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Leo Trotzki 19200529 Die Pariser Kommune und Sowjetrussland

Leo Trotzki: Die Pariser Kommune und Sowjetrussland

[Auszug aus „Terrorismus und Kommunismus“, nach Die Aktion, 10. Jahrgang 1920, Heft 29/30, 24. Juli 1920, S. 393-396]

Die Pariser Kommune des Jahres 1871 war der erste, noch schwache historische Versuch der Herrschaft. der Arbeiterklasse. Wir schätzen das Gedenken der Kommune ungeachtet der äußersten Beschränktheit ihrer Erfahrung, der schlechten Vorbereitung ihrer Teilnehmer, der Unklarheit ihres Programms, des Mangels an Einigkeit unter den Führern, der Unentschlossenheit der Pläne, der hoffnungslosen Verwirrung bei der Ausführung und des schrecklichen, durch dieses alles fatal bedingten Zusammenbruches. Wir schätzen in der Kommune, nach dem Ausdruck Lawrows, „die erste, wenn auch überaus bleiche Morgenröte der Republik des Proletariats". Ganz anders Kautsky. Nachdem er einen bedeutenden Teil seines Buches („Terrorismus und Kommunismus") der grob tendenziösen Gegenüberstellung von Kommune und Sowjetmacht gewidmet hat, sieht er die Hauptvorzüge der Kommune darin, worin wir ihr Unglück und ihre Schuld sehen.

Kautsky beweist eifrig, dass die Pariser Kommune von 1871 nicht „künstlich" vorbereitet worden, sondern unerwartet entstanden sei und die Revolutionäre überrascht habe – im Gegensatz zur Novemberrevolution, die unsere Partei sorgfältig vorbereitet habe. Das ist unbestreitbar. Da er sich nicht entschließen kann, seine tief reaktionären Gedanken klar zu formulieren, sagt Kautsky nicht direkt, ob die Pariser Revolutionäre von 1871 dafür, dass sie den proletarischen Aufstand nicht vorhergesehen haben und sich zu ihm nicht vorbereiten konnten, Anerkennung verdienen, und ob wir dafür, dass wir das Unvermeidliche voraussahen und ihm bewusst entgegentraten, getadelt werden müssen. Jedoch die ganze Auslegung Kautsky ist so aufgebaut, dass bei dem Leser gerade diese Vorstellung hervorgerufen wird. Über die Kommunarden war einfach ein Unglück hereingebrochen (der bayrische Philister Vollmar drückte einst sein Bedauern aus, dass die Kommunarden nicht schlafen gegangen sind, anstatt die Macht an sich zu nehmen.) – und deshalb verdienen sie Nachsicht; die Bolschewiki sind dem Unglück der Eroberung der Macht bewusst entgegengetreten, und deshalb wird ihnen weder in dieser noch in jener Welt verziehen werden. Eine solche Fragestellung kann ihrem inneren Widerspruch nach unglaubwürdig erscheinen. Dessen ungeachtet folgt sie unvermeidlich aus der Position der „unabhängigen" Kautskyaner, die den Kopf in die Schultern ziehen, um nichts zu sehen und nicht vorauszusehen, und die nur dann einen Schritt vorwärts tun, wenn sie vorher einen guten Puff in den Rücken bekommen haben.

Paris zu erniedrigen – schreibt Kautsky –, ihm jede Selbstverwaltung vorzuenthalten, ihm seine Stellung als Hauptstadt zu rauben, endlich es zu entwaffnen, um in voller Sicherheit den monarchistischen Staatsstreich wagen zu können, das wurde die wichtigste Sorge der Nationalversammlung und des von ihr erwählten Chefs der Exekutive, Thiers. Aus dieser Situation entstand der Konflikt, der zum Ausbruch der Pariser Insurrektion führte. Man sieht, wie ganz anderer Art sie war als der Staatsstreich des Bolschewismus, der aus dem Friedensbedürfnis seine Kraft zog, der die Bauern hinter sich hatte, der in der Nationalversammlung keine Monarchisten sich gegenübersah, sondern Sozialrevolutionäre und menschewistische Sozialdemokraten."

