Der zweite Krieg und das Unterschreiben des Friedensvertrages

Der zweite Krieg und das Unterschreiben des Friedensvertrages.

In den ersten Tagen nach dem Abbruch der Friedensverhandlungen schwankte die deutsche Regierung und wusste nicht, welchen Weg sie einschlagen sollte. Die Politiker und Diplomaten glaubten anscheinend, dass die Hauptsache erreicht sei und dass man keinen Grund habe, hinter unseren Unterschriften her zu jagen. Die Militärpartei war aber jedenfalls bereit, den Rahmen zu sprengen, den die deutsche Regierung im Vertrag von Brest-Litowsk vorgezeichnet hatte. Professor Kriege, Teilnehmer der deutschen Delegation, sagte zu einem der Mitglieder unserer Delegation, von einem Vormarsch der deutschen Truppen in Russland könne unter den gegebenen Umständen gar keine Rede sein. Graf Mirbach, der damals an der Spitze der deutschen Mission in Petrograd stand, reiste nach Berlin mit der Versicherung ab, die Verständigung wegen des Kriegsgefangenenaustausches sei vollkommen erreicht. Aber all das hinderte den General Hoffmann keineswegs – am fünften Tag nach dem Abbruch der Brester Verhandlungen – den Waffenstillstand als beendet zu erklären; dabei wurde die siebentägige Kündigungsfrist postnumerando gerechnet, also von der letzten Sitzung in Brest-Litowsk ab. Es wäre gewiss deplatziert, an dieser Stelle moralische Entrüstung über diese Niedertracht zu vergeuden: das Ganze passt ausgezeichnet in den allgemeinen Rahmen der Diplomaten- und Militärmoral der herrschenden Klassen.

Der neue deutsche Vormarsch fand unter Bedingungen statt, die für Russland geradezu tötend waren. Anstatt der ausgemachten wöchentlichen Kündigung bekamen wir eine Kündigung von zwei Tagen. Dieser Umstand verstärkte noch die Panik unter der Armee, die sich ohnehin im Zustand chronischen Zerfalls befand. Von Widerstand konnte beinahe keine Rede sein. Die Soldaten wollten nicht glauben, dass die Deutschen, nachdem wir den Kriegszustand als beendet erklärt hatten, weiter angreifen würden. Der panische Rückzug paralysierte den Willen selbst derjenigen einzelnen Truppen, die bereit waren, in den Kampf zu treten. In den Arbeitervierteln von Petrograd und Moskau erreichte die Empörung gegen den verräterischen und wahrhaft räuberischen deutschen Vormarsch ihre höchste Spannung. Die Arbeiter waren in jenen aufgeregten Tagen und Nächten zu Zehntausenden bereit, in die Armee einzutreten. Die organisatorische Seite der Sache war aber sehr zurückgeblieben. Die einzelnen Streiftruppen, die voller Begeisterung waren, mussten sich bei den ersten ernsthaften Zusammenstößen mit den regulären deutschen Truppen von ihrer Unzulänglichkeit überzeugen. Daraus folgte die Niedergeschlagenheit im weiteren Verlauf. Die alte Armee war schon längst tödlich getroffen und zerfiel in lauter einzelne Teile, alle Wege und Knotenpunkte verrammelnd. Bei der allgemeinen Erschöpfung des Landes und der furchtbaren Verwahrlosung der Industrie und der Verkehrsmittel konnte eine neue Armee nur allzu langsam entstehen. Das einzige ernsthafte Hindernis auf dem Wege des deutschen Vormarsches war der Raum …

Die Aufmerksamkeit der österreichisch-ungarischen Regierung war hauptsächlich auf die Ukraine gerichtet. Die Rada wandte sich durch ihre Delegation an die Regierungen der Zentralmächte mit der direkten Bitte um militärische Hilfe gegen die Sowjets, die unterdessen auf dem ganzen Gebiet der Ukraine den Sieg davongetragen hatten. Auf diese Weise hatte die kleinbürgerliche Demokratie der Ukraine in ihrem Kampf gegen die Arbeiterklasse und die armen Bauern freiwillig der fremdländischen Invasion die Tore geöffnet.

Zu gleicher Zeit suchte die Regierung Svinhufvuds die Hilfe der deutschen Bajonette gegen das finnländische Proletariat. Der deutsche Militarismus übernahm offen, vor dem Angesicht der ganzen Welt die Henkersrolle der Arbeiter- und Bauernrevolution Russlands.

