Reibungen im Innern

Reibungen im Innern.

Unterdessen breitete sich der Kampf um die Gewalt der Sowjets über das ganze Land aus. In Moskau gewann dieser Kampf einen äußerst langwierigen und blutigen Charakter. Nicht zuletzt war vielleicht diese Tatsache durch den Umstand verursacht, dass die Leiter des Aufstandes nicht von vorneherein die ganze erforderliche Entschlossenheit des Angriffs bewiesen hatten. Im Bürgerkrieg kann, mehr noch als in jedem anderen Krieg, der Sieg lediglich durch eine entschiedene und kontinuierliche Offensive gesichert werden. Schwanken – darf es nicht geben ; Verhandlungen führen – ist gefährlich; abwartend an einer Stelle verharren – verderblich. Es handelt sich ja um Volksmassen, die noch nie die Gewalt in ihren Händen hatten, die sich stets unter dem Joch einer anderen Klasse befanden und denen infolgedessen das politische Selbstbewusstsein am meisten abgeht. Jedes Schwanken im leitenden Zentrum der Revolution erzeugt sofort eine Zersetzung unter den Massen. Nur in dem Fall, wenn die revolutionäre Partei selbst fest und sicher ihrem Ziel entgegengeht, kann sie den Arbeiterklassen helfen, ihre durch Jahrhunderte hindurch anerzogenen Instinkte der Sklaverei zu überwinden, und kann die Arbeitermassen zum Siege führen. Und nur auf dem Wege einer entscheidenden Offensive kann bei einem aufgewendeten Minimum an Kraft und Opfern der Sieg errungen werden.

Aber die ganze Schwierigkeit besteht eben darin, eine entschlossene und sichere Taktik zu erlangen. Die Unsicherheit der Massen ihren eigenen Kräften gegenüber und ihr Mangel an Regierungserfahrung äußert sich auch in den Führern, die ihrerseits sich außerdem noch unter dem mächtigen Druck der bürgerlichen öffentlichen Meinung befinden.

Selbst den Gedanken einer eventuellen Diktatur der Arbeitermassen nahm die liberale Bourgeoisie mit Hass und Wut entgegen. Sie gab diesen ihren Gefühlen mittelst all der unzähligen Organe, die zu ihrer Verfügung stehen, Ausdruck. Der liberalen Bourgeoisie folgte getreulich die Intelligenz, die bei all ihrem Radikalismus in Worten und der sozialistischen Färbung ihrer Weltanschauung im tiefsten Inneren ihres Bewusstseins durch und durch von sklavischer Anbetung der Macht der Bourgeoisie und ihrer Regierungskunst durchdrungen ist. Diese ganze „sozialistische" Intelligenz rückte nach rechts und betrachtete die sich stabilisierende Sowjetregierung als den Anfang vom Ende. Hinter den Vertretern der „freien Berufe" zogen die Beamten und das administrativ-technische Personal her, alle jene Elemente, die sich geistig und materiell von den Brocken vom Tisch der Bourgeoisie nähren. Die Opposition dieser Schichten hatte zumeist einen passiven Charakter – besonders nach dem Zusammenbruch des Fähnrich-Aufstandes; aber umso unüberwindlicher konnte diese Opposition erscheinen. Uns wurde auf jeden Schritt und Tritt die Mitwirkung verweigert. Entweder die Beamten traten aus dem Ministerium aus, oder sie blieben da und weigerten sich, weiter zu arbeiten. Auch übertrugen sie den Anderen weder die Geschäfte noch die Geldsummen. Bei der Telefonstation bekamen wir keine Verbindung. Auf dem Telegraphenamt wurden unsere Telegramme entweder verstümmelt oder aufgehalten. Wir konnten keine Übersetzer, keine Stenographen, nicht einmal Kopisten auftreiben. All das musste natürlich jene Atmosphäre schaffen, in der einzelne Elemente an der Spitze unserer eigenen Partei zu zweifeln begannen, ob es bei einer solchen Opposition der bürgerlichen Gesellschaft den arbeitenden Massen gelingen würde, den Regierungsapparat in Gang zu setzen und die Macht beizubehalten. Hie und da wurden Stimmen laut, man müsste eine Einigung erzielen. Einigung mit wem? Mit der liberalen Bourgeoisie? Aber die Erfahrung einer Koalition mit ihr hatte die Revolution in einen furchtbaren Sumpf getrieben. Der Aufstand vom 25. Oktober erschien als Akt der Selbsterhaltung der Volksmassen nach einer Epoche der Ohnmacht und des Verratenseins an die Koalitionsregierung. Nun war noch eine Koalition in den Reihen der sogenannten revolutionären Demokratie, d. h. aller Sowjetparteien möglich. Eine solche Koalition hatten wir eigentlich von Anfang an vorgeschlagen, schon in der Sitzung des Zweiten Allrussischen Sowjet-Kongresses am 25. Oktober. Die Regierung Kerenskis war gestürzt – und so boten wir dem Sowjet-Kongress an, die Regierungsgewalt in seine Hände zu nehmen. Aber die rechtsstehenden Parteien zogen ab und schlugen die Türe hinter sich zu. Und das war auch das Beste, was sie hatten tun können. Sie stellten einen verschwindend kleinen Teil des Kongresses dar. Hinter ihnen standen keine Massen mehr, und diejenigen Schichten, die aus Trägheit sie noch unterstützten, gingen immer mehr und mehr auf unsere Seite über. Eine Koalition mit den rechtsstehenden Sozialisten-Revolutionären und den Menschewiki wäre außer Stande gewesen, die soziale Basis der Sowjetregierung zu erweitern: zu gleicher Zeit hätte aber diese Koalition in die Zusammensetzung der Regierung Elemente hineingebracht, die durch und durch von politischer Skepsis und Götzendienerei vor der liberalen Bourgeoisie zerfressen sind. Die ganze Kraft der neuen Regierung bestand aber im Radikalismus ihres Programms und der Entschlossenheit ihrer Aktionen. Sich mit den Gruppen von Tschernow und Zeretelli verbünden, bedeutete soviel, wie die neue Regierung an Händen und Füßen binden, sie der Bewegungsfreiheit berauben und dadurch in kürzester Zeit das Vertrauen der arbeitenden Massen zu ihr untergraben.

