Die Offensive vom 18. Juni

Die Offensive vom 18. Juni.

Die Regierungskrisis schien infolge der Demonstration dieser Revolutionsmassen ganz unvermeidlich. Doch die Nachricht von der Front, dass die Revolutionsarmee die Offensive ergriffen hätte, verwischte den Eindruck, den die Demonstration hinterließ. Am selben Tage, an dem das Proletariat und die Garnison Petrograds die Veröffentlichung der Geheimdokumente und ein offenes Friedensangebot forderte, stürzte Kerenski die Revolutionsarmee in die Offensive. Das war natürlich kein zufälliges Zusammentreffen der Ereignisse. Die politischen Kulissenschieber hatten schon alles im Voraus vorbereitet, und der Zeitpunkt der Offensive war nicht aus militärischen, sondern aus politischen Motiven festgesetzt worden. Am 19. Juni zog die sogenannte patriotische Manifestation durch die Straßen von Petrograd. Der Newski-Prospekt – die Hauptverkehrsader des Bürgertums – war überfüllt von aufgeregten Gruppen, unter denen Offiziere, Journalisten und elegante Damen eine heiße Agitation gegen die Bolschewiki führten. Die ersten Berichte über die Offensive lauteten günstig. Die führende liberale Presse hielt darauf, dass die Hauptsache vollbracht sei, dass der Angriff vom 18. Juni, trotz seiner weiteren militärischen Folgen für die Entwicklung der Revolution ein tödlicher Schlag sei, da er die alte Disziplin in der Armee wiederherstellen und die Kommandostellen im Staate dem liberalen Bürgertum sichern würde. Wir sagten etwas anderes voraus. In einer besonderen Deklaration, die wir einige Tage vor der Juni-Offensive auf dem Ersten Sowjetkongress bekannt gaben, erklärten wir, dass diese Offensive den inneren Zusammenhang in der Armee zerstören, ihre verschiedenen Teile einander gegenüberstellen und eine große Übermacht in die Hände der Gegenrevolutionäre liefern würde, da die Aufrechterhaltung der Disziplin in einer zerrütteten, moralisch nicht erneuerten Armee ohne strenge Repressalien nicht abgehen würde. Mit andern Worten, wir sagten in dieser Deklaration diejenigen Konsequenzen voraus, die nachher unter dem gemeinsamen Namen der Kornilowaffäre ihren Ausdruck fanden. Wir nahmen an, dass der Revolution in beiden Fällen die größte Gefahr drohte: sowohl beim Gelingen der Offensive – woran wir nicht glaubten – sowie einem Misslingen, das uns fast unvermeidlich erschien. Das Gelingen der Offensive sollte das Kleinbürgertum in der Einheitlichkeit der chauvinistischen Stimmung mit der Bourgeoisie verbinden und das revolutionäre Proletariat auf diese Art und Weise isolieren. Das Misslingen der Offensive drohte der Armee mit einem gänzlichen Zerfall, mit chaotischem Rückzug, dem Verlust neuer Provinzen und der Enttäuschung und Verzweiflung der Massen. Die Geschehnisse schlugen den zweiten Weg ein. Die Siegesnachrichten währten nicht lange. Sie wurden von trüben Mitteilungen abgelöst über die Weigerung vieler Truppenteile, die Angreifer zu unterstützen, über den Untergang der Offiziere, aus denen allein die Angriffseinheiten zuweilen zusammengesetzt waren, usw.*

Die Kriegsereignisse spielten sich auf einer Basis immer wachsender Schwierigkeiten im inneren Leben des Landes ab. Auf dem Gebiete der Agrarfrage, der Industrie, der nationalen Beziehungen machte die Koalitionsregierung keinen entscheidenden Schritt vorwärts. Die Lebensmittelversorgung und der Verkehr wurden immer mehr zerrüttet. Die lokalen Zusammenstöße wurden häufiger. Die „sozialistischen" Minister rieten den Massen abzuwarten. Alle Beschlüsse und Maßnahmen, darunter die konstituierende Versammlung, wurden hinausgeschoben. Die Unentschlossenheit und die Unsicherheit des Regimes waren augenscheinlich. Es gab zwei mögliche Auswege: entweder musste das Bürgertum der Macht enthoben und die Revolution vorwärts gestoßen werden, oder man ging mit Hilfe strenger Repressalien zur „Bändigung" der Volksmassen über. Kerenski und Zeretelli schlugen den Mittelweg ein und verwirrten die Sachlage noch mehr … Als die Kadetten, die gescheitesten und weitblickendsten Vertreter der Koalition, einsahen, dass die misslungene Juni-Offensive nicht nur die Revolution, sondern auch die herrschenden Parteien schwer treffen könnte, beeilten sie sich, bei Zeiten abzutreten und die ganze Last der Verantwortung auf die Schultern ihrer Bundesgenossen von links abzuwälzen.

