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Leo Trotzki 19180902 Über den Verwundeten

Leo Trotzki: Über den Verwundeten.

[Nach der 2. Auflage des Buchs Über Lenin. Material für einen Biographen, Verlag „öffentliches Leben". Berlin 1933, S. 156-162]

(Rede, gehalten in der Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees am 2. September 1918.)

Genossen, den brüderlichen Gruß, der mir hier entgegen hallt, deute ich in dem Sinne, dass wir alle in diesen schweren Tagen und Stunden wie Brüder das tiefe Bedürfnis empfinden, uns enger aneinander, an unsere Sowjetorganisationen anzuschließen, fester zu unserer kommunistischen Fahne zu stehen. In diesen angsterfüllten Tagen und Stunden, wo unser und – wir können das jetzt mit vollem Recht sagen – des Weltproletariats Fahnenträger auf seinem Lager in furchtbarem Kampf mit dem Tode ringt, sind wir einander näher als in der Stunde des Sieges. …

Die Nachricht von dem Attentat auf den Genossen Lenin traf mich und eine Reihe anderer Genossen in Swijaschsk, an der Kasaner Front. Dort hagelte es Schläge – von rechts, von links, von vorn. Dieser neue Schlag aber war ein Schlag in den Rücken aus der entlegensten Etappe. Dieser verräterische Schlag hat eine neue Front aufgerissen, in diesem Augenblick die schmerzhafteste, die beängstigendste: die Front, an der Wladimir Iljitsch mit dem Tode kämpft. Welche Niederlagen uns an der einen oder anderen Front auch erwarten mögen – ich habe allerdings mit Euch gemeinsam den festen Glauben an unseren baldigen Sieg –, einzelne Niederlagen an einem Teil der Gesamtfront wären nicht so schwer und so tragisch für die Arbeiterklasse Russlands und der ganzen Welt wie ein unglücklicher Ausgang des Kampfes an jener Front, die in der Brust unseres Führers aufgerissen worden ist.

Wenn man sich nur hineindenkt, kann man die ganze Kraft des konzentrierten Hasses begreifen, welche Lenin bei allen Feinden der Arbeiterklasse hervorgerufen hat und hervorrufen wird. Denn die Natur hat ein herrliches Werk geleistet, als sie in einem Menschen die revolutionäre Idee und die unerschütterliche Energie der Arbeiterklasse verkörperte. Dieser Mensch ist Wladimir Iljitsch Lenin. Die Bildergalerie der Arbeiterführer, der revolutionären Kämpfer, ist reich und vielgestaltig, und ich selber habe, wie viele andere Genossen, die im dritten Jahrzehnt ihrer revolutionären Arbeit stehen, Gelegenheit gehabt, in verschiedenen Ländern vielen Abarten des Typus eines Arbeiterführers, eines revolutionären Vertreters der Arbeiterklasse, zu begegnen. Aber nur in Lenin besitzen wir eine Gestalt, die für unsere durch Blut und Eisen gekennzeichnete Epoche geschaffen worden ist.

Die Epoche der sogenannten friedlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, wo die Gegensäge sich allmählich häuften, wo Europa die sogenannte Periode des bewaffneten Friedens durchlebte und Blut fast nur in den Kolonien floss, wo das Raubkapital die rückständigsten Völker drangsalierte, jene Epoche liegt hinter uns. Europa erfreute sich damals des sogenannten Friedens des kapitalistischen Militarismus. In jener Epoche formierten und gestalteten sich die prominentesten Führer der europäischen Arbeiterbewegung. Wir kennen unter ihnen eine so hervorragende Gestalt wie August Bebel, den großen Hingeschiedenen. Er spiegelte aber eine Epoche der allmählichen und langsamen Entwicklung der Arbeiterklasse wider. Neben Mut und eiserner Energie war ihm äußerste Vorsicht der Bewegungen, die Sondierung des Bodens, die Strategie des Abwartens und der Vorbereitung eigen. Er spiegelte den Prozess der allmählichen, molekularen Kräfteansammlung der Arbeiterklasse wider, sein Gedanke ging vorwärts, Schritt für Schritt, ebenso wie die deutsche Arbeiterklasse in der Epoche der Weltreaktion nur allmählich von unten aufstieg, sich von der Dunkelheit und vom Aberglauben frei machend. Seine geistige Gestalt wuchs, entwickelte sich, wurde stärker und größer, blieb aber stets auf dem gleichen Boden des Abwartens und der Vorbereitung. So war August Bebel in seinen Ideen und seinen Methoden die beste Gestalt der vergangenen, für ewig entschwundenen Epoche.

