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Leo Trotzki 19180421 Die Sowjet-Macht und der internationale Imperialismus

Leo Trotzki: Die Sowjet-Macht und der internationale Imperialismus

Vorlesung gehalten am 21. April 1918 in Moskau

[Erschienen als Broschüre 1918 im Promachos-Verlag Belp-Bern. Herausgeber: Fritz Platten, Nationalrat, Zürich.]

Genossen! Die kommunistische Lehre, oder die sozialistische Lehre, hat sich als eine ihrer wichtigsten Aufgaben gestellt, auf unserer alten, sündigen Erde solch eine Lage zu erreichen, dass die Menschen auf einander zu schießen aufhören würden. Eine der Aufgaben des Sozialismus oder des Kommunismus ist, so eine Ordnung zu schaffen, bei welcher der Mensch zum ersten Mal seines Namens würdig wäre. Wir sind gewohnt zu sagen, das Wort «der Mensch» klinge stolz. Bei Gorki ist es gesagt: «Der Mensch – das klingt stolz.» In Wirklichkeit aber, wenn man diese drei und drei Vierteljahre des blutigen Mordens überblickt, da möchte man ausrufen: «Der Mensch – das klingt schändlich, schändlich.»

Und seht, so eine Form, so eine Ordnung zu schaffen, wo es keine gegenseitige Vernichtung der Völker geben würde, – dies ist die einfache und klare Aufgabe, die die Lehre des Kommunismus vor uns hinstellt. Jedoch, Genossen, ihr seht zugleich, wie die kommunistische Partei, der ich angehöre, die Partei, welche die gegenwärtige Versammlung einberufen hat, die Partei der Kommunisten-Bolschewiki die rote Armee einberuft und sich zu organisieren und zu bewaffnen aufruft. Hier liegt, auf den ersten Blick, ein tiefer Widerspruch: Einerseits sind wir für die Schaffung von solchen Verhältnissen, unter denen der eine Mensch dem andern sein kostbarstes Gut, d.h. das Leben, nicht nehmen darf. Das ist die vornehmste Aufgabe, eine der wichtigsten Aufgaben unserer Partei, der internationalen Weltpartei der Arbeiterklasse. Anderseits rufen wir euch in die rote Armee. Wir sagen: «Bewaffnet euch, vereinigt euch, lernt schießen und lernt es eifrig und gut, um keinen Fehlschuss zu machen…»

Auf den ersten Blick ist hier ein Widerspruch, auf den ersten Blick scheint hier etwas nicht in Ordnung zu sein. Und, tatsächlich, es hat Kommunisten gegeben, die andere Wege gingen, die andere Mittel anwandten, die, anstatt sich an die Bedrückten mit den zündenden Worten: «Vereinigt euch, bewaffnet euch!» zu wenden, sich mit Predigerworten an die Unterdrücker, Ausbeuter, an die Gewalthaber wandten und sagten: «Entwaffnet euch, hört auf, die euch ähnlichen Menschen zu vernichten, hört auf, zu unterdrücken.» Sie wandten sich an die Wölfe mit der Aufforderung, ihre Wolfszähne abzulegen. Das ist die Predigt der utopischen, d. h. naiven Sozialisten-Kommunisten, deren Ansicht irrtümlich war. Ihre Bestrebungen waren im höchsten Grade edel. Sie erinnern an den großen Utopisten Leo Nikolajewitsch Tolstoi, der ebenfalls die Errichtung einer bessern Ordnung auf Erden anstrebte, der aber glaubte, dass man dies auf dem Wege der inneren Wiedergeburt der Unterdrücker erreichen kann. Indessen aber werden die Unterdrücker-Ansichten, die Unterdrücker-Gefühle und -Triebe von Geschlecht zu Geschlecht an die Unterdrücker weiter vererbt; sie saugen mit der Muttermilch das Streben zur Macht, Unterdrückung und zur Herrschaft ein und glauben, dass alle übrigen Massen, die arbeitenden Massen, dazu geschaffen sind, um als Stütze und Fundament für die Herrschaft dieser kleinen Gruppe zu dienen, – des bevorzugten Standes, der, sozusagen, mit Sporen an den Füßen zur Welt kommt, um sich rittlings auf den Hals des arbeitenden Volkes zu setzen.

Genossen, hier kommen wir zu der Wurzel der Frage. Wir erstreben die Schaffung der kommunistischen Ordnung, wo es keinen Hass der einen Klasse gegen die andere Klasse geben wird, weil keine Klassen vorhanden sein werden; wo es keinen Hass des einen Volkes gegen ein anderes Volk geben wird, weil die Völker auf ein und derselben Erde leben und sich mit gemeinsamer Beschäftigung befassen werden. Indem wir diese Ordnung anstreben, sagen wir zu den Arbeitenden: Solange diese Ordnung nicht erreicht ist, denkt daran, dass ihr die einzige Macht seid, die diese Ordnung zu verwirklichen imstande ist. Und denkt daran (wir aber in Russland kennen es aus Erfahrung viel zu gut), denkt daran, dass die internationalen herrschenden Klassen euch auf diesem Wege ohne Kampf nicht einen Fußbreit abtreten werden, dass sie sich mit Zähnen und Füßen bis zum letzten Atemzug an ihre Vorrechte und Gewinne, an ihre Herrschaft klammern und in die Reihen der Arbeiterklasse selbst Unruhe, Chaos, Zwist, Zerrüttung und Zersplitterung hinein tragen werden, nur um ihre Herrschaft zu behalten. Wir in Russland haben lediglich den ersten Schritt getan, wir haben die politische Herrschaft der bürgerlichen Klassen gestürzt und haben die politische Herrschaft der arbeitenden Klassen festgesetzt. Das ist eine Tatsache, die wir erzielt haben. Die Bourgeoisie hat bei uns keine Macht, die Macht hat die Arbeiterklasse. Zu sagen, die Macht sei schlecht, bedeutet: zu sagen, dass die Arbeiterklasse sich schlecht bewusst sei, was sie nötig habe. Sie kann jede die ihr nötige Macht einsetzen und die Verantwortung liegt auf ihr, der Arbeiterklasse. Die Macht, die in Petrograd, in Moskau und in anderen Städten vorhanden ist, kann, insofern sie von den Arbeitern geschaffen ist, jeden Augenblick von ihnen auch abgeschafft werden, denn sie können den allrussischen Kongress der Sowjets einberufen; denn sie können, wann es ihnen beliebt, die Sowjets neu wählen, den Zentralen Vollzugs-Ausschuss, den Sowjet der Volkskommissare neu wählen. Das ist die Macht der Arbeiterklasse und der Bauern, der armen Bauern, es ist das Fundament, auf dem wir stehen.

Es ist wahr, man sagt uns: «Warum richten sie diese Macht nicht auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts ein in der Gestalt einer konstituierenden Versammlung? Sie waren doch selbst für die konstituierende Versammlung.» Das ist richtig, wir waren dafür. Wir waren immer der Ansicht, dass die konstituierende Versammlung bei weitem besser sei als die zaristische Ordnung, bei weitem besser als die Selbstherrschaft, als die Herrschaft von Plehwe, der Stolypinschen Räuber, des Adels, – die konstituierende Versammlung ist bei weitem besser als das alles. Aber was ist eine konstituierende Versammlung, was ist das allgemeine Wahlrecht? Es ist ein Befragen der gesamten Bevölkerung, eine allgemeine Abrufungwas jeder will. Alle im Lande werden aufgerufen, – die Arbeitenden und die Unterdrückten, die Ausbeuter, die Unterdrücker und die Diener der Ausbeuter unter den Intellektuellen, der «Intelligenz», die durch ihre Seele, durch alles mit der Bourgeoisie verbunden ist und bis ins Knochenmark deren Zwecken dient, – alle werden auf dem Wege des allgemeinen Wahlrechts aufgerufen, und man wendet sich an sie: «Was wollt ihr, sagt es durch das allgemeine Wahlrecht.» Und wenn Kerenski die konstituierende Versammlung, sagen wir im März oder April des vorigen Jahres, einberufen hätte, – wäre dies ein Schritt nach vorwärts gewesen. Der Zar war gestürzt, die Bürokratie überrannt, die Macht war noch nicht in den Händen der Arbeiter, an der Macht standen noch die Gutschkows, Miljukows und ähnliche. Hätte man damals auf dem Wege der konstituierenden Versammlung gefragt: «Was wollt ihr, russische Menschen?», man würde eine Antwort erhalten haben, die direkt jener entgegengesetzt wäre, welche die Bourgeoisie und ihre Diener, die damals an der Macht standen, wünschten. Denn die Revolution besteht doch darin, dass sie die unterdrückten untern Schichten gegen die Unterdrücker-Klassen sich erheben lässt. Was ist die Revolution? Selbstverständlich, für die Krestownikows, für die Rjabuschinskis bedeutet die Revolution, dass man den Zaren stürzt, die alten Minister durch neue ersetzt – und die Sache ist damit abgetan. Aber das Wesen der Revolution besteht nicht darin, sondern die Revolution erweckt und hebt die bedrücktesten, gehetzten und Unrecht leidenden Volksmassen, die von Tag zu Tag ohne Lichtblick, ohne Atempause, gleich Zugtieren, litten; die Revolution erweckt sie und zeigt ihnen, dass sie in ihrer Lage nichts anderes sind als Tiere und Sklaven der andern Klassen. Seht, das ist die Revolution. Und sie bleibt dabei nicht stehen, dass sie den Zaren stürzt, dass ein paar Minister abgesetzt werden. Wenn sie aber dabei stehen bleibt, so ist es keine Revolution, sondern – mit Verlaub gesagt – die Fehlgeburt einer Revolution. Das ist eine falsche historische Geburt; die echte aber, die gesunde historische Geburt vollzieht sich dann, wenn die Arbeiterklasse, sich erhebend, die gesamte Macht im Lande in ihre Hände nimmt und darauf diese Macht in den Gang setzt, um eine neue Ordnung einzuführen, wo es keine Ausbeutung der einen Klasse durch eine andere gibt, und wo alle Produktionsmittel, alle Reichtümer des Landes sich zur Berechnung und unter Kontrolle der Arbeiterklasse befinden. Die Arbeiterklasse ist dann wie der Herr in einer guten Einzelwirtschaft, in einem ländlichen Betrieb: der Herr, der Besitzer, weiß, wie viel Land er hat, wie viel Saat, wie viel Zuchtvieh, wie viel an Wirtschaftsinventar, welches Stück Land er zu gegebenem Zeitpunkt besäen soll, – dies alles weiß er, dies alles ist bei ihm eingetragen und alles ist berechnet. Das ist aber eine einzelne Wirtschaft. Die andern, die neben ihm leben, führen auch ihre Wirtschaft, konkurrieren miteinander. Wir aber wollen, dass die Arbeiterklasse als ein Ganzes, Einheitliches, so ein Herr in Bezug auf das ganze Land sein soll, dass sie wissen möge, wie viel Land sie habe, wie viel natürliche Reichtümer, Erze, Kohlen, wie viel Maschinen, wie viel Rohstoffe, wie viel Arbeitskräfte, wie viel Saatkorn, – dass dies alles eingetragen wäre, damit man dies alles genau wissen und die Arbeit planmäßig einteilen könnte. Und zwar wie ein guter Herr: er selbst ist Arbeiter, er selbst ist auch Herr. Und seht, so eine kameradschaftliche Genossenschaft ist die kommunistische Wirtschaft.

