Prinzipien der Demokratie und Diktatur des Proletariats

Prinzipien der Demokratie und Diktatur des Proletariats.

Als Marxisten sind wir nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen. In der Klassengesellschaft beseitigen die demokratischen Institutionen nicht nur den Klassenkampf nicht, sondern sie verleihen den Klasseninteressen einen höchst unvollkommenen Ausdruck. Den besitzenden Klassen bleiben immer noch unzählige Mittel zur Verfügung, den Willen der arbeitenden Volksmassen zu fälschen, abzulenken und zu vergewaltigen. Als ein noch unvollkommener Apparat zum Ausdruck des Klassenkampfes erscheinen die Institutionen der Demokratie unter den Bedingungen der Revolution. Marx bezeichnete die Revolution als die „Lokomotive der Geschichte". Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von einer Stufe auf die andere. Der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen kommt dieser Entwicklung umso weniger nach, je größer das Land und je unvollkommener sein technischer Apparat ist.

Die Majorität erhielten in der Konstituierenden Versammlung die rechtsstehenden Sozialisten-Revolutionäre. Der parlamentarischen Mechanik entsprechend hätte ihnen die Regierungsgewalt gehören müssen. Die Partei der rechtsstehenden Sozialisten-Revolutionäre hatte aber schon im Lauf der ganzen Zeit vor dem Oktoberumsturz die Möglichkeit gehabt, diese Regierungsgewalt zu bekommen. Dennoch entzog sich diese Partei der Regierung und trat ihren Löwenanteil an die liberale Bourgeoisie ab, und auch infolgedessen hatte sie – gerade in dem Augenblick, da die numerische Zusammensetzung der Konstituante sie formal verpflichtete, die Regierung zu bilden – da hatte sie den letzten Rest ihres Kredits bei den revolutionärsten Teilen des Volkes verloren. Die Arbeiterklasse und zugleich mit ihr die Rote Garde stand der Partei der rechten Sozialisten-Revolutionäre tief feindselig gegenüber. Die erdrückende Mehrheit der Armee unterstützte die Bolschewiki. Die revolutionären Elemente auf dem Lande teilten ihre Sympathien zwischen den linken Sozialisten-Revolutionären und den Bolschewiki. Die Matrosen, die in den Ereignissen der Revolution eine so bedeutende Rolle gespielt hatten, folgten fast ausschließlich unserer Partei. Aus denjenigen Sowjets, die schon im Oktober, d. h. vor der Einberufung der Konstituante, die Macht ergriffen hatten, waren die rechtsstehenden Sozialisten-Revolutionäre gezwungen, fortzugehen. Auf wen konnte sich also ein Ministerium stützen, das von der Majorität der Konstituierenden Versammlung aufgestellt wurde? Hinter ihnen wären die Spitzen der Landbevölkerung, der Intellektuellen und die Beamten gestanden; rechts hätten sie einstweilen von Seiten der Bourgeoisie eine Stütze gefunden. Einer solchen Regierung hätte aber der materielle Regierungsapparat vollkommen gefehlt. In den Konzentrationspunkten des politischen Lebens, wie es Petrograd ist, wäre diese Regierung vom ersten Schritt an auf unüberwindliche Hindernisse gestoßen Wenn unter diesen Umständen die Sowjets – in Unterwerfung unter die formale Logik der demokratischen Institutionen – die Regierung der Partei Kerenskis und Tschernows überließen, so hätte diese Regierung, die kompromittiert und ohnmächtig war, in das politische Leben des Landes lediglich eine zeitweilige Verwirrung hineingetragen, um dann wenige Wochen später durch einen neuen Aufstand gestürzt zu werden. Die Sowjets beschlossen, dieses verspätete historische Experiment auf ein Minimum zu reduzieren, und sie lösten die Konstituierende Versammlung noch an demselben Tage auf, an dem sie zusammengetreten war.