Die Bolschewiki kamen zur Macht durch einen wohl vorbereiteten Staatsstreich, der ihnen mit einem Schlage die gesamte Staatsmaschinerie auslieferte, die sie sofort aufs energischste und rücksichtsloseste zur politischen und ökonomischen Enteignung ihrer Gegner – aller ihrer Gegner, auch der proletarischen – ausnützten. Durch die Erhebung der Kommune wurde dagegen niemand mehr überrascht als die Revolutionäre selbst. Und einem großen Teil unter ihnen kam der Konflikt äußerst unerwünscht. (S. 44.)

Um uns den wirklichen Sinn dessen, was Kautsky hier über die Kommunarden sagt, besser klarzumachen, wollen wir folgendes interessante Zeugnis anführen:

„…Am 1. März 1871“ – schreibt Lawrow in seinem sehr lehrreichen Buche über die Kommune – „ein halbes Jahr nach dem Fall des Kaiserreiches und einige Tage vor dem Ausbruch der Kommune, hatten die leitenden Persönlichkeiten der Pariser Internationale dennoch kein bestimmtes politisches Programm…“1

Nach dem 18. März“ – schreibt derselbe Verfasser – „war Paris in den Händen des Proletariats, seine Führer aber, die durch die unerwartete Macht die Geistesgegenwart verloren hatten, ergriffen nicht einmal die elementarsten Maßnahmen."2

Ihr seid eurer Rolle nicht gewachsen und eure einzige Sorge ist es, euch von der Verantwortung freizumachen," sagt ein Mitglied des Zentralkomitees der Nationalgarde. „Darin liegt viel Wahrheit – schreibt der Teilnehmer und Historiker der Kommune Lissagaray –, aber im Augenblick der Handlung selbst macht sich der Mangel an vorheriger Organisation und Vorbereitung sehr häufig dadurch bemerkbar, dass den Menschen eine Rolle zufällt, die ihre Kräfte übersteigt."3

Hieraus ist bereits ersichtlich (weiterhin wird das noch klarer werden), dass das Fehlen eines direkten Kampfes um die Macht von Seiten der Pariser Sozialisten durch ihre theoretische Formlosigkeit und politische Verwirrung zu erklären war und durchaus nicht durch höhere taktische Erwägungen.

Man braucht daran nicht zu zweifeln, dass die Treue Kautskys selbst in Bezug auf die Traditionen der Kommune hauptsächlich in der außerordentlichen Verwunderung bestehen wird, mit der er dem proletarischen Umsturz in Deutschland als einen im höchsten Grade unerwünschten Konflikt begegnen wird. Wir zweifeln jedoch, daran, dass ihm dies von den Nachkommen als Verdienst angerechnet werden wird. In Bezug auf das Wesen seiner historischen Analogie aber müssen wir sagen, dass sie ein Gemisch von Konfusion, Verschweigungen und Täuschungen vorstellt.

Die Absichten, die Thiers in Bezug auf Paris hatte, hatte Miljukow, der von Zeretelli und Tschernow offen unterstützt wurde, in Bezug auf Petersburg. Sie alle – von Kornilow bis Potressow – wiederholten tagaus tagein, dass sich Petersburg vom Lande losgerissen habe, dass es mit ihm nichts gemein habe, dass es total demoralisiert sei und danach strebe, dem Lande seinen Willen aufzuzwingen. Petersburg absetzen und erniedrigen, das war die erste Aufgabe Miljukows und seiner Gehilfen, Und das fand in einer Periode statt, als Petersburg der wirkliche Mittelpunkt der Revolution war, die sich in den übrigen Teilen des Landes noch nicht hatte befestigen können. Der frühere Vorsitzende der Duma, Rodsjanko, sprach offen davon, Petersburg den Deutschen zur Dressur zu übergeben, ähnlich wie Riga übergeben worden war. Rodsjanko nannte nur das beim Namen, was die Aufgabe Miljukows war, und was Kerenski durch seine ganze Politik förderte.