Man sagt, es sei eine Utopie. Unsere Feinde sagen, das würde es nie geben. Das sagen jene, für welche es unvorteilhaft ist, oder die, welche ihre Seele an die herrschende Klasse verkauft haben. Für sie ist es unerreichbar. Ich aber sage euch, Genossen, dass, wenn die Menschen nicht dahin gelangen würden, wenn die Menschen das nicht verwirklichen könnten und imstande wären, dann wäre unsere ganze Menschheit nicht einen Pfifferling wert: sie würde für immer ein Zugvieh bleiben, schlimmer als jedes Tier, denn die Tiere kennen keine Einteilung in Klassen, unter ihnen gibt es keine Herrschaft des einen Zugochsen über den andern, des einen Pferdes über das andere. Wir aber haben stets gesagt: Wenn wir diese Schule von Klassen durchzumachen haben, so geschieht es, um höher hinaufzusteigen; wir müssen gegen diese Einteilung in Klassen kämpfen, und wenn wir diese Prüfung, der wir jetzt, wo wir die Macht in unsere Hände genommen haben, unterzogen sind, nicht bestehen sollten, – wenn es sich erweisen sollte, dass wir damit nicht fertig werden, diese Aufgabe nicht lösen können, – ja, dann sind alle unsere Hoffnungen, Erwartungen, Pläne, die ganze Wissenschaft, die Kunst, alles, wofür sich die Menschen interessieren, alle Ideale, in deren Namen die Menschen kämpfen, ist all das – eine Lüge, und die ganze Menschheit nichts anderes als ein großer Misthaufen nach dem gegenwärtigen vierjährigen Morden, wo die Menschen zu Zehntausenden, zu Millionen einander vernichteten, einzig und allein, um alles auf dem alten Fleck zu lassen. Darum sagen wir auch zu unsern Feinden, die uns bekritteln: Wir wissen ausgezeichnet, dass wir noch nicht bis ans Ende gekommen sind, dass ein weiter Weg noch vor uns liegt und dass noch viel Arbeit und Anstrengung nötig ist. Aber wir haben eines vollbracht – die Vorbereitung. Wenn es nötig ist, ein neues Gebäude auf einer Brandstätte aufzubauen, muss man alles wegfegen und wegschaffen. So haben auch wir von der Bourgeoisie die Macht genommen und beginnen ein neues Gebäude aufzuführen. Wir haben begonnen, die Macht streng zu handhaben, und erklären allen unsern Feinden, dass wir diese Macht aus den Händen der Arbeiterklasse niemals abgeben werden.

Man spricht von der konstituierenden Versammlung. Ich kehre zu dieser wichtigen Erwägung zurück. Was ist überhaupt das allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlrecht? Was ist lediglich eine Umfrage, eine Abrufung? Wenn wir hier versuchen würden, namentlich abzurufen? Der eine Teil würde sich für die eine Entscheidung entschließen, der andere Teil aber für eine andere Entscheidung. Wir müssen aber etwas tun. Da aber etwas getan werden muss, so ist es klar, dass diese beiden Teile in der Auffassung auseinandergehen würden, der eine Teil würde sich für die eine Sache interessieren, der andere für eine andere Sache. Für eine Umfrage ist die konstituierende Versammlung brauchbar, jedoch für die revolutionäre, schöpferische Arbeit taugt sie nicht. Wir haben aber die Umfrage auch ohne die konstituierende Versammlung vollzogen. Miljukow und nachher Kerenski ließen einen Monat nach dem andern vergehen und sie riefen die konstituierende Versammlung nicht ein. Und was wäre die konstituierende Versammlung, wenn man ihren Kadaver auferstehen ließe, obwohl es kein Medikament in der Welt und keinen Zauberer gibt, der das vollbringen könnte? Aber angenommen, wir haben die konstituierende Versammlung einberufen. Was aber bedeutet das? Das bedeutet, dass in der einen, in der linken Ecke, die Arbeiterklasse, ihre Vertreter sitzen und sagen würden: Wir wollen, dass die Macht endlich zum Werkzeug der Herrschaft der Arbeiterklasse und der Vernichtung jeder Unterdrückung und jeder Ausbeutung gemacht werde. Auf der andern Seite säßen die Vertreter der Bourgeoisie, die verlangen würden, dass die Macht nach wie vor der bürgerlichen Klasse übergeben werden soll. Sie drücken sich vorsichtig und höflich aus, sagen: «den gebildeten Klassen», sagen nicht offen: «den bürgerlichen Klassen» aber dem Wesen nach läuft die Sache auf dasselbe hinaus. In der Mitte aber würden die Politiker stehen, die sich bald nach links, bald nach rechts drehen. Das sind die Vertreter der Menschewiki und der rechtsstehenden Sozialrevolutionäre; sie würden sagen: «Die Macht muss zur Hälfte geteilt werden.»

Aber, Genossen, die Macht ist doch kein Laib Brot, den man in zwei Hälften schneiden, in vier Teile usw. zerteilen kann. Die Macht ist ein Instrument, mit dessen Hilfe eine bestimmte Klasse ihre Herrschaft befestigt. Entweder dient dieses Instrument der Arbeiterklasse oder es dient gegen die Arbeiterklasse. Hier gibt es keine Wahl. Solange es zwei Feinde gibt – die Bourgeoisie und das Proletariat und mit ihm das ärmste Bauerntum – und solange diese zwei Feinde gegen einander kämpfen, können sie selbstverständlich nicht eine gemeinsame Waffe haben. Es ist doch nicht denkbar, dass eine Büchse oder eine Kanone zugleich wie der einen Armee, so auch der andern dienen kann. Gewöhnlich muss die eine Armee die Büchse oder die Kanone in den Händen haben. So ist auch die Staatsmacht eine bestimmte Organisation, die entweder der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie oder, umgekehrt, der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse dienen kann. Jene aber, welche in der Mitte stehen und sagen, ob man sie, die Macht, nicht irgendwie in zwei Hälften teilen könne, – sie sind weiter nichts als Makler, Vermittler, die behaupten, sie hätten so ein Rezept, so ein Zaubermittel in der Tasche, und man könne es so einrichten, dass die Staatsmacht, die Kanone, zugleich wie der Arbeiterklasse, so auch der Bourgeoisie dienen würde. Wir, Genossen, kennen solche Zaubermittel aus der Geschichte nicht, wenn aber solche Zaubermittel in der Politik von Zeretelli und Tschernow uns vorgeführt wurden, da wussten wir, dass ihre Kanone in eine Richtung – gegen die Arbeiterklasse schoss, und wir haben weder den Wunsch noch das Bestreben, zu diesem Zustande zurückzukehren.

Genossen, gleichzeitig erklären wir, unsere kommunistische Partei, die Sowjet-Regierung, dass wir für die konstituierende Versammlung, als für einen Schritt nach vorwärts unter dem Zarismus, waren; wir waren damals für eine Umfrage, als aber das Volk den Zaren gestürzt hatte, da sagten wir: Ihr müsst jetzt die Sache gründlich machen, und es ist nötig, dass jene Klasse die Macht ergreift, welche berufen ist, Russland auf neuen Grundlagen umzubauen, – nämlich die Arbeiterklasse. Und wir haben hierbei in keiner Weise weder uns noch euch etwas vorgetäuscht. Wir sagten, dass auf eurem Wege ungeheure Schwierigkeiten liegen, kolossale Hindernisse, ein furchtbarer Widerstand der bürgerlichen Klassen, und nicht allein von Seiten der russischen Bourgeoisie, die an sich selbst schwach ist, sondern auch von Seiten der internationalen Bourgeoisie, denn die russische Bourgeoisie ist weiter nichts als ein Nebenzweig der bürgerlichen Klassen aller Länder. Sie führen wohl soeben Kriege, haben Zusammenstöße, aber in der Hauptsache, in der Grundfrage sind sie untereinander vollkommen einig, – in der Verteidigung des Eigentums und aller mit dem Eigentum verknüpften Vorrechte. Ihr erinnert euch sicher, wie wir bei uns unter den bürgerlichen Klassen, in der Mitte der Grundbesitzer, in der Mitte der großen und kleinen Bourgeoisie noch vor kurzem, vor der Revolution, eine Menge Parteien beobachten konnten. Da gab es: rechtsstehende von den «Schwarzen Hundert», Nationalisten, Oktobristen, linksstehende Progressisten, Kadetten usw., ein ganzer Schwarm von Parteien. Woher kamen sie? Ja, das waren verschiedene Gruppen von Eigentümern. Die einen vertraten die Interessen des Großgrundbesitzes, die andern – die Interessen des mittleren und kleinen Grundbesitzes, jene – die Interessen des Bankkapitals, diese – die Interessen des Industriekapitals, die dritten – die Interessen der diplomierten Intellektuellen, – der Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure usw. usw. Seht, darum gibt es auch unter der Bourgeoisie selbst, bei den besitzenden Klassen, ihre Gruppierungen, ihre Einteilungen, ihre Parteien. Als aber unsere Revolution die Arbeiterklasse auf die Füße stellte, da vereinigte sich die ganze Bourgeoisie, alle Parteien verschwanden und es blieb einzig und allein die Kadettenpartei übrig, die alle besitzenden Klassen, das ganze heilige Lager der Besitzer umfasste, sie im Kampfe für das Eigentum gegen die werktätigen Klassen verband.

