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Leo Trotzki 19180321 Wir brauchen eine Armee

Leo Trotzki: Wir brauchen eine Armee

[Leo Trotzki: Die Geburt der Roten Armee. Wien 1924, S. 19-23]

Genossen! Unsere Sozialistische Sowjetrepublik braucht eine gut organisierte Armee.

Bei der Weltlage, in die wir durch den Willen des historischen Schicksals versetzt sind, unter den unerhört schwierigen Verhältnissen, die nicht von uns geschaffen sind und unter denen wir leben – müssen wir stark sein. Dies wird durch die ganze internationale Situation ganz besonders hervorgehoben. Zur Charakteristik dieser Situation und der internationalen Perspektiven, die uns erwarten, möchte ich bei den wichtigsten Tatsachen auf diesem Gebiete verweilen.

Das letzte Telegramm, das wir aus dem Westen erhielten, meldet, dass Deutschland sich an die Regierungen unserer gewesenen „Alliierten" mit Friedensvorschlägen gewandt hat; die Deutschen versprechen Frankreich und Belgien zu räumen und außerdem Elsass-Lothringen an die Franzosen zurückzugeben.1 Das bedeutet, dass sie einen Frieden auf Kosten Russlands im Auge haben.

Schon zu Beginn des Krieges sagten wir, dass das Weltgemetzel unvermeidlich zu einer völligen Erschöpfung der weniger reichen kriegführenden Mächte führen müsse, dass die schwächeren unter den kriegführenden Ländern eine schwere Niederlage erleiden würden, und dass die Verteilung der Beute auf ihre Kosten geschehen würde – einerlei, zu welchem der beiden Lager sie gehören. Namentlich dieses Schicksal droht uns.

Ferner melden die bürgerlichen Zeitungen fast aller Länder in ihrer Verlogenheit, dass an der sibirischen Eisenbahn sich zirka 20.000 gut organisierte Kriegsgefangene befinden, die den „Alliierten" gegenüber feindlich gesinnt sind. Diese lügenhaften und provokatorischen Meldungen stammen aus dem Generalstab Japans, der derartige Gerüchte mit der offensichtlichen Absicht verbreitet, einen legalen Anlass zur Besetzung von Wladiwostok und Sibirien zu finden.

In England geht der Kampf zwischen zwei politischen Richtungen vor sich, von denen die eine, die alle Parteien des Kapitals vereinigt, für einen bestimmten Kompromiss mit Deutschland auf Kosten Russlands ist, während die andere, in der sich die revolutionäre Gärung in den Massen des englischen Volkes widerspiegelt, vor derartigen Machinationen auf Kosten Russlands warnt. Aber auch in England gehört die Herrschaft den extremen Imperialisten. Wir sind von Feinden umringt. Wenn unser „Verbündeter" Frankreich tatsächlich Elsass-Lothringen angeboten bekommen wird, so wird die französische Börse Russland verkaufen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das wird natürlich die „freundschaftlichen" Gefühle, die unsere konterrevolutionären „Alliierten", welche so glühend von den Vertretern der rechten Richtungen verteidigt werden, für unser russisches Volk hegen, nicht vermindern. Genossen! In Anbetracht dessen erklären wir, dass das erschöpfte und entwaffnete Russland unvermeidlich zum Sklaven des internationalen Imperialismus, der sich gegen Russland vereinigt, werden wird, wenn es nicht rechtzeitig durch die Unterstützung des internationalen Proletariats gerettet werden wird, indem wir selber unsere Verteidigung organisieren.

Es wird uns vorgeworfen, dass wir nicht halten, was wir versprochen haben. Darauf antworten wir, dass wir zunächst gezwungen sind, uns zu bewaffnen und zu kämpfen, um die Möglichkeit der Realisierung unseres Programms zu sichern, und dass, falls das europäische Proletariat in den schweren Stunden unseres furchtbaren Kampfes uns nicht zur Hilfe kommen wird, wir, die wir unbewaffnet sind, auch ganz zugrunde gehen können. Wir haben als, erste das Banner des Aufstandes erhoben in dieser blutig finsteren Nacht des imperialistischen Gemetzels, wir haben es schwer, fast unerträglich schwer, gegen den eisernen Ring der uns umgebenden Feinde anzukämpfen. Was Wunder, dass wir nicht alles halten, was wir versprochen haben?

