Der Kampf innerhalb der Sowjets

Der Kampf innerhalb der Sowjets.

Im Petrograder Sowjet wurde zu jener Zeit die Herrschaft unserer Partei endgültig befestigt. In dramatischer Form äußerte sich das bei der Frage über die Zusammensetzung des Präsidiums.

Zu der Zeit, als die Sozialisten-Revolutionäre und die Menschewiki in den Sowjets die Oberhand hatten, waren sie bemüht, mit allen Mitteln die Bolschewiki zu isolieren. Sie ließen in das Petrograder Präsidium nicht einen einzigen Bolschewik herein, selbst dann nicht, als unsere Partei mindestens einen Drittel des ganzen Sowjets bildete. Nachdem der Petrograder Sowjet mittelst einer labilen Majorität die Resolution der Übergabe der ganzen Regierungsgewalt in die Hände der Sowjets angenommen hatte, stellte unsere Fraktion die Forderung auf, es möge ein Koalitionspräsidium auf proportionaler Grundlage gebildet werden. Das alte Präsidium, das unter anderem Tschcheidse, Zeretelli, Kerenski, Skobelew und Tschernow aufwies, wollte nichts davon wissen. Es ist nicht überflüssig, jetzt daran zu erinnern, jetzt, da die Träger der von der Revolution geschlagenen Parteien von der Notwendigkeit einer einzigen Front der Demokratie reden und uns Exklusivität vorwerfen. Damals wurde eine spezielle Versammlung des Petrograder Sowjets einberufen, die über die Frage der Zusammensetzung des Präsidiums entscheiden sollte. Von beiden Seiten wurden sämtliche Kräfte, wurden alle Reserven mobilisiert. Zeretelli trat mit einer Programmrede hervor, in der er bewies, dass die Frage des Präsidiums eine Frage der politischen Richtung sei. Wir rechneten auf etwas weniger als die Hälfte der Stimmen und waren geneigt, einen Fortschritt darin zu sehen. In der Tat aber schlug sich bei der Namensabstimmung die Majorität von über hundert Stimmen auf unsere Seite. „Im Lauf von sechs Monaten", sprach Zeretelli, „standen wir an der Spitze des Petrograder Sowjets und führten ihn von Sieg zu Sieg; wir wünschen euch, ihr möget mindestens halb so lang auf den Posten verbleiben, die ihr jetzt einnehmen sollt". Im Moskauer Sowjet fand eine ebensolche Verschiebung der führenden Parteien statt.

In der Provinz gingen die Sowjets einer nach dem andern in das Lager der Bolschewiki über. Der Termin für die Zusammenkunft des zweiten Allrussischen Kongresses der Sowjets rückte näher. Aber die leitende Gruppe des Zentral-Exekutivkomitees war mit allen Kräften bemüht, den Kongress für unbestimmte Zeit zu verschieben, um ihn auf diese Art ganz zu unterdrücken. Es war offensichtlich, dass ein neuer Kongress der Sowjets die Majorität unserer Partei ergeben, dementsprechend die Zusammensetzung der Zentralexekutive erneuern und den Vermittlern ihre wichtigsten Positionen nehmen würde. Der Kampf um das Zusammentreten des Allrussischen Kongresses bekam dadurch für uns eine hochwichtige Bedeutung.

Im Gegensatz dazu schoben die Menschewiki und Sozialisten-Revolutionäre die Idee des „Demokratischen Kongresses" in den Vordergrund. Sie brauchten dieses Unternehmen genau so im Kampf gegen uns wie gegen Kerenski.