Dies gab einen Anlass zu den härtesten Anschuldigungen gegen unsere Partei. Das Auseinanderjagen der Konstituierenden Versammlung machte unzweifelhaft auch auf die führenden Kreise der sozialistischen Parteien Westeuropas einen ungünstigen Eindruck. Dort erblickte man in diesem politisch unvermeidlichen und notwendigen Akt eine Parteiwillkür, eine Art Tyrannei. In einer Reihe von Aufsätzen setzte Kautsky mit der ihm eigentümlichen Pedanterie die Wechselbeziehung zwischen den sozialistisch-revolutionären Aufgaben des Proletariats und dem Regime politischer Demokratie auseinander. Er bewies, dass für die arbeitende Klasse die Beibehaltung der Grundlagen demokratischen Aufbaues letzten Endes stets von Nutzen sei. Im Großen und Ganzen ist dies natürlich vollkommen richtig. Aber Kautsky degradierte diese historische Wahrheit zu einer Professoren-Banalität. Wenn es letzten Endes für das Proletariat vorteilhaft sei, seinen Klassenkampf und sogar seine Diktatur in die Rahmen demokratischer Institutionen zu leiten, so bedeutet das noch keineswegs, dass die Geschichte dem Proletariat immer eine solche Kombination ermöglicht. Die marxistische Theorie ergibt noch keineswegs, dass die Geschichte stets solche Bedingungen schaffe, die für das Proletariat am „günstigsten" seien. Man kann momentan kaum sagen, welchen Verlauf die Revolution genommen hätte, wenn die Konstituierende Versammlung in ihrem zweiten oder dritten Monat einberufen worden wäre. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die damals dominierenden Parteien der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki sich zusammen mit der Konstituante kompromittiert hätten: sowohl in den Augen der aktiveren Schichten, die die Sowjets unterstützen, als aber auch in den Augen der rückständigeren demokratischen Massen, von denen sich herausgestellt hätte, dass ihre Hoffnungen nicht an den Sowjets, sondern an der Konstituante hingen. Unter diesen Umständen hätte die Auflösung der Konstituante zu neuen Wahlen führen können, bei denen die Partei des linken Flügels sich als Majorität hätte erweisen können. Die Entwicklung schlug aber einen anderen Weg ein. Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung fanden im neunten Monat der Revolution statt. Zu dieser Zeit hatte der Klassenkampf eine solche Anspannung erfahren, dass er durch einen Ansturm von innen heraus die formalen Rahmen der Demokratie gesprengt hat.

Das Proletariat hatte die Armee und die armen Bauernschichten hinter sich. Diese Klassen befanden sich in einem Zustand direkten und erbitterten Kampfes mit den rechtsstehenden Sozialisten-Revolutionären. Aber infolge der schwerfälligen Mechanik der demokratischen Wahlen erhielt diese Partei als treues Abbild der Vor-Oktober-Epoche der Revolution – in der Konstituante die Majorität. So kam ein Widerspruch zustande, der im Rahmen der formalen Demokratie absolut unlösbar war. Und nur politische Pedanten, die sich keine Rechenschaft über die revolutionäre Logik der Klassengegensätze abgeben, können im Angesicht dieser Nachoktobersituation dem Proletariat banale Vorhaltungen machen über die Vorteile und den Nutzen der Demokratie für die Sache des Klassenkampfes.

Die Frage wurde von der Geschichte viel konkreter und schärfer gestellt. Die Konstituierende Versammlung musste also der Zusammensetzung ihrer Majorität nach die Regierung auf die Gruppe eines Tschernow, eines Kerenski und eines Zeretelli übertragen. War aber diese Gruppe im Stande, die Revolution zu leiten? Konnte sie in derjenigen Klasse, die als Rückgrat der Revolution erscheint, einen Halt finden? Nein. Der wirkliche Klasseninhalt der Revolution war unversöhnlich gegen ihre demokratische Schale gestoßen Und damit allein war das Schicksal der Konstituante besiegelt. Ihre Auflösung erschien als die einzig mögliche, als die chirurgische Lösung, als einziger Ausweg aus dem Widerspruch, der nicht von uns, sondern vom ganzen vorhergehenden Lauf der Ereignisse geschaffen worden war.

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