Die kleinbürgerliche Intelligenz in der Revolution

Die kleinbürgerliche Intelligenz in der Revolution

In unserer Epoche entwickeln sich die Ereignisse mit einer solchen Geschwindigkeit, dass es schwer fällt, sie nach dem Gedächtnis zu rekonstruieren, selbst in ihrer chronologischen Reihenfolge. Wir haben weder Zeitungen noch Dokumente zur Hand. Die periodischen Pausen während der Friedensverhandlungen verschaffen uns jedoch eine Muße, die unter den gegebenen Verhältnissen natürlich nicht so bald wieder zu erwarten ist. Ich werde mir deshalb die Mühe geben, den Gang und die Entwicklung der Oktoberrevolution nach dem Gedächtnis zu rekonstruieren, indem ich mir das Recht vorbehalte, die Darstellung später an Hand von Dokumenten zu vervollständigen und zu korrigieren.

Das, was von der ersten Revolutionsperiode an unsere Partei charakterisierte, war die Überzeugung, dass sie, der weiteren Logik der Ereignisse zufolge, zur Macht gelangen musste. Ich will nicht von den Theoretikern sprechen, die schon lange vor dieser Revolution, ja schon vor der Revolution von 1905 – von der Analyse der Klassenbeziehungen in Russland ausgehend – zu dem Schluss gelangten, dass in der siegreichen Entwicklung der Revolution die Macht unbedingt an das Proletariat übergehen müsse, das sich auf die breiten Massen des ärmeren Bauerntums stützt. Grundlage dieser Voraussicht bildet hauptsächlich die Nichtigkeit der russischen bürgerlichen Demokratie sowohl wie der konzentrierte Charakter der russischen Industrie und folglich die große soziale Bedeutung des russischen Proletariats. Die Nichtigkeit der bürgerlichen Demokratie ist das Gegenstück zu der Macht und der Bedeutung des Proletariats. Gewiss hat der Krieg in dieser Beziehung sehr viele und vor allem die leitenden Gruppen der bürgerlichen Demokratie vorübergehend getäuscht. Der Krieg übertrug die entscheidende Rolle in den Revolutionsgeschehnissen an die Armee. Die alte Armee heißt so viel wie das Bauerntum. Wenn die Revolution sich normaler, das heißt unter den Bedingungen der Friedenszeit entwickelt hätte – so wie sie schon 1912 ihren Anfang nahm – würde die ganze Zeit über unbedingt das Proletariat die leitende Stellung eingenommen haben. Die Bauernmassen würden allmählich im Schlepptau des Proletariats in den Revolutionsstrudel hineingezogen worden sein. Doch der Krieg brachte eine ganz andere Mechanik der Geschehnisse zustande. Das Bauerntum wurde durch die Armee nicht politisch, sondern nur militärisch gebunden. Bevor bestimmte revolutionäre Forderungen und Ideen die Bauernmassen zusammen geschmiedet hatten, waren diese bereits den Reihen der Regimenter, Divisionen, Korps und Armeen eingefügt. Die in dieser Armee verstreuten Elemente der kleinbürgerlichen Demokratie, die in militärischer wie ideeller Beziehung die Hauptrolle spielten, hatten fast durchweg kleinbürgerlich-revolutionäre Allüren. Die tiefgreifende soziale Unzufriedenheit der Massen verschärfte sich und suchte einen Ausgang – besonders infolge des militärischen Zusammenbruchs des Zarismus. Sobald die Revolution sich entfalten konnte, ließ die Avantgarde des Proletariats die Tradition von 1905 neu aufleben und sammelte die Volksmassen, um vertretende Institutionen in Form von Deputiertensowjets zu organisieren. Die Armee wurde vor die Aufgabe gestellt, ihre Vertreter in die revolutionären Institutionen abzuordnen, ehe ihr politisches Bewusstsein auch nur einigermaßen das Niveau der sich entfaltenden Revolutionsereignisse erreichen konnte. Wen konnten die Soldaten als Deputierte abordnen.? Doch nur diejenigen Vertreter der Intelligenz und Halbintelligenz unter ihnen, die eine, wenn auch minime Reserve politischer Kenntnisse besaßen und diese zum Ausdruck zu bringen verstanden. Auf diese Art und Weise erschien die kleinbürgerliche Intelligenz mit einem Schlag durch den Willen der erwachenden Armee zu einer ungeheuren Höhe erhoben. Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, Journalisten, Einjährig-Freiwillige, die vor Kriegsausbruch ein ganz gewöhnliches Bürgerdasein gefristet und auf keine führende Rolle Anspruch gemacht hatten, erschienen nun auf einmal als Vertreter ganzer Korps und Armeen und fühlten sich auf einmal als „Führer" der Revolution. Die Verschwommenheit ihrer politischen Ideologie entsprach durchaus der Formlosigkeit im Bewusstsein der revolutionären Massen. Diese Elemente behandelten uns, die „Sektierer", die wir die sozialen Forderungen der Arbeiter und Bauern in all ihrer Schärfe und Unversöhnlichkeit hervorhoben, mit dem größten Hochmut. Gleichzeitig verbarg die kleinbürgerliche Demokratie unter dem Hochmut des revolutionären Emporkömmlings das tiefste Misstrauen gegen ihre eigenen Kräfte, wie gegen jene Masse, die sie zu dieser ungeahnten Höhe erhoben hatte. Obwohl die Intelligenz sich sozialistisch nannte und als solche gelten wollte, betrachtete sie die politische Allmacht der liberalen Bourgeoisie, deren Kenntnisse und Methoden mit schlecht versteckter Ehrerbietung. Hieraus entspringt das Bestreben der Führer des Kleinbürgertums, um jeden Preis die Mitarbeit, das Bündnis, die Koalition mit der liberalen Bourgeoisie zu erwirken. Das Parteiprogramm der Sozialisten-Revolutionäre (das durch und durch auf verschwommenen humanitären Formeln, die die Klassenmethoden durch sentimentale Allgemeinplätze und moralische Konstruktionen ersetzen, aufgebaut ist) erschien als das passendste geistige Ornat für diese Schicht von Führern ad hoc. Ihr Bestreben, ihre geistige und politische Ohnmacht in der ihnen so sehr imponierenden bürgerlichen Wissenschaft und Politik unterzubringen, fand seine theoretische Rechtfertigung in der Lehre der „Menschewiki". Diese erklärte, dass die jetzige Revolution eine bürgerliche Revolution sei und folglich nicht ohne Beteiligung des Bürgertums an der Regierung auskommen könne. So entstand der natürliche Block der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki, in dem gleichzeitig die politische Halbheit der bürgerlichen Intelligenz wie deren Vasallenverhältnis zu dem imperialistischen Liberalismus ihren Ausdruck fanden.