Am 2. Juli fand die Ministerkrisis statt, deren formale Ursache die ukrainische Frage war. Das war ein Moment höchster politischer Spannung in jeder Beziehung. Von den verschiedensten Teilen der Front erschienen Delegationen und einzelne Vertreter und erzählten von dem Chaos, das als Folge der Offensive in der Armee herrschte. Die sogenannte Regierungspresse forderte harte Repressalien. Ähnliche Stimmen erschallten immer häufiger aus den Spalten der sogenannten sozialistischen Presse. Kerenski ging immer mehr und mehr, oder richtiger gesagt immer offener auf die Seite der Kadetten und der Kadetten-Generäle über und offenbarte demonstrativ nicht nur seinen ganzen Hass gegen die Bolschewiki, sondern auch seinen Widerwillen gegen die revolutionären Parteien überhaupt. Die Botschaften der Entente übten auf die Regierung eine Pression aus und forderten Wiederherstellung der Disziplin und Fortsetzung der Offensive. In den Regierungskreisen herrschte die größte Kopflosigkeit. In den Arbeitermassen häufte sich eine Empörung an, die voller Ungeduld nach außen drängte. „Benutzt doch den Austritt der Kadettenminister, um die ganze Macht in eure Hände zu nehmen!" – mit dieser Aufforderung wandten sich die Arbeiter von Petrograd an die führenden Sowjet-Parteien der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki. Ich erinnere mich an die Sitzung des Exekutivkomitees vom 2. Juli. Die sozialistischen Minister waren erschienen, um über die neue Regierungskrisis Bericht zu erstatten. Mit gespannter Aufmerksamkeit warteten wir, welche Position sie nun einnehmen würden, nachdem sie infolge der schweren Prüfung, die ihnen die Koalitionspolitik aufgelegt hatte, so ruhmlos abgefallen waren. Der Berichterstatter war Zeretelli. Er setzte ausführlich dem Exekutivkomitee auseinander, dass diejenigen Zugeständnisse, die er zusammen mit Tereschtschenko an die Kiewer Rada gemacht hatte, noch keineswegs eine Aufteilung Russlands bedeuteten und daher den Kadetten keinen genügenden Anlass zum Austritt aus dem Ministerium boten. Zeretelli warf den Kadettenführern zentralistischen Doktrinarismus, Unverständnis für die Notwendigkeit eines Kompromisses mit der Ukraine usw. usw. vor. Der gewonnene Eindruck war armselig bis zum Äußersten Der hoffnungslose Doktrinär der Koalition warf Doktrinarismus den nüchternen Kapitalpolitikern vor, die den ersten besten Anlass dazu benutzten, um ihre politischen Commis die Rechnung begleichen zu lassen für jenen entscheidenden Umschwung, als den sie die Entwicklung der Ereignisse infolge der Offensive vom 18. Juni betrachteten. Nach allen vorhergegangenen Erfahrungen der Koalition hatte es den Anschein, als ob nur ein einziger Ausweg möglich wäre: Ein Bruch mit den Kadetten und Schaffung einer Sowjet-Regierung. Das Kräfteverhältnis innerhalb der Sowjets war damals derart, dass die Sowjet-Regierung in Parteihinsicht sich unmittelbar in den Händen der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki befunden hätte. Wir gingen dem bewusst entgegen. Dank der Möglichkeit ständiger Neuwahlen sicherte der Sowjet-Mechanismus eine ziemlich genaue Wiedergabe der nach links abschwenkenden Stimmungen der Arbeiter- und Soldatenmassen; nach einem Bruch der Koalition mit der Bourgeoisie mussten also, unserer Voraussicht nach, in der Zusammensetzung der Sowjets die radikalen Tendenzen ein Übergewicht bekommen. Unter diesen Umständen hätte der Kampf des Proletariats um die Macht natürlicherweise in das Fahrwasser der Sowjet-Organisation gemündet und würde sich schmerzlos weiter entfaltet haben. Nach einem Bruch mit der Bourgeoisie wäre die kleinbürgerliche Demokratie selbst unter die Schläge der Bourgeoisie geraten und hätte einen innigeren Anschluss an das sozialistische Proletariat suchen müssen, sodass ihre Unentschlossenheit und politische Gestaltlosigkeit früher oder später unter der Wucht unserer Kritik von den werktätigen Massen überwunden worden wäre. Aus diesem Grunde allein forderten wir von den leitenden Sowjet-Parteien – zu denen wir, ohne einen Hehl daraus zu machen, gar kein politisches Vertrauen hegten, – sie möchten die Regierungsgewalt in ihre Hände nehmen.