Unsere Zeit ist aus einem anderen Zeug gewebt. Wir leben in einer Epoche, wo die angesammelten Gegensätze bis zu einer ungeheuerlichen Explosion gediehen sind, wo sie die Hülle der bürgerlichen Gesellschaft durchbrochen haben, wo sämtliche Stützpunkte des Weltkapitalismus durch das ungeheuerliche Völkergemetzel bis zum Grunde erschüttert sind, eine Epoche, die alle Klassengegensätze aufgedeckt hat, die die Volksmassen vor die fürchterliche Wirklichkeit gestellt hat, in der, nackten Profitinteressen zuliebe, Millionen vernichtet werden. Für diese Epoche hat es die Geschichte Westeuropas vergessen, versäumt oder nicht vermocht, ihren eigenen Führer zu schaffen, und nicht ohne Grund, denn alle Führer, die sich vor dem Krieg des größten Vertrauens der europäischen Arbeiterklasse erfreuten, spiegelten ihren gestrigen, aber nicht ihren heutigen Tag wider… .

Und als die neue Epoche sich einstellte, die Epoche der schrecklichen Erschütterungen und blutigen Kämpfe, da war sie eine zu harte Nuss für die früheren Führer. Es war der Wille der Geschichte – und nicht von ungefähr –, in Russland eine Gestalt aus einem Guss zu schaffen, eine Gestalt, die unsere ganze harte und große Epoche in sich widerspiegelt. Ich wiederhole: nicht von ungefähr. 1847 hat das damals rückständige Deutschland aus seiner Mitte Marx geschaffen, den größten Kämpfer und Denker, der die Wege der neuen Geschichte voraussah. Deutschland war damals ein rückständiges Land, aber nach dem Willen der Geschichte durchlebte die damalige deutsche Intelligenz eine Periode der revolutionären Entwicklung; und der größte Vertreter dieser Intelligenz, der den ganzen Reichtum ihres Wissens besaß, brach mit der bürgerlichen Gesellschaft, stellte sich auf den Boden des revolutionären Proletariats und arbeitete das Programm der Arbeiterbewegung und die Entwicklungstheorie der Arbeiterklasse aus. Zur Erfüllung dessen, was Marx in jener Epoche vorausgesagt hat, ist unsere Epoche berufen. Dazu braucht sie aber neue Führer, die Träger des großen Geistes unserer Epoche sein müssen, in der die Arbeiterklasse, auf der Höhe ihrer geschichtlichen Aufgabe angelangt, klar die große Grenze erkannt hat, die es zu überschreiten gilt, wenn die Menschheit leben und nicht wie ein krepiertes Tier auf der großen Straße der Weltgeschichte verwesen soll. Für diese Epoche hat die russische Geschichte einen neuen Führer geschaffen. Alles Gute, das bei der alten revolutionären Intelligenz zu finden war, ihre Selbstaufopferung, ihr Wagemut, ihr Hass gegen jede Form der Unterdrückung, – all das konzentrierte sich in diesem Menschen, der bereits in seiner Jugend mit der Welt der Intelligenz wegen ihrer Verbundenheit mit der Bourgeoisie brach, und der in sich den Sinn und das Wesen der Entwicklung der Arbeiterklasse verkörperte. Sich auf das junge revolutionäre Proletariat Russlands stützend, die reiche Erfahrung der internationalen Arbeiterbewegung ausnutzend, ihre Ideologie in einen Hebel der Aktion verwandelnd, ist dieser Mensch jetzt in seiner ganzen Größe am politischen Firmament erschienen. Das ist Lenin, der größte Mensch unserer revolutionären Epoche. (Beifall.)