Genossen, dasselbe geschieht auch mit der internationalen Bourgeoisie. Sie führt schreckliche blutige Kriege, aber sobald sich die revolutionäre Klasse, die proletarische Klasse erhebt, die die Grundlagen des Kapitalismus bedroht, sofort beginnt die Bourgeoisie in allen Ländern einander nachzugeben, um ein gemeinsames Lager gegen das heranziehende furchtbare Gespenst der sozialistischen Revolution zu bilden, und seht, darum streben wir energisch zu der kommunistischen Ordnung, wo es einen Kampf des einen Volkes gegen ein anderes nicht geben wird. Aber solange wir das nicht erreicht haben, müssen wir bereit sein, die größten Schwierigkeiten zu überwinden, den größten Kampf, wie im Innern unseres Landes, so auch an seinen Grenzen, zu bestehen; denn, je weiter, je stärker die revolutionäre Bewegung sich entwickeln wird, um so enger wird sich die Bourgeoisie aller Länder zusammenschließen. Europa wird durch die größten Prüfungen, wird durch Feuer und Flamme des Bürgerkrieges hindurchgehen, und die russische Bourgeoise wird, sich auf die europäische Bourgeoisie und auf die Bourgeoisie der ganzen Welt stützend, mehr als eine Anstrengung gegen uns machen. Darum sagen wir, dass wir zu dem Frieden gehen, aber zu einem Frieden auf dem Wege des bewaffneten Kampfes der arbeitenden Massen gegen die Unterdrücker, die Ausbeuter, die Imperialisten aller Länder. Diesen Weg werden wir bis ans Ende gehen. Genossen, darüber müssen wir uns klare Rechenschaft abgeben. Gewiss, wer da glaubt, dass wir alles erreicht haben, der gibt sich keine klare Rechenschaft ab, was die Geschichte im Grunde ist. Sie ist keine nachsichtige und weiche Mutter, welche die Arbeiterklasse beschirmt; sie ist eine böse Stiefmutter, die in blutiger Erfahrung die Arbeiter lehrt, wie sie sich erheben und wie sie ihre Ziele verfolgen sollen. Darin liegt ja das Unglück der Arbeitenden. Ich sage oft und wiederhole oft den Genossen in Versammlungen, dass sie ein kurzes Gedächtnis haben. Sie sind leicht versöhnlich, sie vergessen zu leicht. Kaum wird es ein wenig leichter, kaum ist etwas erreicht, da scheint es ihnen, die Hauptarbeit sei getan, und sie sind geneigt, Großmut zu zeigen, sich passiv zu verhalten und den Kampf einzustellen; die besitzenden Klassen aber stellen indessen den Kampf nicht ein, sie sind zu andauerndem Widerstand gegen den Angriff der Arbeitermassen erzogen, und eine Passivität unserseits, eine Unentschlossenheit, ein Schwanken bedeutet, dass wir unsere schwache Seite den Schlägen der besitzenden Klassen aussetzen, bedeutet, dass morgen oder übermorgen ein neuer Angriff ihrerseits auf uns erfolgen wird. Die Arbeiterklasse braucht eine kräftige Stählung, eine Unversöhnlichkeit, eine tiefe Überzeugung, dass ohne Kampf für jeden Zollbreit, für jeden kleinen Schritt zur Besserung des Schicksals der Arbeiterklasse, ohne andauernden, unversöhnlichen Kampf die Rettung und die Befreiung unmöglich sind.

Und, Genossen, ich sage euch offen, dass wir in die Reihen der Kommunistischen Partei zuerst die Arbeiter rufen und in zweiter Linie alle ergebenen und zuverlässigen Freunde der Arbeiterklasse. Aber, Genossen, wessen Seele Zweifel oder Unentschlossenheit birgt, der mag von unsern Reihen fortbleiben. Für uns ist es bedeutend wertvoller, einen erprobten Kämpfer, als zehn Unentschlossene, zu haben, denn bei Entstehung des Kampfes werden die zehn Unentschlossenen einen Entschlossenen mit sich ziehen und ihn zurückhalten; wenn aber die Entschlosseneren, vereinigt in eine Schar, sich in den Kampf gegen den Feind stürzen, werden sie auch die Unentschlossenen und die Schwankenden mit sich reißen. Darum rufen wir in die Reihen unserer Partei nur jene, welche klar begriffen haben, dass wir den Weg des unversöhnlichen Kampfes gegen die Unterdrücker aller Länder, die gegen uns marschieren, betreten haben. Hier ist kein Platz für einen Vermittler, der in der Mitte zwischen den einen und den andern stehen und zur Verständigung rufen würde. Niemand wird auf ihn hören. Niemals wird die Bourgeoisie freiwillig ihre Herrschaft und Macht abtreten. Hier muss man ständig auf einen Widerstand und Kampf gefasst sein und unserseits ist es nötig, für den Kampf bis ans Ende bereit zu sein.

Das ist die Hauptaufgabe der Kommunistischen Partei, die gegenwärtig als die leitende Partei in den Sowjets, den Organen der Macht, erscheint. Die Hauptaufgabe ist: zu erreichen, dass jeder Schaffende, jeder Arbeitsmann geistig fest gestählt sei, dass er sich sage, ja selbstverständlich, in diesem Kampfe, der gegenwärtig vor sich geht, werde ich vielleicht auch zugrunde gehen. Aber was ist ein Sklavenleben, ohne Lichtblick, unter der Ferse der Unterdrücker im Vergleiche mit dem herrlichen Tod eines Kämpfers, der seine Fahne neuen Geschlechtern übergibt und der mit dem Bewusstsein stirbt, dass er nicht für die Interessen der Könige und Zaren, nicht für die Interessen der Unterdrücker, sondern für die Interessen der eigenen Klasse sein Leben lässt? Wir müssen die Genossen lehren, für die Interessen der Arbeiterklasse, voll Treue in der Seele, bis zum letzten Augenblick zu leben und zu sterben. Seht, wohin wir euch rufen.

Wir wissen auch, auf welche Hindernisse und welchen Widerstand wir auf dem Wege unserer Politik stoßen. Unsere Revolution ist unmittelbar aus dem Kriege entstanden. Der Krieg aber ist aus dem Kapitalismus entstanden, und wir haben lange vor dem Kriege vorausgesagt, dass das kolossale Anwachsen der Rüstungen, dass der Kampf der Bourgeoisie des einen gegen die Bourgeoisie des andern Landes wegen der Profite und der Märkte, dass das alles einst mit einer schrecklichen Katastrophe enden müsse, Gegenwärtig sagt die Bourgeoisie Deutschlands, die englische Bourgeoisie wäre daran schuld, die englische Bourgeoisie aber klagt die deutsche an, und so werfen sie die Verantwortung einander zu, wie es die Clowns im Zirkus mit Bällen tun. So schleudert auch die Bourgeoisie die Verantwortung für diesen blutigen Krieg einander zu. Wir haben jedoch die Unvermeidlichkeit des Krieges vorausgesagt und diese Unvermeidlichkeit entsprang nicht dem Willen eines oder zweier Könige oder der Minister, sondern dem ganzen Wesen der kapitalistischen Ordnung. Dieser Krieg ist ein Examen für die ganze kapitalistische Ordnung, für das ganze bürgerliche, wirtschaftliche und sittliche System. Und seht, darum sagten wir bei Beginn des Krieges, dass er eine furchtbare revolutionäre Bewegung unter den arbeitenden Massen in allen Ländern schafft; mir fiel es zu, während des Krieges in einer Reihe von Ländern zu sein. Das erste Mal war ich gezwungen, Österreich zu verlassen, um dort nicht in Gefangenschaft zu geraten. Dann war ich in der Schweiz, die in einem Winkel zwischen Deutschland, Österreich und Frankreich liegt, wo die Wege dieser drei kriegführenden Länder sich kreuzen. Darauf musste ich ungefähr zwei Jahre in Frankreich verbringen, und schließlich damals, als sich die Nordamerikanischen Vereinigten Staaten in den Krieg hineinmischten, nach Amerika übersiedeln. Und überall habe ich ein und dasselbe beobachtet: in der ersten Zeit betäubt der Krieg die arbeitenden Massen, betrügt sie, führt sie in Versuchung, später aber revolutioniert er sie, lässt ihren Protest der Empörung gegen den Krieg, gegen die Ordnung, die zum Kriege führt, gegen ihre Herrscher entstehen. Warum hebt der Krieg zuerst die patriotische Stimmung bei den arbeitenden Massen? Ja, darum, weil ungeachtet dessen, dass es sozialistische Parteien, Kommunisten gibt, ringsherum noch Millionen von emsigen Arbeitern vorhanden sind, die ein geistiges Leben nicht leben. Unser Hauptunglück liegt darin, dass es noch Millionen von emsigen Arbeitern gibt, die automatisch dahinleben, arbeiten, essen und schlafen, wobei sie kaum ausreichend essen und schlafen, dafür aber über ihre Kräfte arbeiten, und nur daran denken, wie sie auskommen können. Seht, ihr Gesichtskreis ist dadurch beschränkt, ihr Kopf denkt an nichts anderes, ihr Verstand, ihre Gedanken, ihr Gewissen schlummert in der gewöhnlichen Zeit, und von Zeit zu Zeit trinken sie an Feiertagen gemeinen Branntwein. Seht, das ist das Leben eines Arbeiters, ein tragisches und schreckliches Dasein. (Bei der Erwähnung von «Branntwein» lachte ein Teil der Zuhörer). Das ist, Genossen, nichts Lächerliches. Es ist das tragische, furchtbare Schicksal von vielen und vielen Millionen geplagter Arbeiter, das System des Kapitalismus verurteilt sie dazu, ja, möge es verflucht sein, dass es die Arbeiter zu einem solchen schrecklichen Leben verurteilt.

Da aber erscheint der Krieg; das Volk wird mobilisiert, es tritt auf die Straße und ist in Soldatenmäntel eingekleidet. Man sagt zu ihm: Wir marschieren gegen den Feind, werden siegen, alles wird sich ändern, verwandeln. Und Hoffnungen entstehen. Die Menschen verlassen den Pflug, die Drehbank. Und in Friedenszeiten hätte der Mensch vielleicht auch an nichts gedacht, gleich einem Zugvieh, hier aber wird ihm eine neue Aufgabe gestellt, ringsherum sieht er Hunderttausende von Soldaten, alle sind erregt, Militärmusik spielt, große Siege werden versprochen, und er hofft, irgendwie würde es anders werden, anders werden aber – heißt besser werden, denn schlechter kann es nicht mehr werden.

