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Leo Trotzki 19200423 Das Nationale in Lenin

Leo Trotzki: Das Nationale in Lenin

[Nach Russische Korrespondenz, 1. Jahrgang, Heft VIII-IX (Juni 1920), S. 22-24]

Der Internationalismus Lenins bedarf keiner besonderen Empfehlung. Er ist am besten gekennzeichnet durch den unversöhnlichen Bruch in den ersten Tagen des Weltkrieges mit jener Nachahmung des Internationalismus, der in der 2. Internationale herrschte Die offiziellen Führer des „Sozialismus" brachten auf der Tribüne des Parlaments die Interessen des Vaterlandes mit den Interessen der Menschen durch abstrakte Ausführungen im Geiste der alten Kosmopoliten in Einklang. In der Praxis führte das, wie wir wissen, zu einer Unterstützung des raubgierigen Vaterlandes durch das Proletariat

Der Internationalismus Lenins ist durchaus keine Formel einer Ineinklangbringung des Nationalen und Internationalen in Worten, sondern die Formel eines internationalen revolutionären Handelns. Das von der sogenannten zivilisierten Menschheit bewohnte Territorium der Welt wird als ein einziges zusammenhängendes Kampffeld betrachtet, auf dem die einzelnen Völker und deren Klassen einen gigantischen Kampf miteinander führen.

Keine einzige Frage von Bedeutung lässt sich in den nationalen Rahmen zwängen. Sichtbare und unsichtbare Fäden verbinden diese Frage wirksam mit Dutzenden von Erscheinungen in allen Enden der Welt. Bei der Bewertung internationaler Faktoren und Kräfte ist Lenin mehr denn sonst jemand von nationalen Voreingenommenheiten frei.

Marx war der Ansicht, dass die Philosophen genügend die Welt erklärt hätten und erblickte seine Aufgabe darin, diese Welt umzugestalten. Selbst hat er, dieser geniale Verkünder, das nicht erlebt. Die Umgestaltung der alten Welt ist gegenwärtig in vollem Gange und der erste, der auf diesem Gebiete tätig ist, ist Lenin. Sein Internationalismus ist eine praktische Bewertung der geschichtlichen Ereignisse und ein praktischer Eingriff in deren Gang in einem, die ganze Welt umfassenden Maßstab und zu Zwecken, die die ganze Welt berühren. Russland und sein Schicksal bedeuten nur ein Element in diesem gewaltigen historischen Ringen, von dessen Ausgang das Schicksal der Menschheit abhängt.

Der Internationalismus Lenins bedarf keiner besonderen Empfehlung. Dabei ist Lenin selbst in hohem Maße national. Er wurzelt tief in der neuen russischen Geschichte, nimmt sie in sich auf, gibt ihr den prägnantesten Ausdruck und erreicht gerade auf diesem Wege den Gipfel internationalen Wirkens und internationalen Einflusses.

Im ersten Augenblick mag die Charakteristik Lenins als „national" unerwartet erscheinen, und doch ist sie im Grunde genommen etwas ganz Selbstverständliches Um eine solche in der Geschichte der Völker noch nie dagewesene Umwälzung wie die in Russland vor sich gehende führen zu können, bedarf es offensichtlich einer unlöslichen organischen Verbindung mit den Grundkräften des Volkslebens, einer Verbindung, die den Tiefen der Wurzeln entstammt.

Lenin verkörpert in sich das russische Proletariat, die junge Klasse, die politisch vielleicht nicht älter ist als Lenin selbst, eine tief nationale Klasse, denn in ihr findet sich die ganze vorangegangene Entwicklung Russlands zusammengefasst, in ihr liegt Russlands ganze Zukunft, mit ihr lebt und fällt die russische Nation. Das Fehlen von Routine und Schablone, von Falschheit und Konvention, Entschiedenheit im Denken, Wagemut im Handeln, ein Wagemut, der nie in Unverstand ausartet, kennzeichnet das russische Proletariat und zugleich auch Lenin.

Die Natur des russischen Proletariats, die es gegenwärtig zu der bedeutendsten Kraft in der internationalen Revolution gemacht hat, ist durch den Gang der russischen nationalen Geschichte vorbereitet worden, durch die barbarische Grausamkeit des absoluten Staates, die Bedeutungslosigkeit der bevorzugten Klassen, die fieberhafte Entwicklung des Kapitalismus auf der Hefe der Weltbörse, die Entartung der russischen Bourgeoisie und ihrer Ideologie, die Minderwertigkeit ihrer Politik. Unser „dritter Stand" kannte weder eine Reformation noch eine große Revolution und konnte sie auch nicht kennen. Einen um so umfassenderen Charakter gewannen die revolutionären Aufgaben des russischen Proletariats. Unsere Geschichte hat in der Vergangenheit weder einen Luther noch ein Thomas Münzer, weder einen Mirabeau noch einen Danton oder Robespierre gehabt. Gerade deshalb hat auch das russische Proletariat seinen Lenin. Was an Tradition gefehlt hat, wurde an revolutionärem Schwung gewonnen.