Wir brauchen eine Armee, die uns zur starken Macht für den kommenden Kampf gegen den internationalen Imperialismus macht. Mit Hilfe dieser Armee werden wir uns nicht nur selber schützen und wehren, sondern wir werden auch den Kampf des internationalen Proletariats unterstützen. Denn es unterliegt keinem Zweifel, dass, je mehr die Weltimperialisten geplündert und gemordet haben werden, um so schrecklicher, um so entsetzlicher der Zorn des europäischen werktätigen Soldaten sein wird, der bei Verlassen des Schützengrabens, nach all den überstandenen übermenschlichen Leiden, bei sich daheim eine verarmte, hungrige Familie und im Lande die wirtschaftliche Zerstörung vorfinden wird.

Mögen die Kleingläubigen, von Müdigkeit übermannt, von der revolutionären Bewegung des Proletariats der anderen Länder und vom Sieg der Weltrevolution nichts mehr wissen wollen; wir behaupten, dass der Augenblick der sozialen Explosion in allen Ländern unvermeidlich kommen wird und dass wir, denen die Geschichte früher als den anderen den Sieg und alle sich aus dem Sieg ergebenden Möglichkeiten gegeben hat, beim ersten Grollen der Weltrevolution bereit sein müssen, unseren Brüdern im Auslande militärische Hilfe zu bringen.

Insbesondere in dem Moment, wo das deutsche Proletariat, das der Revolution näher ist als jedes andere, erfasst vom Brand des Kampfes und des Enthusiasmus auf die Straße gehen wird (und es wird hinausgehen, was auch die Unken aus den Parteien, die sich ein für alle Mal aus der Internationale gestrichen haben, reden mögen), müssen wir, gut vorbereitet und organisiert, ihnen zu Hilfe kommen.

Unsere Partei hat die alte zaristische Armee bewusst zerstört. Aber der Krieg selbst hat durch seinen ganzen Verlauf zu einer völligen Zersetzung der alten Armee geführt. Auch ohne die Arbeit unserer Partei wäre die alte Armee in ihre Bestandteile zerfallen. Dieses Resultat war durchaus durch den Zarismus, sowie die ganze Politik der Kerenski-Zeit vorbereitet. Schon zu Beginn der Februarrevolution stand die Frage: Krieg oder Frieden, als Kardinalfrage vor dem Soldaten; von der Lösung dieser Frage hing das Los der bewaffneten Kräfte des Landes ab. Namentlich damals galt es im Interesse des Landes und der Armee, in erster Linie die Frage des Friedens, im russischen wie im internationalen Maßstabe, praktisch aufzuwerfen. Aber gerade in dem Moment, als unsere Armee, die schon damals ganz erschöpft und entkräftet war, sich in Sehnsucht nach dem Frieden verzehrte, hetzten Kerenski und seine Helfershelfer und Verbündeten die erschöpften Truppen in die blutige Offensive vom 18. Juni. Das hat der Armee den tödlichen Schlag versetzt! Hier war von der Konstituierenden Versammlung die Rede. Mag die Partei, die in dieser Versammlung numerisch die stärkste war, wissen, dass gerade sie es war, die am 18. Juni die Armee vernichtete, das Land gegen sich aufbrachte und dadurch die Konstituierende Versammlung totschlug!

Wir werden bei der Schaffung unserer Armee unzweifelhaft auf eine Reihe von Hindernissen stoßen. Wir sind – ob wir es wollen oder nicht – die Erben des ganzen vorhergehenden Regimes unserer politischen Feinde, und die ganze Schwere der letzten Ereignisse, vor allem des Friedens von Brest-Litowsk, hat sich verhängnisvoll auf uns gewälzt, dank der vorhergehenden Wirtschaft des Zarenregimes und des Regimes der kleinbürgerlichen Sozial-Opportunisten. Wenn der Geist des revolutionären Enthusiasmus im Schoße der Volksmassen noch nicht endgültig erloschen ist, der Geist, ohne den ein Sieg der Revolution undenkbar wäre, so bloß dank dem Umstände, weil bei den jetzigen furchtbaren Prüfungen, die das Volk ertragen muss, die Macht tatsächlich in seinen Händen liegt.

In den Oktobertagen kämpfte das Volk um die Macht und eroberte sie. Jetzt treten wir, im vollen Besitze dieser Macht, in die Periode des Aufbaus und der Erneuerung des Lebens des revolutionären Volkes ein. Vor uns stehen unermessliche Aufgaben: Wiederherstellung des Eisenbahnwesens, die Notwendigkeit, die Hungrigen zu nähren, die Massen zur schöpferischen und richtig organisierten Arbeit heranzuziehen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Aufgaben im gegenwärtigen Moment dadurch bedeutend kompliziert werden, dass die alte Disziplin im Inneren der Massen tief untergraben ist und eine neue, revolutionäre Disziplin noch fehlt. Im Lande herrscht große Zügellosigkeit, die eine Folge der noch nicht aufgehellten Finsternis ist. Natürlich ist all das ein unvermeidliches Produkt unserer ganzen vorhergehenden Geschichte.