Und er glaubt, dass der Krieg – ein Befreiungskrieg sei, der ihm etwas Neues bringen wird. Darum haben wir auch beobachtet, wie zuerst in allen Ländern ohne Ausnahme in der ersten Periode des Krieges ein patriotischer Aufschwung zu verzeichnen war. Die Bourgeoisie wird stärker. Sie sagt: Das ganze Volk ist mit mir. Unter den Fahnen der Bourgeoisie marschieren die fleißigen Arbeiter der Felder und aus den Städten. Alles scheint zu einem einzigen Nationalgefühl zusammenzufließen. Später aber entwickelt der Krieg seine innere Arbeit – erschöpft das Land, macht das Volk obdachlos, bereichert ein paar Häuflein Marodeure, Spekulanten, Militärlieferanten, verleiht Rang und Orden an Diplomaten und Generale, die arbeitenden Massen aber werden immer ärmer und ärmer und die Ernährerin, Frau, Mutter, die Arbeiterin steht jeden Tag vor der schwierigen Frage, die immer schneidender wird, – womit sie den Küchentopf füllen soll, um die Kinder satt zu machen. Und das erzeugt unter den arbeitenden Massen eine kolossale Revolution. Zuerst hebt sie der Krieg hinauf und erweckt falsche Hoffnungen, dann aber, nachdem er sie hoch hinauf gehoben hat, schleudert er sie zu Boden, so dass das Rückgrat bei der Arbeiterklasse kracht, und sie spürt es, beginnt nachzudenken, woher das komme und was es zu bedeuten habe. Aber die Bourgeoisie ist nicht dumm, das kann man ihr nicht absprechen, – sie hat bereits seit Anfang des Krieges die Gefahr vorausgesehen, hat aus diesem Grunde die Revolution, solange es möglich war, mit Hilfe ihrer eifrigen Generäle zurückgehalten. So war es in Europa nach dem französisch-preußischen Kriege. Aber bereits in der ersten Epoche des gegenwärtigen Krieges, als es schien, dass der Patriotismus alle Menschen umfasse, – sogar zu diesem Zeitpunkte, wenn ich in Paris mit bürgerlichen Politikern sprach, hörte ich von ihnen sachte und leise, dass das Resultat dieses Krieges die große Revolution sein würde. Sie, diese bürgerlichen Politiker, hoffen selbstverständlich, mit ihr fertig zu werden. Wenn wir die bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften, zum Beispiel die englische Zeitschrift, die sich «Economist» nennt, für die Monate August und September oder Oktober 1914, des ersten Kriegsjahres, lesen, so ist in dieser Zeitschrift bereits vorausgesagt, dass das Endresultat des Krieges in allen Ländern, die in ihn hineingezogen sind, die sozialrevolutionäre Bewegung sein würde. Sie haben die Unvermeidlichkeit dessen begriffen, und sie hatten vollkommen recht, genau wie wir recht behalten haben, als wir sagten, dass dieser Krieg in Russland unvermeidlich zur Revolution führen würde und dass, wenn es der Revolution bestimmt sei, bis zu Ende zu verlaufen, sie die Arbeiterklasse zur Macht bringen würde.

In Russland ist das Kapital vermittelst des Finanzkapitals von Westeuropa geschaffen. Wenn wir zum Beispiel Frankreich nehmen, so hat sich dort das Kapital der Großindustrie allmählich, im Verlauf von vielen Jahrhunderten, entwickelt. Im Mittelalter waren das Handwerk, kleine Unternehmen, Zünfte, Gilden vorhanden, dann entwickelten sich nach und nach große und mittlere Betriebe, Manufakturen usw., und die französische Börse zog einen ganzen Schwanz von mittleren und kleinen Unternehmen nach sich. Sie haben ihren politischen Einfluss. Und bei uns?

Bei uns ist das Finanzkapital aus andern Ländern, Frankreich, Deutschland, England usw. eingedrungen und hat Riesenfabriken, und dabei plötzlich, auf einen leeren Fleck, irgendwo im Gouvernement Jekaterinoslaw, im ganzen Süden und Südwesten, geschaffen. Dort gibt es Riesenunternehmungen, genau wie auch in Petrograd, Moskau und andern Städten. Das westeuropäische Kapital verpflanzte ganze Fabriken und Werke hierher und verankerte sie mit einem Mal. Darum ist unsere Bourgeoisie von den breiten Volksmassen losgerissen. Das ist für sie ein großes Übel. Durch die ungeheure Finanzmacht eng verbunden, besitzt sie keine politische Macht. Bei uns hat noch keine Bourgeoisie, wenn man das Bauerntum nicht mitzählt (unter dem Bauerntum in Russland jedoch macht die Mehrheit das proletarische Element, die ärmsten, hungernden Massen aus), einen besonderen Einfluss besessen. Und die ganze Frage der Revolution lautete: mit wem werden die Armen gehen? mit der Bourgeoisie, die sie betrügt, falsche Hoffnungen vorspiegelt, oder mit der Arbeiterklasse? Darin lag die ganze Frage. Nicht von Tschernow war die Rede, nicht von Zeretelli oder Kerenski, diesen Maklern und Mittlern, sondern davon, ob die bäuerlichen Armeen hinter den Arbeitern marschieren werden, und wer wird das Bauerntum auf seine Seite ziehen – die Arbeiterklasse oder die Klasse der Bourgeoisie. Und jetzt können wir sagen, dass die Frage dank den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu drei Viertel gelöst, dass die Bourgeoisie, ihr Einfluss auf dem Lande fast gänzlich gebrochen ist, und dass die armen Bauern mit der Arbeiterklasse gehen, um so entschlossener mit ihr marschieren werden, je stärker, je zielbewusster das städtische Proletariat wird, und das ist nur den Genossen, nur der völligen Herrschaft der Arbeiterklasse zu verdanken. Das städtische Proletariat stellt bei uns die Minderheit der Bevölkerung dar. Die erdrückende Mehrheit – sind die Bauern. Folglich, wenn die ländlichen Massen, die unteren Schichten in den Dörfern die Arbeiter nicht unterstützen werden, dann kann die Arbeiterklasse die Macht nicht halten. Das bedeutet aber, dass die städtische Arbeiterklasse nicht allein für sich kämpft, sondern dass sie als unmittelbarer Verteidiger, als Kämpfer für die Interessen der breiten Volks- und Bauernmassen auftritt, und dass sie im buchstäblichen Sinne des Wortes der Volksheld werden wird, wenn sie imstande sein und verstehen wird, ihre Aufgabe bis zu Ende zu erfüllen.

In den alten Revolutionen, wo die Bourgeoisie den Oberbefehl hatte, führte sie die Bauernmassen hinter sich. So war es zur Zeit der großen französischen Revolution, so zur Zeit der Revolution im Jahre 1848 in dem damaligen alten Deutschland – so war es in allen, ohne Ausnahme, Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert. So war es immer. Jetzt aber, Genossen, – und darin liegt die ungeheure Veränderung, der kolossale Schritt nach vorwärts – hat bei uns die Arbeiterklasse zum ersten Mal die Vormundschaft und geistige Überlegenheit der Bourgeoisie von sich geworfen, sich auf eigene Füße gestellt, hat aber außerdem die Bauernmassen den Händen der Bourgeoisie entrissen und sie nach sich gezogen. Darin liegt die unvergängliche Eroberung der russischen Revolution. Darin liegt der Schutz der russischen Revolution.

Darum erregen die Organe der Revolution, die Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten, den Hass der Bourgeoisie aller Länder. Seit dem Anfang der Revolution, in den ersten Tagen, als in New York die Zeitungen mit den Berichten eintrafen, dass in Russland die Revolution ausgebrochen ist, verhielten sich die bürgerlichen Zeitungen zu dieser Revolution sehr sympathisch. Damals wurde ja mitgeteilt, dass Nikolaus der Zweite mit Deutschland Verhandlungen über den Frieden geführt habe. Amerika aber schickte sich an, in den Krieg einzutreten, und nach anderthalb Monaten, nein, sogar früher, – nach drei Wochen trat es auch in den Krieg. Die Zeitungen meldeten, dass der Zar abgedankt, dass sich ein Ministerium von Miljukow und Gutschkow gebildet habe, und das alles erzeugte die Sympathien bei der gesamten bürgerlichen Presse; aber als die Nachrichten kamen, dass in Petersburg sich der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten gebildet habe und dass zwischen ihm und Miljukow nebst Gutschkow irgendwelche Zusammenstöße vorgefallen wären, – es war jedoch der Sowjet von Kerenski und Tschernow, da änderten die Zeitungen den Ton. Damals kam es bereits zu den ersten Konflikten und Zusammenstößen zwischen den Sowjets und der Regierung, obwohl auch die Arbeiter den Vermittlern Gefolgschaft leisteten; der Arbeiter-, der Klassencharakter der Sowjets zeigte sich bereits damals. Und mit einem Schlage machte sich in der bürgerlichen Presse in allen Ländern eine deutliche Schwenkung gegen die russische Revolution bemerkbar und die gesamte bürgerliche Presse warnte Miljukow und Gutschkow davor, dass, wenn die Sowjets sich endgültig festsetzen und die Macht in ihre Hände nehmen würden, das eine schreckliche Gefahr für Russland und sogar für die ganze Welt bilden würde. Und da wir Genossen in Amerika damals in dortigen Versammlungen von ausländischen Arbeitern Miljukow und Gutschkow und ihre Politik grausam kritisierten und die Unvermeidlichkeit voraussagten, dass die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten die Macht in ihre Hände nehmen würden, so schrieb die ganze bürgerliche Presse, wir gingen nach Russland, um die Macht in die Hände von dunklen Banden zu übergeben. Die Sache ging so weit, dass ein englisches Kriegsschiff uns, eine kleine Gruppe von sechs Menschen, in Kanada in Gefangenschaft nahm und uns zugleich mit deutschen Matrosen zurückhielt, indem man uns anklagte, dass wir angeblich nach Russland reisen, die Macht von Gutschkow und Miljukow zu stürzen und die Macht der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten einzuführen.