Uns war es vollkommen klar, dass die Logik des Klassenkampfes diese provisorische Kombination früher oder später zerstören und die Führer der Übergangsperiode zur Seite schieben würde. Die Hegemonie der kleinbürgerlichen Intelligenz bedeutete im Grunde genommen die Tatsache, dass das Bauerntum, – durch Vermittlung des Kriegsapparates plötzlich zur organisierten Teilnahme am politischen Leben berufen – die Arbeiterklasse numerisch erdrückte und sie vorübergehend verdrängte. Weit mehr noch! Insofern die kleinbürgerlichen Führer durch die Massenarmee zu dieser schwindelnden Höhe erhoben waren, konnte das Proletariat selbst, mit Ausnahme seiner führenden Minderheit, ihnen eine gewisse politische Achtung nicht versagen, konnte nicht unterlassen, ein politisches Bündnis mit ihnen zu suchen, – da dem Proletariat sonst die Gefahr drohte, von dem Bauerntum abgeschnitten zu sein. Die ältere Arbeitergeneration hatte aber noch die Lehre von 1905 nicht vergessen, als das Proletariat gerade deshalb zerschlagen wurde, weil die schweren Bauernreserven im Augenblicke des entscheidenden Kampfes nicht eingegriffen hatten. Aus diesem Grunde waren auch die proletarischen Massen in der ersten Revolutionsperiode so sehr für die politische Ideologie der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki empfänglich; – umso mehr, da die Revolution die übrigen bis dahin schlummernden proletarischen Massen erweckte und in dieser Weise den formlosen intellektuellen Radikalismus zur Vorbereitungsschule für sie machte. Die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten bedeuteten unter diesen Umständen die Herrschaft der bäuerlichen Formlosigkeit über den proletarischen Sozialismus und wiederum die Herrschaft des intellektuellen Radikalismus über die bäuerliche Formlosigkeit. Wenn das Gebäude der Sowjets mit solcher Schnelligkeit sich zu so bedeutender Höhe emporhob, so geschah dies in hohem Maße deshalb, weil die Intelligenz mit ihren technischen Kenntnissen und bürgerlichen Beziehungen an dem Sowjetaufbau die leitende Rolle spielten. Aber uns war klar, dass dieses imponierende Gebäude auf den tiefsten inneren Widersprüchen aufgebaut ist, und dass sein Zusammenbruch in der folgenden Revolutionsetappe absolut unvermeidlich ist.

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