Das Haupt des Ministeriums nahm zu dieser Zeit eine völlig unabhängige und unverantwortliche Stellung ein. Es war mit Hilfe des Petrograder Sowjets in der ersten Periode der Revolution zur Macht gelangt. Kerenski war ohne den vorherigen Beschluss der Sowjets in das Ministerium eingetreten, aber sein Eintritt wurde nachträglich genehmigt. Nach der ersten Konferenz der Sowjets zeichneten die sozialistischen Minister allein verantwortlich vor dem Zentral-Exekutivkomitee. Ihre Verbündeten, die Kadetten, waren dagegen nur vor ihrer Partei verantwortlich. Um der Bourgeoisie entgegen zu kommen, hatte das Zentral-Exekutivkomitee nach den Julitagen die sozialistischen Minister von der Verantwortung vor den Sowjets befreit – angeblich im Namen der Etablierung einer revolutionären Diktatur. Es ist nicht ganz unnütz, auch daran jetzt zu erinnern, da dieselben Personen, die die Diktatur eines Kreises aufrichteten, jetzt mit Anschuldigungen und Verwünschungen gegen die Diktatur einer Klasse hervortreten. Die Moskauer Konferenz, auf der die geschickt verteilten demokratischen und Zensus-Elemente sich gegenseitig die Waagschale hielten, hatte sich zur Aufgabe gestellt, Kerenskis Gewalt über den Klassen und Parteien zu bestätigen. Dieses Ziel wurde nur scheinbar erreicht. In Wirklichkeit hatte die Moskauer Konferenz die völlige Machtlosigkeit Kerenskis enthüllt, denn er war den Zensus-Elementen sowohl wie der kleinbürgerlichen Demokratie fast gleich fremd. Da aber die Liberalen und die Konservativen seinen Ausfällen gegen die Demokratie Beifall klatschten und die Vermittler ihm, wenn er behutsam die Gegenrevolutionäre tadelte, Ovationen bereiteten, so gewann er den Eindruck, als ob er sich auf die einen sowohl wie die andern stützte und eine uneingeschränkte Gewalt besäße Den Arbeitern und den revolutionären Soldaten drohte er mit Blut und Eisen. Seine Politik der Hinter-den-Kulissen-Abmachungen mit Kornilow ging noch weiter, und schließlich kompromittierten ihn diese Abmachungen selbst in den Augen der Vermittler: Zeretelli begann in ausweichend diplomatischen Ausdrücken, die so sehr für ihn charakteristisch sind, über „persönliche" Momente in der Politik zu sprechen und über die Notwendigkeit, diese persönlichen Momente einzuschränken. Diese Aufgabe sollte die Demokratische Konferenz übernehmen, die nach willkürlicher Norm aus Vertretern der Sowjets, der Stadträte, der Semstwos, der Gewerkschaften und der Genossenschaften zusammengesetzt werden sollte. Die Hauptaufgabe bestand jedoch darin, dass die konservative Zusammensetzung der Konferenz genügend garantiert würde, die Sowjets ein für alle Mal in der formlosen Masse der Demokratie aufgelöst würden und dass man sich auf dieser neuen Organisationsbasis gegen die bolschewistische Flut sicherte.

Es mag an dieser Stelle in wenigen Worten der Unterschied zwischen der politischen Rolle der Sowjets und derjenigen der demokratischen Selbstverwaltungsorgane charakterisiert werden. Die Philister wiesen uns mehrmals darauf hin, dass die neuen Stadträte und die Semstwos, die auf Grund des allgemeinen Stimmrechts gewählt worden sind, unvergleichlich demokratischer als die Sowjets seien und, mit mehr Recht als diese, als Vertretung der Bevölkerung gelten dürften. Diesem formalen demokratischen Kriterium geht jedoch in Revolutionszeiten jeder sachliche Inhalt ab. Jede Revolution ist dadurch gekennzeichnet, dass das Bewusstsein der Massen sich schnell verändert: neue und immer wieder neue Schichten der Bevölkerung sammeln Erfahrung, überprüfen ihre Ansichten von gestern, streifen sie ab, gelangen zu neuen Ansichten, lehnen die alten Führer ab, folgen neuen Führern, gehen vorwärts … Die demokratischen Organisationen, die sich auf den schwerfälligen Apparat des allgemeinen Wahlrechts stützen, müssen zu Revolutionszeiten unbedingt hinter der Entwicklung des politischen Bewusstseins der Massen zurückbleiben. Ganz anders die Sowjets! Sie stützen sich unmittelbar auf organische Gruppierungen, wie die Fabrik, die Werkstatt, die Dorfgemeinde, das Regiment und andere. Hier fehlen natürlich jene juristischen Garantien für die Genauigkeit der Wahl, wie sie bei der Schaffung der demokratischen Stadtrat- oder Semstwo-Institutionen vorhanden sind. Dafür aber haben wir hier unvergleichlich ernsthaftere und tiefgehendere Garantien für die direkte und unmittelbare Verbindung des Abgeordneten mit seinen Wählern. Der Delegierte des Stadtrats oder des Semstwos stützt sich auf die lockere Masse der Wähler, die ihm für ein Jahr ihre Vollmachten anvertraut und dann auseinanderfällt. Die Sowjet-Wähler bleiben dagegen für immer durch die Bedingungen ihrer Arbeit und ihrer Existenz an einander gebunden, sie haben stets ihren Delegierten vor Augen; in jedem Augenblick können sie ihn maßregeln, dem Gericht übergeben, absetzen oder durch eine andere Person ersetzen. Wenn in den vorhergehenden Monaten der Revolution die allgemeine politische Entwicklung ihren Ausdruck darin fand, dass der Einfluss der Vermittlungsparteien demjenigen der Bolschewiki weichen musste, so geht daraus klar hervor, dass dieser Entwicklungsprozess sich am deutlichsten und vollkommensten in den Sowjets abspiegeln musste, während die Stadträte und die Semstwos bei all ihrem formalen Demokratismus eher den Zustand der Volksmassen von gestern als den von heute ausdrückten. Dadurch wird namentlich erklärt, dass gerade diejenigen Parteien, die unter der revolutionären Klasse am meisten den Boden unter den Füßen verloren, einen besonders starken Hang zu den Stadträten und Semstwos hatten. Mit dieser selben Frage – aber nur in viel weiterem Maßstab – werden wir später zu tun haben, wenn wir von der Konstituierenden Versammlung sprechen werden.

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