Das war im März 1917, also im ersten Monat der Revolution. Sie fühlten bereits, die englische und die amerikanische Bourgeoisie wusste schon, dass die Macht der Sowjets für sie eine kolossale Gefahr darstelle. Gleichzeitig aber, je klarer es für die amerikanischen Arbeiter wurde, dass die russische Revolution keine Wiederholung der alten Revolution sei, wo die einen Spitzen durch andere Spitzen ersetzt wurden, wo aber die beiden Spitzen ebenso auf dem Rücken der Arbeiterklasse sitzen blieben, dass die russische Revolution eine solche Revolution ist, wo die unteren Schichten nach oben steigen, um das gesellschaftliche Gebäude umzubauen, – je stärker die Arbeiter in Amerika von diesem Bewusstsein durchdrungen wurden, um so innigeren Anteil nahmen sie an unserer Revolution und um so größer war unter ihnen der Enthusiasmus, den diese Revolution hervorrief. Und wenn unsere Revolution nicht mit der Schnelligkeit, wie wir es in den ersten Tagen glaubten, einen unmittelbaren Widerhall in allen Ländern und eine revolutionäre Bewegung in Deutschland, Frankreich und England hervorgerufen hat, so fällt die Schuld in bedeutendem Maße auf die Arbeiter selbst, die die Politik der Mittler1 unterstützten, indem sie dadurch die russische Revolution in den Augen der Arbeiterklasse aller Länder kompromittiert haben. Viele Führer der arbeitenden Massen hofften, dass die russische Revolution sofort zum Abschluss des allgemeinen Friedens führen würde, und so groß war damals die Überzeugung, dass, wenn die damalige Regierung von Kerenski und Miljukow oder die Regierung, die an ihrer Stelle gewesen wäre, sich an alle Völker mit dem Vorschlag eines unverzüglichen Friedensschlusses gewandt hätte, der Aufschwung der Arbeitermassen und der Armeen zugunsten des Friedens ein gewaltiger gewesen wäre, und wir hätten einen ungeheuren Erfolg gehabt. Aber anstatt dessen, unterstützten wir die Politik der alten zaristischen Dplomaten, veröffentlichten die Geheimverträge nicht, bereiteten aber dafür die Offensive vor, die am 18. Juni verwirklicht wurde und mit einer schrecklichen, blutigen Vernichtung und einem Rückzüge endete. Die Arbeitermassen in allen Ländern, die erwartet hatten, dass die russische Revolution sich in ihrer ganzen Größe zeigen und etwas Neues lehren würde, waren gezwungen, sich zu sagen, dass es dasselbe ist, was auch früher war, – dieselben Verbündeten, derselbe Krieg, dieselbe Offensive im Namen derselben alten räuberischen Ziele. Die Bourgeoisie in allen Ländern aber nutzte dies in verbrecherischer Weise aus, um den Ruf, das Ansehen der russischen Revolution, sozusagen anzuspritzen, ihn zu beschmutzen. Und die bürgerliche Presse schrieb: darin, also, besteht die Revolution, soeben erst stürzt man die eine Regierung und ersetzt sie durch eine andere, die neue Regierung aber erklärt, dass eine andere Politik unmöglich sei. Folglich ist es auch zwecklos, die alten Regierungen zu stürzen, wenn die neue Regierung dasselbe tut. Also ist die Revolution ein Leichtsinn, ein leerer Aufwand, eine leere Illusion. Und da durchzog eine Kälte die Seele der Arbeiter gegenüber der russischen Revolution. Die Offensive vom 18. Juni, Kerenskis Offensive, war der schrecklichste Schlag für die Arbeiterklasse in allen Ländern, war der schrecklichste Schlag für die russische Revolution. Und wenn wir jetzt den Frieden von Brest-Litowsk, den drückendsten Frieden, ernten, so sind das einerseits die Folgen der Politik der zaristischen Diplomaten, anderseits aber – das Resultat der Politik von Kerenski und der Offensive vom 18. Juni. Das waren sie, die zaristischen Bürokraten und Diplomaten, die uns in den schrecklichen Krieg stürzten, das Volksgut plünderten und unser Volk ausraubten; das waren sie, die die Volksmassen in Unwissenheit und Sklaverei hielten, anderseits waren es – die Mittler: Kerenski, Zeretelli und Tschernow, die am Strang der alten Politik zogen und sie bis zur Offensive des 18. Juni hinein schleppten. Die ersten – die zaristischen Diplomaten – verheerten unser Land in materieller Hinsicht, die zweiten aber – die Mittler: die Kerenski, Zeretelli und Tschernow – verheerten unser Land geistig, und wir sind jetzt gezwungen, solche Wechsel, wie den Frieden von Brest-Litowsk, zu bezahlen, Das sind zaristische Wechsel, die Wechsel von Kerenski und Cie., wir aber müssen fremde Wechsel einlösen. Das ist das grausamste Verbrechen, das auf die Arbeiterklasse eine schreckliche Verantwortung für die Sünden der internationalen Imperialisten und ihrer Diener übertrug. Dieselben Menschen kommen auch jetzt zu uns und sagen: ihr habt den Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet. Ja, wir haben ihn unterzeichnet, haben ihn mit zusammengebissenen Zähnen unterzeichnet, weil wir unsere Schwäche empfanden; wir sind zu schwach, um den Strick, der sich um unsern Hals geschlungen hat, zu zerreißen. Ja, wir gingen darauf ein, wie ein hungriger Arbeiter mit zusammengebissenen Zähnen zu einem Blutsauger von Herrn hingeht und um den halben Preis sich und die Arbeit seines Weibes verkauft, weil er keine andere Möglichkeit zu leben und zu existieren hat. So waren auch wir soeben gezwungen, den furchtbaren, den schimpflichsten Frieden zu unterzeichnen. Mit diesem Frieden ziehen wir das Fazit der verbrecherischen Arbeit des internationalen Imperialismus und seiner Diener – der Mittler. Wir bezahlen den Wechsel, unter dem deutlich die Unterschriften stehen: Nikolaus II., Miljukow und Kerenski. Das ist jener Wechsel, den wir eingelöst haben.

Aber, Genossen, das bedeutet keineswegs, dass wir uns nun beruhigen können, es bedeutet nicht, dass wir, nachdem wir nun den Schuldigen gefunden, die historischen Ursachen gefunden haben, uns auch damit zufriedengeben können. Keineswegs! Wir sind schwach, ja, wir sind schwach, und das ist unser historisches Hauptverbrechen, weil man in der Geschichte nicht schwach sein darf. Wer schwach ist, wird zur Beute des Starken. Durch Predigt und hohe, schöne Worte kann man sich nicht retten. Da ist Portugal – nehmen wir ganz Europa von Anfang bis zu Ende durch –, das kleine Portugal, es wollte nicht Krieg führen, England aber zwang es dazu. Ein armes, kleines Volk, zweieinhalb Millionen Seelen, – sie wollten nicht Krieg führen, man zwang sie aber dazu. Was ist Portugal? Es ist der Vasall, der Sklave Englands. Und Serbien? Deutschland hat auch es zerschmettert. Die Türkei – ist der Verbündete Deutschlands. Was ist aber jetzt die Türkei? Die Türkei ist jetzt auch der Sklave Deutschlands. Griechenland, – wer hat es gezwungen, in den Krieg zu ziehen? Die Verbündeten. Es wollte nicht, dieses kleine, schwache Land wollte nicht, die Verbündeten aber haben es in den Krieg hinein gezerrt. Rumänien wollte nicht in den Krieg eintreten, die unteren Volksschichten wollten es im Besonderen nicht, dennoch haben die Verbündeten auch es in den Krieg hineingezogen. Und alle diese Länder sind jetzt die Sklaven von Deutschland oder England. Warum? Darum, weil sie schwach sind; darum, weil sie klein sind. Und Bulgarien? Es schwankte, die Volksmassen wollten den Krieg nicht. Ich war dort während des Balkankrieges und weiß, wie erschöpft Bulgarien ist. Die Volksmassen wollten den Krieg nicht, aber Deutschland hat sie dazu gezwungen, und Bulgarien trat in den Krieg ein. Was ist aber jetzt Bulgarien? Es hat weder einen eigenen Willen noch eine eigene Stimme: es ist ebenfalls der Sklave von Deutschland. Österreich-Ungarn ist ein großes Land, der Verbündete von Deutschland. Österreich-Ungarn steht, als Sieger, auf gleicher Stufe mit Deutschland, aber wie ist die Lage von Österreich-Ungarn in Wirklichkeit? Österreich-Ungarn ist ein bedeutend ärmeres Land als Deutschland und in größerem Masse erschöpft, es hat jetzt keine eigene Stimme, es schleppt sich hinter Deutschland her und Deutschland erteilt der österreichischen Regierung Befehle. Warum? Darum, weil Deutschland stark ist. Wer stark ist, der ist auch im Recht, – seht, darin besteht die Moral, das Recht und die Religion der kapitalistischen Regierungen. Wer ist bei uns, in unserem Lager, im Lager der Verbündeten der Führer? England. Wer leistet die ganze Zeit den Gehorsam? Frankreich. Russland leistete den beiden den Gehorsam, weil es ärmer ist als England und Frankreich. Folglich musste es für uns von vornherein klar sein, dass, je länger der Krieg dauern würde, um so stärker Russland erschöpft sein und um so weniger Selbständigkeit auf seinen Teil entfallen würde. Zu guter Letzt mussten wir unvermeidlich unter irgendeine Ferse geraten: entweder unter die von Deutschland oder unter die von England, – weil wir schwach, weil wir arm, weil wir erschöpft sind. Und die Frage besteht darin, welche Ferse zu wählen sei. Wir sagten und sagen auch jetzt, dass wir weder die eine noch die andere Ferse – weder die von Deutschland noch jene von England wollen. Wir rechnen damit, unsere Unabhängigkeit zu bewahren, indem wir uns auf die Revolution der Arbeiterklasse in allen Ländern stützen. Aber zugleich – und gerade darum, weil wir auf die Entwicklung der Revolution in allen Ländern und in allen Lagern hoffen –, sagen wir, dass es für uns notwendig ist, die Kräfte aufzuspeichern und im Lande Ordnung einzuführen, unsere Wirtschaft umzugestalten und die bewaffnete Macht der russischen Sowjet-Republik, die rote Arbeiter- und Bauern-Armee, zu schaffen. Das ist, Genossen, die Hauptaufgabe, die wir noch nicht gelöst haben, die wir aber lösen werden und an deren Lösung wir erst jetzt herangetreten sind. Ich sagte, dass wir die Macht in die Hände der Arbeiterklasse genommen haben und dass die Macht in den Händen der Arbeiterklasse verbleiben und nicht abgegeben werden wird. Aber die Macht in den Händen der Arbeiterklasse ist nur ein Instrument, nur ein Werkzeug. Wenn ich es nicht anzuwenden verstehe, wozu soll es mir denn dienen? Wenn ich das Werkzeug eines Zimmermanns nehme und es nicht zu gebrauchen verstehe, wozu soll es mir denn dienen? Es wird ein Nichts in meinen Händen sein. Es ist nötig, dass die Arbeiterklasse, nachdem sie die Staatsmacht in ihre Hände genommen hat, in Wirklichkeit lernt, diese Macht zur Organisierung der Wirtschaft auf neuen Grundlagen anzuwenden. Einige sagen: Wozu habt ihr denn die Macht genommen, wenn ihr vorher nicht gelernt habt, sie anzuwenden? Wir aber antworten darauf: Wie konnten wir das Tischlerhandwerk erlernen, wenn wir kein Tischlerwerkzeug in den Händen hatten? Um zu lernen ein Land zu verwalten, muss man das Richtscheit in die Hand nehmen, muss man die Staatsmacht in die Hände nehmen. Noch hat niemand im Zimmer sitzend das Reiten gelernt. Um es zu lernen, muss man ein Pferd satteln und sich aufs Pferd setzen. Möglicherweise wird das Pferd sich bäumen und mehr als einmal oder auch mehr als zweimal einen herunter werfen. Wir werden aufstehen, es wieder satteln und wieder reiten, und so werden wir es lernen.

