Das Schicksal der Konstituante

Das Schicksal der Konstituante.

Als nach dem Kornilowschen Abenteuer die herrschenden Sowjetparteien den Versuch machten, ihre Fahrlässigkeit in Bezug auf die konterrevolutionäre Bourgeoisie wieder gut zu machen, forderten sie ein beschleunigtes Zusammentreten der Konstituierenden Versammlung. Kerenski, den die Sowjets soeben vor der allzu innigen Umarmung seines Verbündeten Kornilow gerettet hatten, wurde dadurch genötigt, gewisse Zugeständnisse zu machen. Die Einberufung der Konstituierenden Versammlung wurde auf Ende November festgesetzt. Aber die Verhältnisse gestalteten sich zu dieser Zeit derart, dass man keine Garantien dafür haben konnte, dass die Konstituante in der Tat einberufen werden würde. An der Front ging ein tiefgreifender Zersetzungsprozess vor sich, die Desertionen nahmen von Tag zu Tag zu, die Soldatenmassen drohten, in ganzen Regimentern und Korps die Schützengräben zu verlassen und, alles unterwegs verwüstend, ins Hinterland zu ziehen. Auf dem Lande ging mit elementarer Wucht die Expropriation des Bodens und des Grundbesitzer-Eigentums vor sich. Einige Bezirke waren unter Kriegszustand gesetzt. Die Deutschen setzten ihre Offensive fort; sie hatten bereits Riga eingenommen und bedrohten nun Petrograd. Der rechte Flügel der Bourgeoisie verbarg seine Schadenfreude nicht, dass die revolutionäre Hauptstadt sich in Gefahr befände. Aus Petrograd wurden die Regierungsämter evakuiert und die Regierung Kerenskis machte Anstalten, nach Moskau überzusiedeln. All das machte die Einberufung der Konstituante nicht nur fraglich, sondern auch wenig wahrscheinlich. Von diesem Standpunkt aus bedeutete der Oktoberumschwung sowohl eine Rettung für die Konstituante, wie auch eine Rettung für die Revolution überhaupt. Und als wir sagten, dass der Eingang zur Konstituierenden Versammlung nicht über das Vorparlament Zeretellis, sondern über die Machtergreifung der Sowjets führe, waren wir vollkommen aufrichtig.

Aber die endlose Verschiebung der Konstituierenden Versammlung war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. In den ersten Tagen der Revolution gezeugt, kam sie erst nach acht bis neun Monate langem, erbittertem Kampf der Klassen und Parteien zur Welt. Sie kam zu spät, um noch die Möglichkeit zu haben, eine produktive Rolle zu spielen. Ihre innere Unzulänglichkeit wurde durch eine Tatsache bestimmt, die zuerst als unbedeutend erscheinen konnte, die aber im weiteren Verlauf für das Schicksal der Konstituante eine ungeheure Bedeutung erlangt hatte. Die numerisch wichtigste Partei der Revolution in ihrer ersten Phase war die Partei der Sozialisten-Revolutionäre. Wir sprachen bereits von ihrer Formlosigkeit und ihrem bunten sozialen Aufbau. Die Revolution führte unvermeidlich zu einer inneren Gliederung aller derjenigen Reihen der Sozialisten-Revolutionäre, die unter dem gemeinsamen Banner der Narodniki auftraten. Immer mehr und mehr trennte sich der linke Flügel ab, der einen Teil der Arbeiter und die weiten Schichten der armen Bauernschaft führte. Dieser Flügel geriet in unversöhnliche Opposition zu den kleinbürgerlichen und mittelbürgerlichen Spitzen der Partei der Sozialisten-Revolutionäre. Aber die Trägheit der Parteiorganisation und der Parteitraditionen hielt die unvermeidliche Spaltung noch auf. Das proportionale Wahlsystem beruht bekanntlich ganz und gar auf den Parteilisten. Da diese Listen zwei bis drei Monate vor dem Oktoberstreich aufgenommen worden waren, und seitdem keine Veränderung erfahren hatten, so figurierten sowohl die linken wie die rechten Sozialisten-Revolutionäre abwechselnd unter dem Banner einer und derselben Partei. Auf diese Weise hatten zur Zeit des Oktoberumsturzes, d. h. in einer Zeit, als die rechten Sozialisten-Revolutionäre die linken verhaften ließen, und die linken sich zum Sturz des Sozialisten-Revolutionärs Kerenski den Bolschewiki anschlossen – zu dieser Zeit hatten die alten Listen noch ihre ganze Gültigkeit, und die Bauernmassen waren gezwungen, bei den Wahlen für die Konstituante auf Grund von Listen zu stimmen, in deren ersten Reihen der Name Kerenski stand und weiter darauf die Namen der linken Sozialisten-Revolutionäre folgten, die an der Verschwörung gegen Kerenski teilgenommen hatten.

Wenn die Monate, die dem Oktoberumsturz vorangingen, eine Zeit der Linksverschiebung der Massen und des elementaren Zustroms der Arbeiter, Soldaten und Bauern zu den Bolschewiki war, so drückte sich innerhalb der Partei der Sozialisten-Revolutionäre dieser Prozess in der Verstärkung des linken Flügels auf Kosten des rechten aus. Aber immer noch dominierten in den Parteilisten der Sozialisten-Revolutionäre zu drei Vierteln die alten Namen des rechten Flügels – lauter Namen, die unterdessen, in der Periode der Koalition mit der liberalen Bourgeoisie, ihr revolutionäres Prestige vollkommen eingebüßt hatten.

Dazu kommt noch der Umstand, dass die Wahlen selbst im Lauf der ersten Wochen gleich nach dem Oktoberumsturz stattfanden. Die Nachricht von der Veränderung, die stattgefunden hatte, verbreitete sich verhältnismäßig langsam, in konzentrischen Kreisen aus der Hauptstadt nach der Provinz, und aus den Städten nach den Dörfern. Die Bauernmassen waren sich an vielen Orten recht wenig klar darüber, was in Petrograd und Moskau vorging. Sie stimmten für „Land und Freiheit", und stimmten für ihre Vertreter in den Landkomitees, die meistenteils unter dem Banner der „Narodniki" standen, damit aber stimmten sie für Kerenski und Awksentjew, die diese Landkomitees auflösten und deren Mitglieder verhaften ließen. Als Endresultat ergab sich dasjenige unwahrscheinlich anmutende politische Paradoxon, dass die eine der beiden Parteien, welche die Konstituante auflösen ließen, namentlich die linken Sozialisten-Revolutionäre – den gemeinsamen Listen zufolge – an gleicher Stelle mit der Partei passierte, die der Konstituante die Majorität verliehen hatte. Dieser Sachverhalt gibt faktisch eine klare Vorstellung, in welchem Maße die Konstituante hinter der Entwicklung des politischen Kampfes und der Parteigruppierungen zurückgeblieben war.

Es bleibt nur noch übrig, die prinzipielle Seite der Frage zu betrachten.

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