Umso rascher müssen wir die Ärmel aufkrempeln und die grobe Arbeit anpacken, um im machtvollen Schwung den Staatskarren aus dem Dreck herauszuziehen. Wir brauchen eine regelmäßige, beharrliche und systematische Arbeit auf allen Gebieten!

Solange wir gegen Kaledin kämpften, konnten wir uns mit rasch zusammengeschusterten Truppen begnügen. Aber jetzt reichen diese Truppen nicht aus, um die uns bevorstehende schöpferische Arbeit zur Wiedergeburt des. Landes zu sichern, um die Sowjetrepublik gegen die internationale konterrevolutionäre Einkreisung zu schützen. Wir brauchen eine richtig und neu organisierte Armee!

Sobald die Rede ist von der Armee, werfen uns die früheren Mitarbeiter der Zarengeneräle vor, dass wir die alten Offiziere nehmen und sie auf verantwortliche Posten stellen. Ja, wir benutzen die militärischen Fachleute, denn die Aufgabe der Sowjetdemokratie besteht ja nicht darin, die technischen Kräfte von sich zu stoßen, deren man sich mit Nutzen bedienen kann, indem man sie dem bestehenden Regime unterordnet. Auch in Bezug auf die Armee wird sich die ganze Macht in den Händen der Sowjets konzentrieren, denn allen militärischen Organen und Truppenteilen werden zuverlässige politische Kommissare zur allgemeinen Kontrolle beigeordnet. Die Bedeutung dieser Kommissare muss sehr hoch veranschlagt werden, ihre Vollmachten werden unbeschränkt sein. Die Militärfachleute werden die Technik, die rein militärischen Fragen, die operative Arbeit, die Kampfaktionen leiten, während die politische Seite der Formierung, Schulung und Ausbildung der Truppen ganz und gar den bevollmächtigten Vertretern des Sowjetregimes in Gestalt seiner Kommissare untergeordnet sein wird. Einen anderen Weg gibt es augenblicklich nicht und kann es nicht geben. Man darf nicht vergessen, dass zum Kampfe außer der Begeisterung, die im Volke steckt, auch noch technische Kenntnisse erforderlich sind.

Zu einer richtigen Organisierung der Armee und insbesondere zur zweckmäßigen Ausnutzung der Fachleute brauchen wir eine revolutionäre Disziplin. Wir führen sie entschlossen von oben ein, aber man muss sie mit derselben Energie von unten einführen, indem das Verantwortlichkeitsgefühl in den Volksmassen geweckt wird. Wenn das Volk empfinden wird, dass die Disziplin jetzt nicht zum Schutz des Beutels der Bourgeoisie eingeführt wird, nicht zur Rückgabe des Landes an die Gutsbesitzer, sondern umgekehrt, zur Festigung und zum Schutz aller Errungenschaften der Revolution, dann wird es selbst die härtesten Maßnahmen billigen, die zur Durchführung der Disziplin ergriffen werden. Um jeden Preis, unbedingt gilt es, in der Roten Armee Disziplin einzuführen, nicht die frühere automatische Zwangsdisziplin, sondern eine bewusste Kollektivdisziplin, die auf dem revolutionären Enthusiasmus und der klaren Einsicht der Arbeiter und Bauern in ihre Pflichten vor ihrer Klasse beruht.

Wir werden vor keinen Schwierigkeiten haltmachen. Vielleicht werden wir für den Sieg unserer Sache und zur Verwirklichung unserer großen Aufgaben eine Zeitlang nicht acht, sondern zehn oder gar zwölf Stunden arbeiten müssen. Wohlan! Wir werden doppelt so lange arbeiten, wir werden uns einspannen lassen, wir werden vorwärtsschreiten auf dem Wege der Arbeitsdisziplin und der schöpferischen Arbeit. Wir behaupteten und behaupten nicht, dass alles von selbst gehen wird. Nein, die Schwierigkeiten sind unermesslich. Aber wir erwiesen uns reicher an Geist, Ressourcen und Kräften, als wir dachten, und das ist nicht wenig, das ist ein Unterpfand des Sieges!

So wollen wir unermüdlich arbeiten, damit wir in dem Moment, wo das europäische Proletariat sich erhebt, im Vollbesitz unserer Waffen, ihm zu Hilfe eilen können und mit ihm gemeinsam mit vereinter Kraft die Macht des Kapitals für immer stürzen!

1 ,Prawda" vom 21. März 1918.

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