Also, Genossen, jene, welche da sagen, dass es nicht nötig sei, die Macht zu nehmen, diese Menschen erscheinen, ihrem Wesen nach, als die Verteidiger der Interessen der Bourgeoisie. Sie sagen: die Arbeiterklasse soll die Macht nicht nehmen; das ist das heilige Erbschaftsrecht der bürgerlichen, gebildeten Klassen; sie haben Kapitalien, Universitäten, sie haben Zeitungen, die Wissenschaft, Bibliotheken, alles ist bei ihnen vorhanden, – da sollen sie auch die Staatsmacht haben, die Werktätigen aber, die Arbeitermassen sollen es vorläufig lernen. Ja, wo sollen sie denn lernen? Auf dem Hüttenwerk, in der Fabrik, während der alltäglichen Höllenarbeit? Nein, meine Herren, entschuldigen Sie! Diese Höllenarbeit auf den Werken und in den Fabriken hat uns gelehrt, dass wir verpflichtet sind, die Macht in unsere Hände zu nehmen. Das haben wir dort gelernt. Das ist auch eine sehr große Wissenschaft. Das ist eine ungeheure Wissenschaft, die die Arbeiterklasse auf den Werken und in den Fabriken jahrzehntelang studiert hat, und während dieser Studienzeit hat sie die Höllenarbeit geleistet, hat sie die Erschießung von Arbeitern ganzer Fabriken, das Blutbad von Lena* erlebt, hat das alles durchgemacht und endlich die Macht in ihre Hände genommen. Jetzt werden wir lernen, die Macht zur Organisierung der Wirtschaft und der Ordnung, die wir vorläufig noch nicht haben, anzuwenden. Was ist unsere Hauptaufgabe. Ich sagte, dass es für uns nötig sei, das ganze Land unter Kontrolle zu nehmen und über alles Buch zu führen. Wir werden es durch die Sowjets der Deputierten und durch das Zentralorgan der Sowjets der Arbeiterdeputierten, durch den zentralen Vollzugs-Ausschuss, wie auch durch den Sowjet der Volkskommissare tun. Wir müssen, gleich den Buchhaltern, genau und berechnend sein, damit überall bekannt sei, welch ein Vermögen wir haben, welche Schätze, wie viel Arbeiter, wie viel Rohstoffe, wie viel Saatkorn, wie viel Tischler, Schneider, damit sie richtig verteilt würden, wie die Tasten bei einem Klavier, damit jedes wirtschaftliche Instrument genau so arbeite, wie die Tasten bei einem Klavier, damit man wisse, wie viel, wo und was vorhanden sei. Um, zum Beispiel, nötigenfalls in jedem Augenblick eine bestimmte Anzahl von Metallarbeitern von einem Ort an einen andern Ort überführen zu können. Die Arbeit soll eine gesunde, zweckmäßige, aber auch eine intensive Arbeit sein; jeder Arbeiter soll sechs oder sieben Stunden im Laufe von vierundzwanzig Stunden intensiv arbeiten, die ganze übrige Zeit aber sich als freier Bürger und Kulturmensch fühlen. Das ist eine große Aufgabe, aber sie ist auch keine einfache Aufgabe, man muss dabei lernen. Über alles muss Buch geführt, alle Vorräte müssen eingetragen, alles muss geprüft und gebucht werden. Wir wissen, dass es jetzt eine Menge von Werken und Fabriken gibt, die nicht nötig sind. Bei uns herrscht Arbeitslosigkeit und Hunger, weil nicht alle auf ihrem Platze sind. Es gibt Fabriken, die das, was nicht gebraucht wird, herstellen, es gibt aber Fabriken, die das Notwendige herstellen, jedoch mangelt es ihnen an Material, das an einem andern Ort vorhanden ist. Wir haben kolossale Schätze, von denen wir nichts wissen, weil der Krieg das ganze Land in Zerrüttung gebracht hat. Wir haben eine Menge von Arbeitslosen, die hungrig und halbnackt sind, gleichzeitig aber entdecken wir jetzt in den Warenlagern der Intendantur Riesenvorräte an Tuch, Leinwand und Soldatenkleidung. Bei uns weiden zuweilen kolossale Lebensmittelvorräte entdeckt, von denen wir nichts wissen. Ebenso haben die Wucherer in den Dörfern Millionen Pud an Getreide, wie z. B. in den Gouvernements Tula und Kursk und auch Orel, in ihren Händen angesammelt. In ihren Händen befinden sich Millionen Pud an Getreide, sie geben es nicht heraus und wir haben sie bis jetzt nicht gezwungen zu begreifen, dass wir in solchen Sachen nicht scherzen werden, dass hier die Rede von Tod und Leben der arbeitenden Masse sei. Aber wenn wir eine Organisation hätten, da würde, selbstverständlich, kein Wucherer wagen, Getreide vor den hungrigen arbeitenden Massen zu verbergen, und die Angelegenheit der Verpflegung wäre bedeutend besser gestellt. Auch auf den Eisenbahnen und überall gibt es viel Unordnung und eine Menge Missbräuche. Die Genossen Eisenbahner wissen, wie viele Personen es unter den Eisenbahnangestellten, hauptsächlich unter den höheren, aber auch unter den kleineren, gibt, die mit Eisenbahnwagen handeln, Schmuggel-Transporte von Waren und allerhand Erzeugnissen vornehmen, und es kommt auch sogar vor, dass ganze Eisenbahnwagen verschwinden. Woher stammt diese Unordnung? Das ist die Erbschaft der Vergangenheit. Wir sind noch nicht erzogen, wie es sich gehört, anderseits aber hat uns auch der Krieg morsch gemacht. Alle Begriffe haben sich verwirrt.

Das sagt sich auch der Arbeiter: wenn es so schlecht im Lande aussieht, wozu soll ich mich denn besonders anstrengen? Ob ich mehr oder weniger, besser oder schlechter arbeite, – dadurch wird sich die Sache nicht bessern. Aber, Genossen, wir müssen so ein Verständnis, so ein Bewusstsein bei unserem Arbeiter, bei unserem Bauern schaffen, damit sie sich klar vorstellen, dass es sich gegenwärtig gar nicht darum handelt, unsere Interessen gegen die Bourgeoisie zu verteidigen.

Da wir einmal die Macht in unsern Händen haben, besteht die Sache jetzt darin, dass wir selbst die Wirtschaft im Interesse des ganzen Volkes organisieren sollen. Folglich muss die Arbeitsordnung auf den Werken und in den Fabriken eingeführt werden, überall ist diese Arbeitsordnung einzuführen. Was bedeutet es: Arbeitsordnung? Die Arbeitsordnung, die revolutionäre Disziplin, das ist so eine Ordnung, wo jeder versteht, dass für uns die ehrliche Arbeit eines jeden einzelnen auf seinem Platze, auf seinem Posten notwendig ist, damit die Arbeiterklasse die Macht halten und die ganze Wirtschaft umbauen kann, damit wir nicht nach unten sinken, sondern hinaufsteigen und um dem ganzen Lande zu helfen. Es soll wie in einer einzelnen Familie sein: Wenn die Familie zusammenhält, einig ist, da arbeitet jeder für den Wohlstand dieser Familie. Hier aber ist es keine kleine Familie: hier handelt es sich um den Wohlstand von Millionen Menschen. Aber das Bewusstsein muss genau dasselbe sein, das Bewusstsein muss so sein, dass unser Sowjet-Russland, unser Arbeiter- und Bauern-Russland eine ungeheure brüderliche Familie sei, wo, wenn einer faul ist, Rohstoffe zerstört, sich nachlässig zu seiner Arbeit, zu seinen Instrumenten verhält, aus Unachtsamkeit oder bösem Willen Maschinen verdirbt, – er dadurch der ganzen Arbeiterklasse, dem ganzen Sowjet-Russland und folglich auch der ganzen Arbeiterklasse der gesamten Welt einen Schaden zufügt. Und seht, unsere Aufgabe ist, sofort eine Arbeitsdisziplin zu schaffen, eine feste Arbeitsordnung einzuführen. Und wenn wir verstehen werden, so eine Ordnung festzusetzen, dass die Arbeiter soviel und soviel Stunden auf dem Werke oder in der Fabrik arbeiten, die übrige Zeit aber ein Kulturleben leben werden, und wenn jeder bei uns seine Pflicht auf seinem Platze erfüllen wird, – das wird dann auch die kommunistische Ordnung sein. Und darum ist es für uns notwendig, sofort zu unserer Rettung, wie für das Land, wie für Russland, so auch für die Arbeiterklasse, die jetzt der Herr dieses Landes ist, eine feste, eiserne, strenge Disziplin der Arbeitsordnung im Leben durchzuführen. Das ist, Genossen, nicht jene Disziplin, welche im Dienste der Bourgeoisie und des Zaren herrschte. Einige von den alten Generälen, die wir für die Arbeiten in der roten Armee unter unserer Kontrolle anstellen, sagen zu uns: Ja, kann es bei euch, unter eurer Ordnung eine Disziplin geben? Unserer Ansicht nach kann es keine geben. Wir aber antworten ihnen: War unter eurer Ordnung die Disziplin vorhanden? Sie war vorhanden. Warum war sie vorhanden? Dort, bei euch gab es doch einen Zaren, war der Adel vorhanden, tief unten gab es Soldaten, und diese Soldaten habt ihr in Zucht und Disziplin gehalten. Das ist ja ein Wunder! Der Soldat war ein Sklave, er arbeitete für euch, diente euch gegen sich selbst, schoss im Namen eurer Interessen auf seinen eigenen Vater und seine eigene Mutter, – und ihr habt die Disziplin aufrechterhalten. Das war ein Wunder. Wir aber wollen so eine Disziplin einführen, dass der Soldat für sich kämpfe, für sich streite, dass die Arbeiter für sich arbeiten, und im Namen all dessen wollen wir die Arbeitsdisziplin einführen.