Ich weiß, und ihr, Genossen, wisst es ebenso wie ich, dass das Schicksal der Arbeiterklasse nicht von einzelnen Persönlichkeiten abhängt: das heißt aber nicht, dass die Persönlichkeit in der Geschichte unserer Bewegung und der Entwicklung der Arbeiterklasse gleichgültig wäre. Die Persönlichkeit vermag nicht die Arbeiterklasse nach ihrem eigenen Vorbild zu formen, und sie kann dem Proletariat nicht willkürlich den einen oder anderen Entwicklungsweg vorschreiben, sie kann aber die Verwirklichung seiner Aufgaben fördern, die Erreichung seines Zieles beschleunigen. Die Kritiker hielten Karl Marx vor, er habe die Revolution bedeutend näher vorausgesehen, als sie sich in der Tat verwirklichte. Darauf wurde mit vollem Recht geantwortet, dass er auf einem hohen Berg gestanden habe, weshalb ihm die Entfernungen kürzer erschienen. Wladimir Iljitsch wurde von vielen – auch von mir – mehrfach kritisiert, weil er manche sekundären Ursachen und beiläufigen Umstände scheinbar nicht bemerkte. Ich muss sagen, dass das für eine Epoche der „normalen", langsamen Entwicklung möglicherweise bei einem politischen Führer ein Fehler gewesen wäre. Es ist aber der größte Vorzug des Genossen Lenin als des Führers der neuen Epoche, dass bei ihm alles Beiläufige, alles Äußerliche, alles Nebensächliche fortfällt und zurücktritt und nur der grundlegende unversöhnliche Klassengegensatz in der furchtbaren Form des Bürgerkrieges zurückbleibt.

Mit dem revolutionären Blick voran zu dringen, das Hauptsächliche, Grundlegende, Wichtigste zu bemerken und darauf hinzuweisen, diese Begabung ist Lenin im höchsten Maße eigen. Und die, denen es, wie uns, in dieser Periode beschert war, die Arbeit Wladimir Iljitschs, die Arbeit seines Denkens, von der Nähe aus zu beobachten, die konnten nicht umhin, ihm schrankenlose Bewunderung zu zollen – ich wiederhole: schrankenlose Bewunderung für jene Begabung des durchdringenden, bohrenden Gedankens, der alles Äußerliche, Zufällige, Oberflächliche fortfegt und die grundlegenden Wege und Methoden des Handelns festlegt. Die Arbeiterklasse lernt nur die Führer schätzen, die, nachdem sie den Weg der Entwicklung entdeckt haben, unerschüttert weitergehen, auch wenn die Vorurteile des Proletariats sich ihnen bisweilen als Hindernisse entgegenstellen. Zu der Begabung des machtvollen Denkens kommt bei Wladimir Iljitsch die Unerschütterlichkeit des Willens hinzu, und diese Eigenschaften ergeben in ihrem Zusammenwirken den echten revolutionären Führer, der aus dem männlichen unerbittlichen Denken und dem stählernen unerschütterlichen Willen zusammengeschweißt ist.

Welch ein Glück, dass all' das, was wir sprechen und hören und was wir in den Resolutionen über Lenin lesen, nicht die Form eines Nachrufs trägt. Und es war doch so nahe daran… . Wir sind überzeugt, dass an dieser nahen Front, dort im Kreml, das Leben siegen und Wladimir Iljitsch bald in unsere Reihen zurückkehren wird.