Miljukow wollte, wie auch Thiers, das Proletariat entwaffnen. Mehr als das, mit Hilfe von Kerenski, Tschernow und Zeretelli wurde das Petersburger Proletariat im Juli 1917 in bedeutendem Maße entwaffnet. Es bewaffnete sich teilweise wieder während des Kornilowschen Vormarsches auf Petersburg im August. Und diese neue Bewaffnung war ein ernstes Element der Vorbereitung zum Novemberaufstand. Demgemäß fallen gerade die Punkte, in denen Kautsky unserer Novemberrevolution den Märzaufstand der Pariser Arbeiter entgegenstellt, in bedeutendstem Maße zusammen.

Worin jedoch besteht der Unterschied zwischen ihnen? Vor allem darin, dass die schändlichen Pläne Thiers gelangen, dass Paris von ihm erwürgt wurde, viele Tausende von Arbeitern vernichtet wurden. Miljukow dagegen erlitt eine schimpfliche Niederlage, Petersburg blieb die unbezwingbare Feste des Proletariats, und der Führer der Bourgeoisie fuhr in die Ukraine, um für die Okkupation Russlands durch die Truppen des Kaisers Sorge zu tragen. In diesem Unterschiede liegt ein bedeutender Teil unserer Schuld, und wir sind bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ein kapitaler Unterschied bestand auch darin – und das zeigte sich bei der weiteren Entwicklung der Ereignisse –, dass, während die Kommunarden vorwiegend von patriotischen Erwägungen ausgingen, wir uns unabänderlich vom Gesichtspunkte der internationalen Revolution leiten ließen. Die Zertrümmerung der Kommune führte zum tatsächlichen Zusammenbruch der Ersten Internationale. Der Sieg der Sowjetmacht führte zur Gründung der Dritten Internationale. Aber Marx rief die Kommunarden – kurz vor dem Umsturz – nicht zum Aufstand, sondern zur Schaffung einer Organisation! Man könnte es noch verstehen, wenn Kautsky dieses Zeugnis anführen würde, um zu beweisen, dass Marx die Zugespitztzeit der Lage in Paris nicht klar genug übersehen hat. Kautsky aber versucht den Rat Marxens als Beweis dessen auszubeuten, dass Aufstände überhaupt tadelnswert seien. Wie alle Bonzen der deutschen Sozialdemokratie sieht Kautsky in der Organisation vor allem ein Mittel, revolutionäre Aktionen zu verhindern.

Aber sogar wenn man sich auf die Frage der Organisation als solche beschränkt, so muss man nicht vergessen, dass der Novemberrevolution neun Monate der Regierung Kerenskis vorausgegangen waren, während der unsere Partei nicht ohne Erfolg nicht nur Agitation betrieben, sondern sich auch mit Organisation beschäftigt hatte. Der Novemberumsturz vollzog sich, nachdem wir in den Arbeiter- und Soldatensowjets von Petersburg, Moskau und allen Industriezentren des Landes überhaupt eine erdrückende Mehrheit erobert und die Sowjets in machtvolle, von unserer Partei geleitete Organisationen verwandelt hatten. Die Kommunarden hatten nichts Ähnliches aufzuweisen. Endlich hatten wir hinter uns die heldenhafte Pariser Kommune, aus deren Zusammenbruch wir für uns den Schluss zogen, dass Revolutionäre die Ereignisse voraussehen und sich zu ihnen vorbereiten müssen. Dies ist ebenfalls unsere Schuld.

1 „Die Pariser Kommune vom 18. März 1871." P. L. Lawrow. Verlagsgesellschaft „Kolos", Petersburg 1919. Seite 64-65.

2 Ibid. Seite 71.

3 „Histoire de la Commune de 1871" par Lissagaray. Bruxelles 1876, Seite 106.

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