Aber auch nach der Ministerkrisis vom 2. Juli verzichteten Zeretelli und seine Gesinnungsgenossen auf die „Idee" der Koalition nicht. Sie erläuterten im Exekutivkomitee, die führenden Kadetten wären freilich von Doktrinarismus und selbst von gegenrevolutionären Tendenzen zerfressen, in der Provinz gäbe es aber viele bürgerliche Elemente, die noch im Stande wären, im gleichen Schritt und Tritt mit der revolutionären Demokratie zu marschieren, und zur Sicherung ihrer Mitarbeiterschaft wäre es notwendig, die Vertreter der Bourgeoisie an das neue Ministerium heranzuziehen. Die Nachricht, die Koalition wäre zerfallen, nur um einer neuen Koalition Platz zu machen – diese Nachricht verbreitete sich schnell in Petrograd und rief in den Arbeiter- und Soldatenvierteln einen Sturm der Entrüstung hervor. So wuchsen die Ereignisse vom 3./5. Juli heran.

*In Anbetracht seiner großen geschichtlichen Bedeutung führen wir an dieser Stelle im Auszug ein Dokument an, das von unserer Partei auf dem Allrussischen Kongress der Sowjets am 3. Juni 1917, d. h. zwei Wochen vor der Offensive, bekannt gemacht wurde: „Wir halten es für die Kongressarbeiten für notwendig, an erster Stelle die Frage aufzuwerfen, von der nicht nur die weiteren Schicksale aller Maßnahmen des Kongresses, sondern – und im wahren Sinne des Wortes – das Schicksal der ganzen russischen Revolution abhängt: die Frage nach der Offensive, die für die nächste Zukunft vorbereitet wird.

Indem die gegenrevolutionären Kreise Russlands das Volk und die Armee – die nicht wissen, im Namen welcher internationalen Ziele sie berufen werden, ihr Blut zu vergießen – vor die Tatsache der Offensive mit allen ihren Folgen stellen, erwarten sie auch, dass die Offensive eine Konzentrierung der Macht in den Händen der militärdiplomatischen Gruppen herbeiführen würde, jener Gruppen, die mit dem englischen, französischen und amerikanischen Imperialismus verbündet sind, und sie von der Notwendigkeit befreien würde, künftig mit dem organisierten Willen der russischen Demokratie rechnen zu müssen.

Die heimlichen gegenrevolutionären Initiatoren der Offensive, die vor keinem „Kriegsabenteuer" zurückschrecken, versuchen bewusst, die, durch die innerpolitische und internationale Lage des Landes hervorgerufene Zerrüttung der Armee auszuspielen, und zu diesem Zwecke flößen sie den verzweifelten Elementen der Demokratie den grundsätzlich falschen Gedanken ein, dass die bloße Tatsache der Offensive die „Wiedergeburt" der Armee ermöglichen und dass auf diese mechanische Weise der Mangel an einem bestimmten wirksamen Programm der Kriegsliquidation ersetzt werden könnte. Dabei ist es klar, dass eine solche Offensive die Armee, in der die einen Truppenteile den andern gegenüberstehen, nur endgültig desorganisieren muss."

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