Seht, Genossen, darum bin ich tief überzeugt, dass wir diese Ordnung schaffen werden, wie die schwarzen Krähen auch krächzen mögen; wir werden mit vereinten Kräften diese Ordnung schaffen, diese Disziplin festsetzen, denn ohne das steht uns der Zusammenbruch bevor, ohne das ist der Untergang unvermeidlich. Und gegenwärtig bilden wir die rote Arbeiter- und Bauernarmee. In dem zentralen Vollzugsausschuss der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Kosaken-Deputierten ist bereits das Gesetz über die allgemeine obligatorische militärische Ausbildung angenommen. Nach diesem Gesetz ist jeder Bürger – im Laufe einer bestimmten Zahl von Wochen jährlich, sechs oder acht Wochen, je zwei Stunden täglich – unter Anleitung von geübten Instruktoren das Militärhandwerk zu lernen verpflichtet. Genossen, wir standen vor der Frage: sollen wir die militärische Zwangspflicht auch für die Frauen einführen? Genossen, diese Frage haben wir folgendermaßen entschieden: wir überließen den Frauen das Recht, je nach Wunsch und Zustimmung das militärische Handwerk zu lernen. Wir wollen in dieser Hinsicht einen Versuch machen. Darum ist in dem Gesetzentwurf gesagt, dass die Frauen ihrem Wunsche gemäß auf denselben Grundlagen, unter denselben Prinzipien, wie die Männer, das militärische Handwerk lernen können. Aber hat sich mal irgendeine Frau auf gleicher Stufe mit dem Manne gestellt, so muss sie im Falle einer Gefahr für die Sowjet-Republik, wenn die Sowjet-Regierung ruft, ebenso wie ein Mann ins Gewehr treten.

Sie wissen, Genossen, dass wir Kader der Roten Armee bilden. Diese Kader sind nicht zahlreich, sie sind sozusagen das Skelett der Armee. Aber die jetzige Armee sind doch nicht jene Tausende und Zehntausende der roten Soldaten, die vorhanden sind und die eine Disziplin und Ausbildung brauchen, sondern die Armee ist das ganze werktätige Volk, die ungeheuren Reserven von ausgebildeten Arbeitern in den Städten in den Fabriken und von Bauern in den Dörfern. Und wenn uns eine neue Gefahr von Seiten der Gegenrevolution oder ein Angriff der Imperialisten drohen sollte, da muss dieses Skelett auf einen Schlag sich mit Fleisch und Blut, d. h. mit der Reserve von ausgebildeten Arbeitern aus den Fabriken und von Bauern aus den Dörfern überziehen. Darum schaffen wir einerseits die Rote Armee, anderseits aber führen wir für alle Arbeiter und die Bauern, die fremde Arbeit nicht ausbeuten, die allgemeine Ausbildung ein. Wir führen sie vorläufig mit Einschränkungen ein. Wir wollen die Bourgeoisie nicht bewaffnen. Wir werden der Bourgeoisie, den Ausbeutern, die auf ihre Rechte, auf das Privateigentum nicht verzichten, jetzt keine Gewehre liefern. Wir sagen: die Pflicht jedes Bürgers im Lande, jedes einzelnen ohne Ausnahme, ist, das Land zu verteidigen, sobald diesem Lande eine Gefahr droht, – dem Lande, in dem die ehrliche Arbeiterklasse herrscht, die nichts Fremdes wünscht. Aber unsere Bourgeoisie hat noch nicht auf ihre Rechte, auf die Macht verzichtet; die Bourgeoisie ist noch nicht bereit, alles in den allgemeinen Kochkessel zu übergeben. Sie sträubt sich dagegen, führt noch den Kampf, schickt ihre Agenten – die Menschewiki und rechtsstehenden Sozialrevolutionäre aus – um für die konstituierende Versammlung zu agitieren. Jetzt, so lange die Bourgeoisie auf ihre Rechte, auf die Staatsmacht und die Herrschaft im Lande nicht verzichtet hat, so lange sie nicht fühlen wird, dass wir den bürgerlichen Geist vertrieben, endgültig und einmal für immer vertrieben haben, werden wir ihr keine Waffen in die Hände geben. Aber wir werden auch sagen, dass, wenn es nötig ist, die Bourgeoisie, die nicht zur Attacke gehen will, Schützengräben aufwerfen soll oder sie soll irgendeine andere Arbeit ausüben.

Genossen, wir dürfen die Fehler der früheren Revolutionen nicht wiederholen. Ich sagte bereits, dass die Arbeiterklasse viel zu versöhnlich sei und dass sie viel zu leicht die Macht des Adels vergisst, die im Laufe von Jahrhunderten sich Leibeigene unterwarf, raubte, plünderte und vergewaltigte. Das alles vergisst die Arbeiterklasse viel zu leicht und ist zu Großmut, zu Weichheit geneigt. Wir aber sagen: Nein! Solange der Feind nicht endgültig gebrochen ist, dürfen unsere Hände keine Samthandschuhe tragen. Um die rote Armee auszubilden, ziehen wir zu der Arbeit die früheren Generäle heran, aber selbstverständlich wählen wir jene, welche anständig und ehrlich sind. Einige sagen: Ja, wie denn, ihr zieht die Generäle heran, – das ist doch gefährlich? Wir antworten darauf: Selbstverständlich hat alles in der Welt seine gefährliche Seite. Aber wir brauchen doch Instruktoren, die das Militärwesen kennen. Wir sagen zu den Herren Generälen: Da ist der neue Herr im Lande – die Arbeiterklasse; er braucht Instruktoren, um die Arbeiter für den Kampf gegen die Bourgeoisie militärisch auszubilden.

Die Generäle waren in der ersten Zeit fortgelaufen, hatten sich, wie die Schaben, in die Ritzen verkrochen, in der Hoffnung, vielleicht wird irgendwie der Herrgott es abwenden: die Sowjet-Macht wird sich eine oder zwei Wochen halten und stürzen, sie aber, die Generäle, kehren dann in ihre Generals-Stellungen zurück. Es zeigte sich nicht so. Die Generäle schleppten sich hinter der Bourgeoisie, die ebenfalls dachte, dass die Arbeiterklasse, nachdem sie die Macht in ihre Hände genommen hat, sie ein paar Wochen halten, damit spielen und sie wegwerfen wird. Aber es zeigte sich, dass die Arbeiterklasse die Macht festhält und sie loszulassen sich nicht anschickt. Und jetzt sehen wir, wie die gestrigen Saboteure – die Ingenieure, Statistiker, Agronomen usw. – allmählich, wie Schaben, aus den Ritzen hervorkriechen, ihre Fühlspitzen hin und her bewegen und den Boden abtasten: ob man doch nicht mit dem neuen Herrn einig werden kann? Wir aber sagen: Seid willkommen, ihr Herren Ingenieure, wir bitten euch in die Fabriken, lehrt die Arbeiter dort, die Fabriken zu leiten. Die Arbeiter verstehen es schlecht, helft ihnen, tretet in den Sold zu den Arbeitern ein, nehmt den Dienst bei ihnen an. Ihr wäret bis jetzt im Dienste bei der Bourgeoisie, leistet jetzt den Dienst bei der arbeitenden Klasse. Den Generälen sagen wir: Ihr habt das Militärhandwerk gelernt und habt es gut gelernt, ihr habt doch auf der Kriegsakademie studiert. Das ist eine verwickelte Wissenschaft, es ist eine komplizierte Arbeit, besonders aber gegen die Deutschen, bei denen die größten Maschinen für den Mord und die Vernichtung ausgezeichnet arbeiten. Folglich müssen wir uns vorbereiten, müssen lernen; um aber zu lernen, brauchen wir Fachleute. Bitte, ihr Herren Fachleute, frühere Generäle und frühere Offiziere, – wir räumen euch einen Platz ein. Aber man sagt uns, – es wäre gefährlich, sie könnten eine Gegenrevolution anzetteln. Ich weiß nicht, vielleicht möchte es auch jemand unter ihnen; es ist sehr möglich, dass es jemand auch versuchen könnte, aber ein Sprichwort sagt: «Wegen möglicher Gefahr darf man nichts Notwendiges scheuen.»

Da wir einmal daran denken, eine Armee aufzustellen, müssen wir für diese Sache Fachleute heranziehen. Versuchen wir, die alten Generäle in unsern Dienst zu stellen. Wenn sie ehrlich dienen werden, ist ihnen unsere volle Unterstützung gesichert. Viele unter ihnen, unter diesen Generälen – und mit vielen von ihnen habe ich selbst gesprochen –, viele haben begriffen, dass jetzt ein neuer Geist im Lande herrscht, dass jetzt alle, die Russland schützen, verteidigen und Ordnung einführen wollen, den arbeitenden Klassen ehrlich dienen müssen. Ich habe in meinem Leben viele Menschen gesehen und glaube, dass ich einen Menschen, der aufrichtig spricht, von einem unehrlichen Menschen zu unterscheiden verstehe. Einige von den Generälen sagten vollkommen aufrichtig, sie hätten begriffen, dass die arbeitenden Klassen eine bewaffnete Macht schaffen müssen, und dass sie dieser Sache aufrichtig dienen wollen. Für diejenigen aber, welche die Bewaffnung für eine gegenrevolutionäre Verschwörung benutzen wollen, für die werden sich bei uns besondere Maßnahmen finden; sie wissen ausgezeichnet, dass wir unsere Augen überall haben, und sollten sie versuchen, die Organisation der roten Arbeiter- und Bauern-Armee für die Zwecke der Bourgeoisie auszunutzen, da würden wir ihnen unsere eiserne Hand zeigen, ihnen die Oktober-Tage zeigen. Sie können überzeugt sein, dass wir gegen sie und gegen alle, die unsere Organisationen gegen uns ausnutzen möchten, ums Zweifache erbarmungslos sein werden. Also, Genossen, von dieser Seite hege ich keine großen Befürchtungen. Ich nehme an, dass wir genügend fest auf den Füßen stehen, dass die Sowjet-Macht genügend gefestigt ist und dass unsere Generäle in Russland sie nicht zu brechen vermögen, wie die Kaledins, Kornilows oder Dutows sie nicht brechen konnten. Nicht hier liegt die Gefahr, sondern die Gefahr steckt in uns selbst – in unserer inneren Zerrüttung, die Gefahr droht aber auch von außen – von Seiten des Weltimperialismus.