Genossen, wenn ich gesagt habe, dass Lenin in sich das männliche Denken und den revolutionären Willen der Arbeiterklasse verkörpert, so kann man sagen, dass ein tiefes Symbol, sozusagen eine bewusste Absicht der Geschichte darin liegt, dass in diesen schweren Stunden, wo die russische Arbeiterklasse unter Anspannung aller Kräfte an den äußeren Fronten gegen die Tschechoslowaken und die weißgardistischen Söldlinge Englands und Frankreichs kämpft, unser Führer gegen die Wunden kämpft, die ihm durch dieselben Tschechoslowaken, Weißgardisten, Söldlinge Englands und Frankreichs zugefügt worden sind. Hier liegt ein innerer Zusammenhang und ein tiefes geschichtliches Sinnbild! Und so wie wir alle überzeugt sind, dass wir in unserem Kampf an der tschechoslowakischen, englisch-französischen und weißgardistischen Front mit jedem Tag und jeder Stunde stärker werden (Beifall) – davon darf ich als Augenzeuge, der unmittelbar vom Kriegsschauplatz kommt, reden, ja, wir werden mit jedem Tag stärker, wir werden morgen stärker sein, als wir gestern waren, übermorgen stärker als morgen, und ich zweifle nicht daran, dass der Tag nahe ist, an dem es uns möglich sein wird, Euch zu sagen, dass Kasan, Simbirsk, Samara, Ufa und andere zeitweilig besetzte Städte in unsere Sowjetfamilie zurückkehren werden – , ebenso hoffen wir, dass gleichzeitig und in raschem Tempo die Wiederherstellung des Genossen Lenin vor sich gehen wird.

Auch jetzt steht sein Bild, das herrliche Bild des verwundeten Führers, der vorübergehend die Front verlassen musste, unauslöschlich vor uns. Wir wissen: auch nicht für eine Minute hat er unsere Reihen verlassen, denn, selber getroffen von den verräterischen Kugeln, weckt er uns alle, ruft uns und drängt uns vorwärts. Ich habe keinen einzigen Genossen, keinen einzigen ehrlichen Arbeiter beobachtet, der die Hände hätte sinken lassen unter dem Einfluss der Nachricht von dem verräterischen Attentat gegen Lenin; dafür habe ich aber Dutzende gesehen, die die Fäuste ballten und deren Hand zur Waffe griff; ich hörte Hunderte und Tausende von Lippen, die den Klassenfeinden des Proletariats erbarmungslose Rache schworen. Es erübrigt sich, zu erzählen, wie die klassenbewussten Kämpfer an der Front reagierten, als sie erfuhren, Lenin liege mit zwei Kugeln im Leibe danieder. Niemand konnte von Lenin sagen, es fehle seinem Charakter an Metall; jetzt enthält nicht nur sein Geist Metall, sondern auch sein Körper, und so wird er der Arbeiterklasse Russlands noch wertvoller sein.

Ich weiß nicht, ob unsere Worte und unser Herzschlag jetzt das Krankenlager des Genossen Lenin erreichen, ich zweifle aber nicht daran, dass er sie fühlt. Ich zweifle nicht, dass er trotz des Fiebers, das noch anhält, weiß, dass auch unsere Herzen jetzt mit doppelter und dreifacher Geschwindigkeit schlagen. Wir alle sind uns jetzt klarer denn je bewusst, dass wir Glieder einer kommunistischen Sowjetfamilie sind. Niemals ist einem jeden von uns das eigene Leben dermaßen als eine Sache zweiten oder dritten Ranges erschienen, wie in dem Augenblick, wo das Leben des größten Menschen unserer Zeit in tödlicher Gefahr schwebt. Jeder Idiot kann den Schädel Lenins mit einer Kugel durchbohren, aber diesen Schädel neu zu schaffen, das ist selbst für die Natur eine schwierige Aufgabe.

Aber nein, er wird bald wieder aufstehen – zum Denken und Schaffen, zum Kampf gemeinsam mit uns. Wir aber versprechen dem teuren Führer: Solange in unseren eigenen Schädeln noch die Kraft zum Denken lebt und in unseren Herzen warmes Blut schlägt, werden wir der Fahne der kommunistischen Revolution treu bleiben. Wir werden kämpfen gegen die Feinde der Arbeiterklasse bis zum letzten Blutstropfen, bis zum letzten Atemzug. (Brausender und lang anhaltender Beifall.)

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