Lenin spiegelt in sich die russische Arbeiterklasse nicht nur in deren proletarischer Gegenwart, sondern auch in ihrer noch so frischen bäuerlichen Vergangenheit. Dieser Mann, dessen Führerschaft im Proletariat am wenigsten bestritten wird, sieht nicht nur äußerlich einem Bauer ähnlich, sondern hat auch etwas stark Bäuerliches in sich. Vor dem Smolny-Institut steht das Denkmal eines anderen großen Mannes des Weltproletariats: Marx, in schwarzem Gehrock, auf einem Stein. Gewiss ist dies eine Kleinigkeit, aber nicht einmal in Gedanken kann man sich Lenin in einem schwarzen Gehrock vorstellen. Auf einigen Porträts ist Marx in einem breiten gestärkten Vorhemd abgebildet, auf dem so etwas von der Art eines Monokels baumelt Dass Marx nicht zur Koketterie neigte, ist allen jenen klar, die einen Begriff von Marxschem Geiste haben. Aber Marx ist auf einem anderen Boden nationaler Kultur aufgewachsen, hat in einer anderen Atmosphäre gelebt, wie auch die führenden Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterklasse mit ihren Wurzeln nicht in das Dorf zurückreichen, sondern in das Handwerk und die komplizierte städtische Kultur des Mittelalters.

Auch der Stil von Marx, der reich und schön ist, in dem Kraft und Biegsamkeit, Zorn und Ironie, Rauheit und Eleganz mit einander gepaart sind, verrät die literarischen und ethischen Schichtungen der ganzen vorangegangenen sozialpolitischen deutschen Literatur seit der Reformation und noch weiter zurückreichend. Der literarische und oratorische Stil Lenins ist furchtbar einfach, asketisch wie sein ganzes Wesen. Aber dieses machtvolle Asketentum hat auch nicht den Schatten von Moralpredigt an sich. Es ist dies kein Prinzip, kein erdachtes System und gewiss schon keine Ziererei, sondern einfach der äußere Ausdruck einer verinnerlichten Konzentrierung der Kräfte für die Tat.

Es ist dies eine wirtschaftliche, dem Bauern eigentümliche Sachlichkeit, allerdings in einem Riesenmaßstabe.

Der ganze Marx ist im „Kommunistischen Manifest", im Vorwort zu seiner „Kritik", im „Kapital" enthalten. Auch wenn er nicht der Gründer der 1. Internationale gewesen wäre, würde er stets das geblieben sein, was er ist. Lenin dagegen geht ganz in der revolutionären Tat auf. Seine wissenschaftlichen Arbeiten bedeuten nur eine Vorbereitung zur Tat. Hätte er in der Vergangenheit auch nicht ein einziges Buch veröffentlicht, so würde er in der Geschichte dennoch als das erscheinen, was er jetzt ist, als Führer der proletarischen Revolution, als Begründer der 3. Internationale.

Ein klares wissenschaftliches System – die materialistische Dialektik -- ist notwendig, um Taten von einem solchen historischen Ausmaß verrichten zu können, wie sie zu verrichten Lenin zugefallen sind. Diese materialistische Dialektik ist notwendig, aber nicht genügend. Hier ist noch jene geheime schöpferische Kraft erforderlich, die wir Intuition nennen: die Fähigkeit, Erscheinungen sofort richtig zu erfassen, das Wesentliche und Wichtige vom Unwesentlichen und Unbedeutenden zu trennen, die fehlenden Teile des Bildes sich vorstellen zu können, Gedanken für andere und in erster Linie für die Feinde zu Ende zu denken, dies alles zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufassen und in dem Augenblick, wo die „Stoßformel" in seinem Hirn ersteht, den Schlag zu führen. Es ist dies die Intuition zur Tat. Auf der einen Seite fällt sie mit dem zusammen, was wir mit Scharfsinn bezeichnen.

Wenn Lenin, das linke Auge zusammengekniffen, einen Funkspruch entgegennimmt, in dem die Parlamentsrede eines Lenkers der imperialistischen Geschichte oder die fällige diplomatische Note mitgeteilt wird, – die Mischung blutgieriger Hinterhältigkeit und polierter Heuchelei – sieht er einem verteufelt klugen Bauern ähnlich, der sich durch keine Worte irre machen, durch keine Phrasen betören lässt. Es ist dies eine hoch potenzierte, bis zur Genialität gesteigerte Bauernschlauheit, ausgerüstet mit dem letzten Wort des wissenschaftlichen Gedankens.

Das junge russische Proletariat vermochte das zu vollbringen, was nur die Bauernschaft zu vollbringen vermag, die die schwere unberührte Erdscholle urbar macht. Unsere ganze nationale Vergangenheit hat der Vorbereitung dieser Tatsache gedient. Aber gerade weil das Proletariat durch den Gang der Ereignisse zur Macht gelangte, hat unsere Revolution mit einem Mal und radikal die nationale Beschränktheit und provinziale Rückständigkeit der früheren russischen Geschichte zu überwinden vermocht. Sowjet-Russland ist nicht nur der Zufluchtsort der Kommunistischen Internationale, sondern auch die lebendige Verkörperung ihres Programms und ihrer Methoden.

Auf den unbekannten, von der Wissenschaft noch nicht erforschten Wegen, auf denen die Persönlichkeit des Menschen ihre Gestaltung erhält, hat Lenin dem Nationalen alles das entnommen, was er für die in der Geschichte der Menschheit gewaltigste revolutionäre Handlung benötigte. Gerade weil die soziale Revolution, die schon lange ihren internationalen theoretischen Ausdruck hat, in Lenin zum ersten Mal ihre nationale Verkörperung findet, wurde er im wahren Sinne des Wortes zum revolutionären Führer des Weltproletariats. Als solcher vollendet er sein 50. Lebensjahr.

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