Für den Kampf gegen die innere Zerrüttung müssen wir eine feste Disziplin einführen, eine starke Arbeitsordnung organisieren. Jeder einzelne Teil unterwirft sich unter das Ganze. Aber gegen die Konterrevolution, gegen die gegenrevolutionären Angriffe von außen, gegen den Militarismus und Imperialismus der andern Länder, Genossen, haben wir einen zuverlässigen Bundesgenossen: dieser Verbündete ist – die europäische Arbeiterklasse und im Einzelnen die Arbeiterklasse in Deutschland. Man sagt uns: die Schnecke kriecht, aber wann kommt sie ans Ziel. Das ist der Haupteinwand, den man uns unter Miljukow wie auch unter Kerenski gemacht hat und heute noch macht. Wir können darauf antworten: Ja, die europäische Revolution entwickelt sich langsam, viel langsamer als wir es wünschen, aber unsere russische Revolution, – wann ist sie ausgebrochen? Dreihundert Jahre herrschten die Romanows und saßen auf dem Nacken des Volkes. Und überall spielten der Zarismus und die russische Selbstherrschaft allen Ländern gegenüber die Rolle von Gendarmen, sie erdrosselten die Revolution, erstickten jede revolutionäre Bewegung und alle Ausbeuter überall rechneten damit, dass sie eine feste Stütze – die russische Selbstherrschaft haben. Russlands Name schon war den Arbeitern in den westeuropäischen Ländern verhasst. Und ich musste oft in Deutschland, wie auch in Österreich und andern Ländern die Arbeiter überzeugen, dass es zwei Russlands gibt: das eine – das Russland von oben – die Bürokratie, der Zarismus, der Adel, und das andere: tief unten, das langsam aufsteht, das Arbeiter-, das revolutionäre Russland, für das wir alles opfern. Aber man verhielt sich zu meinen Worten skeptisch. Wo ist es denn, dieses zweite, revolutionäre Russland? Im Jahre 1905 zeigte sich die Revolution und verschwand. Darauf spielten immer die Pseudo-Sozialisten an, die Mittler, wie die deutschen, so auch die französischen. Sie sagten, in Russland sei nur die Selbstherrschaft und die Bourgeoisie gefestigt, die Arbeiterklasse in Russland sei schwach und auf eine Revolution in Russland zu hoffen dürfe man nicht usw. usw. Das sagten jene Mittler, welche die Arbeiterklasse betrogen und die russischen Arbeiter mit Schmutz beworfen haben. Aber unsere russische Arbeiterklasse, die eine jahrhundertelange Sklaverei, Unterdrückung und Erniedrigung durchgemacht hat, zeigte zum ersten mal das Beispiel, wie sie sich in ihrer ganzen Lebensgröße aufrichten kann, sich recken und sich an alle übrigen arbeitenden Massen in der ganzen Welt mit dem Rufe wenden kann, ihrem Beispiele zu folgen. Und wenn wir vor unserer Februar-Revolution, besonders aber vor der Oktober-Revolution, die Augen zu Boden schlagen mussten, wenn es während des Krieges vorkam, wo wir zurückgingen und eine Stadt nach der andern aufgaben, so können wir gegenwärtig sagen, wir haben ein Recht, stolz zu sein, dass wir russische Bürger sind, weil wir, als die ersten, die Fahne des Aufstandes gehisst und als die ersten die Macht in die Hände der Arbeiterklasse genommen haben.

Darin liegt der Stolz der Arbeiterklasse, Genossen, dieser Stolz, unser Stolz ist berechtigt. Aber dieser Stolz darf sich nicht in Eigendünkel verwandeln. Die Arbeiter in den andern Ländern schreiten auf demselben Wege, aber ihr Weg ist schwieriger. Sie haben eine mächtige Organisation, aber bei ihnen wächst die Bewegung langsamer. Dort gibt es eine kolossale Armee, aber sie haben dafür auch einen größeren Train, außerdem ist auch bei ihnen der Feind stärker als unser. Bei uns war der Zarismus zerrüttet, verfault, auf allen Punkten geschlagen, und wir haben ihm nur den letzten Schlag versetzt. Dort aber, in Deutschland wie auch in Frankreich und England ist die Staatsmaschine bedeutend kräftiger. Dort sind die Baumeister dieser Maschine erheblich fähigere und gebildetere Menschen, und dort braucht die Arbeiterklasse, um die bürgerliche Herrschaft zu zerstören, eine bedeutend größere Kraftanstrengung. Wir können, selbstverständlich, darüber klagen. Für unsere berechtigte Ungeduld schreitet diese revolutionäre Bewegung viel zu langsam. Wir alle möchten, dass die Revolution schneller ausbreche, und wir verfluchen die Langsamkeit der Geschichte, die von Tag zu Tag, aber viel zu langsam, die Empörung der arbeitenden Massen gegen den Hunger und die Erschöpfung ansammelt. Aber eines schönen Tages wird sie das alles, die ganze aufgespeicherte Unterdrückung und alle Flüche gegen die Bourgeoisie und besitzende Klasse nach außen hinaus schleudern. Ehe das eintritt, solange sich dieser Protest in den Herzen der Arbeiter ansammelt, muss man warten. Die Arbeiterklasse in Westeuropa ist geschulter als wir, besser geschult, hat reichere Erfahrungen, sie ist gebildeter als unsere Arbeiterklasse, und wenn ihr letzter Kampf gegen die Unterdrückung losbricht, da wird sie einen eisernen Besen in die Hand nehmen und beginnen aus ihren Staaten den ganzen bürgerlichen und adeligen Kehricht fortzufegen. Da liegt unsere größte Hoffnung. Es ist Russland noch bestimmt, diese große Zeit zu erleben.

Darum – sollten die Geier der Bourgeoisie und die Mittler Recht haben, dass die Revolution in Europa gar nicht oder erst nach einem Jahrhundert oder nach Jahrzehnten ausbrechen werde – würde das bedeuten, dass für Russland, als unabhängiges Land, der Tag des Todes gekommen sei. Denn, Genossen, zu allen Zeiten jeder, der schwach und arm ist, wird unvermeidlich das Opfer von stärkeren Räubern, der bis zu den Zähnen bewaffneten Imperialisten und Militaristen. Das ist das Gesetz der bürgerlichen Ordnung und dagegen kann niemand etwas ausrichten. Wenn ihr Miljukow oder Gutschkow an die Spitze stellen würdet, auch sie könnten unser Land nicht reicher machen, sondern sie würden es noch mehr erschöpfen. Die Tatsache, dass in Russland die Arbeiterklasse die Macht besitzt, ist für die Arbeiter in andern Ländern ein mächtiger Ansporn zum Aufstand.

Jeder Arbeiter in Frankreich und in Deutschland sagt sich: Wenn in Russland, in einem rückständigen Lande, es möglich wurde, dass die Arbeiterklasse die Macht in ihren Händen hält und sich die Aufgabe stellt, das Land umzugestalten, die Wirtschaft auf neuen Grundlagen zu organisieren, überall die Disziplin und Arbeitsordnung in ihre Hände nimmt und einführt, dann befiehlt die Geschichte doppelt oder dreifach, uns, der Arbeiterklasse in Deutschland und Frankreich, die Macht in unsere Hände zu nehmen, um die sozialistische Umwälzung der gesamten Gesellschaft zu vollbringen. Darum, Genossen, kämpfen wir, indem wir hier bei uns die Macht der Arbeiter und der Bauern befestigen, nicht allein für uns, nicht allein für die Interessen Russlands, sondern wir stehen auch als der Vortrupp der Arbeiterklasse der ganzen Welt bei der Verwirklichung ihrer großen Aufgabe. Genossen, wir stehen jetzt hier, und die Arbeiter in allen Ländern blicken auf uns voller Hoffnung und Angst – ob wir auch nicht herabstürzen, ob wir auch die rote Fahne der Arbeiterklasse nicht mit Schmach bedecken werden? Und wenn uns die Gegenrevolution und unsere eigene Zerrüttung ertränken würde, – das würde bedeuten, dass die Hoffnungen aller Arbeitermassen in den andern Ländern verloren wären, und die Bourgeoisie würde ihnen sagen können: seht, wie hoch die russische Arbeiterklasse hinaufgestiegen war, jetzt aber ist sie von neuem gestürzt und liegt auf dem Boden, gekreuzigt und zerschmettert. Darum, Genossen, müssen wir unsere Stellung mit doppelter und dreifacher Energie verteidigen und mit zehnfachem Heldentum kämpfen, weil wir gegenwärtig nicht allein die Träger der Freiheit für uns selbst sind, sondern in unsern Händen liegen die Träume der Menschheit von der Befreiung der Welt, – gegen uns aber steht die Bourgeoisie aller Länder. Die Hoffnung der Arbeiterklasse ist mit uns. Wollen wir, Genossen, uns stärker befestigen, reichen wir einander die Hand, um bis zu Ende, bis zum vollen Siege für die Herrschaft der Arbeiterklasse zu kämpfen, und wenn die Arbeiter Europas uns rufen werden, – dann marschieren wir ihnen zu Hilfe, wir alle, bis auf den letzten Mann, mit Gewehren in den Händen und mit roten Fahnen, wir marschieren ihnen entgegen im Namen der Verbrüderung aller Völker auf Erden, im Namen des Sozialismus.

1 Mit „Mittler“ werden hier die Menschewiki und Sozialrevolutionäre bezeichnet. Andere Übersetzungen verwenden die Begriffe „Versöhnler“ oder „Kompromissler“.

* Im Frühjahr 1912 wurde von einem Gendarmerie-Offizier in provokatorischer Weise in dem weit entlegenen Goldwäscherei-Distrikt von Lena unter den Arbeitern ein entsetzliches Blutbad angerichtet. Ganz Russland zuckte auf, der Zar sandte einen Senator, als Spezial-Untersuchungsrichter, dorthin, der Bericht wurde veröffentlicht und die Schuldigen, wie üblich, nicht bestraft. Die englischen und die russischen Inhaber der an der Londoner Börse hochkotierten Lena-Aktien konnten weiter in Ruhe spekulieren und ihre Zinsen … verzehren.

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