vertretern der Bevölkerung des Landes in immer steigendem Umfang die Mitwirkung auch an den Verwaltungsaufgaben eingeräumt werden soll.

Zu Punkt 4. Die verbündeten Delegationen sind grundsätzlich bereit zuzustimmen, dass ein Volksvotum auf breiter Grundlage die Beschlüsse über die staatliche Zugehörigkeit der Gebiete sanktionieren soll. Eine einseitige Festlegung auf ein Referendum erscheint unpraktisch. Auch ein Votum einer auf breiter Grundlage gewählten oder ergänzten Körperschaft würde nach Anschauung der verbündeten Delegationen genügen. Es ist darauf hingewiesen worden, dass auch die von der Regierung der Volkskommissare anerkannten Staatenbildungen innerhalb des ehemaligen Russischen Kaiserreiches wie z.B. die Ukraine und Finnland nicht im Wege eines Referendums, sondern durch Beschlüsse von auf breiter Grundlage gewählten nationalen Versammlungen erfolgten.

Von dem Wunsche beseelt, es neuerdings zu versuchen, zu einer Verständigung mit der russischen Regierung zu gelangen, haben die Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns diese weitgehenden Vorschläge gemacht, fügen jedoch gleichzeitig hinzu, dass sie den äußersten Rahmen bilden, innerhalb dessen eine friedliche Verständigung noch zu erhoffen ist. Sie sind bei der Entwicklung dieser Grundsätze ebenso von der pflichtgemäßen Absicht durchdrungen, die eigene Wehrfähigkeit nicht schwächen zu lassen, so lange der unselige Krieg noch fortgeht, als auch von der Intention, einige Völker, die an ihr Gebiet angrenzen, instand zu setzen, endgültig und selbständig über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, ohne dabei in den Zustand der äußersten Not, des Elend und der Verzweiflung zu geraten.

Eine Verständigung zwischen Russland und den Mittelmächten über diese schwierige Frage ist jedoch nur dann möglich, wenn auch Russland den ernsten Willen zeigt, zu einer Vereinbarung zu gelangen, und wenn es anstatt des Versuches, einseitige Diktate aufzustellen, sich bemüht, die Frage auch von der Gegenseite aus zu betrachten und jenen Weg finden, der allein zu einem friedlichen Ergebnis führen kann. Nur unter der Voraussetzung solcher Intentionen können die Delegationen der verbündeten Mächte noch an der Hoffnung einer friedlichen Beilegung des Konfliktes festhalten.

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