Der Konflikt aus Anlass der Petrograder Garnison

Der Konflikt aus Anlass der Petrograder-Garnison

Aber noch viel früher, vor dem Kongress der nördlichen Sowjets, fand ein Ereignis statt, das im weiteren politischen Kampfe eine höchst wichtige Rolle spielen sollte. Anfang Oktober erschien in der Sitzung des Petrograder Exekutiv-Komitees der Sowjet-Vertreter beim Generalstab des Petrograder Militärbezirks und machte die Mitteilung, dass aus dem Generalstab das Absenden von zwei Dritteln der Petrograder Garnison nach der Front gefordert würde. Wozu? Zum Schutz von Petrograd. Das Absenden sollte nicht sofort stattfinden, aber man müsste sofort mit den Vorbereitungen beginnen. Der Generalstab verlangte vom Petrograder Sowjet eine Genehmigung dieses Projekts. Wir spitzten die Ohren. Ende August waren aus Petersburg ebenfalls fünf revolutionäre Regimenter ganz oder teilweise entfernt worden. Das geschah damals auf das Verlangen des damaligen Generalstabschefs Kornilow, der gerade in jenen Tagen gegen Petrograd die Kaukasische Division rüstete, um ein für alle Mal mit der revolutionären Hauptstadt fertig zu werden. Auf diese Weise hatten wir schon die Erfahrung mit diesen rein politischen Verschiebungen von Regimentern unter dem Vorwand von Militäroperationen. Ich will im Voraus sagen, dass nach der Oktober-Revolution aus bekannt gewordenen Dokumenten voll und deutlich klar wurde, dass die projektierte Entfernung der Petrograder Garnison mit militärischen Zielen nichts zu schaffen hatte und dem Hauptkommandierenden Duchonin gegen seinen Willen aufgedrängt worden war, und zwar von keinem andern als von Kerenski, der so die Hauptstadt von den revolutionärsten, d. h. den ihm gegenüber am feindlichsten gestimmten Soldaten zu befreien suchte. Aber damals, Anfang Oktober, rief unser Verdacht zuerst einen Sturm patriotischer Entrüstung hervor. Der Generalstab drängte: Kerenski wartete nicht länger, ihm brannte der Boden unter den Füßen. Wir ließen mit der Antwort nicht lange auf uns warten. Der Hauptstadt drohte entschieden Gefahr, und vor uns stand die Frage der Verteidigung von Petrograd in ihrer ganzen ungeheuerlichen Bedeutung. Aber nach der Erfahrung in der Kornilow-Affäre, nach den Worten Rodsjankos vom Heil einer deutschen Besetzung – woher sollte man nach all dem das Vertrauen haben, dass Petrograd nicht absichtlich den Deutschen übergeben würde, um es für seinen aufrührerischen Geist zu bestrafen? Das Exekutiv-Komitee weigerte sich, den Befehl zur Entfernung von zwei Dritteln der Garnison blindlings zu akzeptieren. Wir müssen zuerst prüfen – erklärten wir – ob dieser Befehl in der Tat von militärischen Erwägungen diktiert sei, und dazu sei es nötig, ein Organ der Prüfung zu schaffen. So entstand der Gedanke, neben der Soldaten-Sektion des Sowjets, d. h. der politischen Vertretung der Garnison, ein rein operatives Organ in Form des Militär-Revolutionären Komitees zu schaffen, das nachträglich eine so ungeheure Macht gewann und faktisch das Werkzeug des Oktober-Umsturzes wurde. Es ist unzweifelhaft, dass wir in jenen Stunden, als wir die Idee der Schaffung eines solchen Organs in den Vordergrund rückten, eines Organs, das in sich die Fäden der rein militärischen Leitung der Petrograder Garnison vereinigen sollte – wir uns vollkommen klar darüber waren, dass gerade dieses Organ ein unschätzbares revolutionäres Werkzeug werden konnte. Es war die Zeit, da wir bereits offen dem Aufstand entgegen schritten und ihn organisatorisch vorbereiteten.

Am 25. Oktober sollte, wie gesagt, der Allrussische Kongress der Sowjets stattfinden. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass der Kongress für die Übergabe der Regierungsgewalt an die Sowjets sein würde. Aber ein derartiger Beschluss musste unverzüglich verwirklicht werden, sonst bedeutete er nichts mehr, als eine würdelose platonische Demonstration. Die Logik der Dinge forderte es, dass wir den Aufstand auf den 25. Oktober ansetzten. Genau so verstand die gesamte bürgerliche Presse die Sache. Das Schicksal des Kongresses hing aber in erster Linie von der Petrograder Garnison ab, – würde nun die Garnison es Kerenski ermöglichen, den Sowjet-Kongress zu umzingeln und ihn mit Hilfe von einigen hundert oder tausend Fähnrichen, Unteroffizieren und Korporalen auseinander zu jagen? Schon der Versuch, die Garnison zu entfernen – bedeutete er nicht so viel, dass die Regierung sich vorbereitete, den Sowjet-Kongress aufzulösen? Es wäre auch sonderbar gewesen, wenn die Regierung es nicht getan hätte, da sie sah, wie wir offen, vor dem Angesicht des ganzen Landes, die Sowjet-Kräfte mobilisierten, um der Koalitions-Regierung den Todesstoß zu versetzen.

Auf diese Weise entwickelte sich in Petrograd dieser Konflikt zur Frage nach dem Schicksal der Garnison. Zunächst beschäftigte diese Frage aufs Lebhafteste alle Soldaten. Aber auch die Arbeiter hatten für diesen Konflikt das lebhafteste Interesse, da sie fürchteten, dass sie nach Entfernung der Garnison von den Fähnrichen und Kosaken abgewürgt werden würden. Der Konflikt gewann auf diese Weise einen außerordentlich scharfen Charakter und spielte sich auf einem Boden ab, der für die Regierung Kerenskis äußerst ungünstig war.

Parallel dazu vollzog sich der bereits oben charakterisierte Kampf um die Einberufung des Allrussischen Sowjet-Kongresses; dabei proklamierten wir im Namen des Petrograder Sowjets und des Nordischen Provinzial-Kongresses offen, dass der zweite Sowjet-Kongress die Regierung Kerenskis stürzen und der alleinige Herr Russlands werden müsste. Der Aufstand war faktisch bereits im Gange. Er entwickelte sich in aller Öffentlichkeit, vor den Augen des ganzen Landes.

Im Lauf des Monats Oktober spielte im inneren Leben unserer Partei die Frage des Aufstandes eine große Rolle. Lenin, der sich in Finnland verborgen hielt, forderte in zahllosen Briefen beharrlich eine entschiedenere Taktik. Von unten herauf brodelte es, und es wuchs die Unzufriedenheit, dass die Partei der Bolschewiki, die auf dem Petrograder Kongress die Majorität hatte, keine praktischen Folgerungen aus ihren eigenen Parolen zog. Am 10. Oktober fand eine geheime Sitzung des Zentralkomitees unserer Partei unter Beisein von Lenin statt. Auf der Tagesordnung stand die Frage des Aufstandes. Mit einer Majorität aller Stimmen gegen zwei wurde die Resolution gefasst, dass das einzige Mittel, die Revolution und das Land vor einem endgültigen Zerfall zu retten, der Aufstand wäre, der die ganze Regierungsgewalt in die Hände der Sowjets übergeben sollte.

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