In den Reihen unserer Partei erhoben sich scharfe Debatten, ob wir uns unter den gegebenen Bedingungen dem deutschen Ultimatum fügen und den neuen Vertrag unterschreiben sollten, den Vertrag, der – daran zweifelte keiner von uns – unvergleichlich härtere Bedingungen enthalten würde als diejenigen, die uns in Brest-Litowsk gestellt worden waren. Die Vertreter der einen Richtung meinten, dass momentan, in Anbetracht der bewaffneten Einmischung der Deutschen in die inneren Kämpfe auf dem Boden der Republik, es sinnlos sei, für einen der Teile Russlands einen Friedenszustand zu schaffen und passiv zu verharren, während im Süden und im Norden die deutschen Truppen das Regime bürgerlicher Diktatur aufrichten würden. Die andere Richtung, an deren Spitze Lenin stand, fand, dass jeder Aufschub, jede noch so kurze Atempause für die innere Festigung und Steigerung der Defensivfähigkeit Russlands von größter Bedeutung sein würde. Nachdem vor dem Lande und der ganzen Welt in so tragischer Weise unsere Unfähigkeit zutage getreten war, im gegebenen Moment die feindliche Invasion abzuwehren, musste ein Friedensschluss als Akt aufgefasst werden, der uns vom harten Gesetz der Kräftebeziehung aufgedrängt wurde. Es wäre kindisch, sich da von der abstrakten revolutionären Moral allein leiten zu lassen. Die Aufgabe besteht nicht darin, in allen Ehren zugrunde zu gehen, sondern darin, letzten Endes zu siegen. Die russische Revolution will leben, muss leben und ist verpflichtet, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln dem über ihre Kraft gehenden Kampf auszuweichen und somit Zeit zu gewinnen – in der Erwartung, dass die revolutionäre Bewegung Westeuropas ihr zu Hilfe kommen würde. Noch befindet sich der deutsche Imperialismus in hartem Zweikampf mit dem Militarismus Englands, Frankreichs und Amerikas. Nur deshalb ist ein Friedensschluss zwischen Russland und Deutschland möglich. Diese Situation muss ausgenützt werden. Das Wohl der Revolution – das ist das höchste Gebot! Wir müssen den Frieden, den wir nicht im Stande sind abzulehnen, akzeptieren; wir müssen uns eine Atempause sichern, um sie für angestrengte Arbeit innerhalb des Landes und insbesondere zur Schaffung einer Armee auszunutzen.

Auf dem Kongress der Kommunistischen Partei siegten ebenso wie auf dem 4. Kongresse der Sowjets, die Anhänger des Friedensschlusses. Ihnen schlossen sich viele von denjenigen an, die im Januar noch für unmöglich gehalten hatten, den Brest-Litowsker Vertrag zu unterschreiben. „Damals," sprachen sie, „wäre unsere Unterschrift von den englischen und französischen Arbeitern als armselige Kapitulation ohne Versuch eines Kampfes aufgefasst worden. Selbst die niederträchtigen Insinuationen der englischen und französischen Chauvinisten von heimlichen Machinationen der Sowjet-Regierung mit den Deutschen hätten – im Fall wir den Friedensvertrag unterschrieben hätten – in gewissen Kreisen der westeuropäischen Arbeiter auf Glauben stoßen können. Nachdem aber wir uns geweigert haben, den Friedensvertrag zu unterschreiben, nach dem neuen deutschen Vormarsch, nach unseren Versuchen, ihn aufzuhalten, und nachdem unsere militärische Schwäche mit erschreckender Unzweideutigkeit vor der ganzen Welt zutage getreten ist – wird niemand mehr wagen, uns eine Kapitulation ohne Kampf vorzuwerfen." Der Brest-Litowsker Vertrag wurde in seiner zweiten, verschärften Fassung unterschrieben und ratifiziert.

Unterdessen setzten in der Ukraine und in Finnland die Henkersknechte ihre Arbeit fort, je weiter um so mehr das eigentliche Lebenszentrum Großrusslands bedrohend. Auf diese Weise ist die Frage nach der Existenz Russlands selbst, als eines unabhängigen Landes, von heute ab unzertrennlich an die Frage der europäischen Revolution geknüpft.

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