Unsere nächsten Nachbarn von rechts waren die sogenannten „linken Sozialisten-Revolutionäre". Diese waren im Großen und Ganzen bereit, uns zu unterstützen; zugleich aber waren sie bestrebt, eine sozialistische Koalitionsregierung zu schaffen. Die Leitung des Eisenbahner-Verbandes (der sogenannte Wikschel), das Zentralkomitee der Post- und Telegraphenangestellten, der Beamten-Verband der Staatsämter – alle diese Organisationen waren gegen uns. Selbst unter den Häuptern unserer eigenen Partei wurden Stimmen laut, die die Notwendigkeit hervorhoben, auf diesem oder jenem Weg zu einer Einigung zu gelangen. Aber auf welcher Basis? Alle oben genannten führenden Institutionen der vorhergehenden Epoche hatten sich überlebt. Sie standen ungefähr in demselben Verhältnis zu dem gesamten unteren Personal, wie die alten Armeekomitees zu den Soldatenmassen in den Schützengräben. Die Geschichte hatte zwischen dem „Oben" und dem „Unten" einen tiefen Riss gezogen. Alle prinzipienlosen Kombinationen aus diesen von der Revolution verbrauchten Führern von gestern waren zu einem unvermeidlichen Fiasko verurteilt. Es hieß also, sich fest und entschlossen auf die unteren Schichten stützen, um mit ihnen auch die Sabotage und die aristokratischen Prätentionen der oberen Schichten zu überwinden. Alle aussichtslosen Versuche zur Einigung überließen wir den linken Sozialisten-Revolutionären. Unsere Politik bestand, im Gegenteil, in einer Gegenüberstellung der arbeitenden unteren Schichten gegen alle jene Vertretungsorganisationen, die das Regime Kerenskis unterstützten. Diese unversöhnliche Politik rief selbst bei den Häuptern unserer eigenen Partei Reibungen und sogar eine gewisse Spaltung hervor. Im Zentral-Exekutiv-Komitee protestierten die linken Sozialisten-Revolutionäre gegen die scharfen Maßregeln der neuen Regierung und beharrten auf der Notwendigkeit von Kompromissen. In gewissen Kreisen der Bolschewiki fanden sie auch Unterstützung. Drei Volkskommissare legten ihre Vollmachten nieder und traten aus der Regierung aus. Einige andere Parteimitglieder erklärten sich prinzipiell mit ihnen solidarisch. Das machte in den intellektuellen und bürgerlichen Kreisen einen ungeheuren Eindruck: wenn die Bolschewiki von den Fähnrichen und den Kosaken Krasnows nicht besiegt worden seien, so gehe nun klar hervor, dass die Sowjetregierung infolge ihres inneren Zerfalles zugrunde gehen müsse. Die Massen hatten jedoch nichts von dieser ganzen Spaltung bemerkt. Sie unterstützten den Sowjet der Volkskommissare einstimmig, nicht allein gegen die konterrevolutionären Verschwörer und Saboteure, sondern auch gegen alle Vermittler und Skeptiker.

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