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Leo Trotzki 19201219 Ein neuer Zeitabschnitt – neue Aufgaben

Leo Trotzki: Ein neuer Zeitabschnitt – neue Aufgaben.

[Nach Russische Korrespondenz, II. Jahrgang, Heft 1/2, Januar-Februar 1921, S. 43-47]

Zwei Arten von Fragen lenken gegenwärtig die Aufmerksamkeit der Partei auf sich: Arbeiterdemokratie und wirtschaftlicher Aufbau.

Das Wort Demokratie, mit dem eine bestimmte Staatsordnung bezeichnet wird, wird in diesem Falle völlig ungenau zur Bestimmung eines Regimes der Selbsttätigkeit der werktätigen Massen in den Partei-, Gewerkschafts- und Räteorganisationen verwendet. Dies kann, insbesondere im Auslande, zu Missverständnissen Anlass geben, wo die Menschewiki und Kautskyaner sich bemühen werden, aus dem Missbrauch der Terminologie unserer Parteidiskussionen ein wenn auch bescheidenes Kapital zu schlagen. Da das Wort Demokratie aus Ermangelung eines geeigneteren bereits in Umlauf gesetzt ist, muss man selbst genau im Auge behalten und die anderen daran erinnern, dass es sich nicht um die formale Demokratie handelt, die durch einen komplizierten und genau durchdachten Ritus die Souveränität der Massen, die Verantwortlichkeit der Oberen gegenüber den Massen usw. vortäuschen sollte, und in Wirklichkeit die eigennützige Diktatur einer ausbeuterischen Minderheit gegenüber der werktätigen Mehrheit verhüllte. Unter Arbeiter- oder Räte„demokratie" verstehen wir eine tatsächliche und ständig anwachsende Teilnahme des werktätigen Volkes am Aufbau der neuen Gesellschaft, wobei diese von einem einheitlichen Ziel geleitete Aufbauarbeit der Massen allmählich den Abstand überwinden wird, der zwischen, den fortgeschrittensten und den rückständigsten Teilen der Werktätigen selbst besteht.

Wenn jedoch das Bedürfnis entstanden ist, die Bezeichnung „Arbeiterdemokratie" in Umlauf zu setzen, ohne sich mit der allgemeinen Bezeichnung Räteordnung zu begnügen, so ist dies darauf zurückzuführen, dass das Räteregime während seines mehr als dreijährigen Bestehens, in Abhängigkeit von den äußeren, zum Teil auch von den inneren Verhältnissen, bald eine Einschränkung erfuhr, bald sich ausbreitete und die unmittelbare Mitwirkung der Räteorgane an der Lösung der wichtigsten laufenden Fragen in gewissen Momenten auf ein Mindestmaß beschränkte. Ohne Zweifel war diese zeitweilige Selbstbeschränkung ein Zeichen der außerordentlichen Lebensfähigkeit und Elastizität der Räteordnung, die überall und jederzeit nicht ein Regime der Form, sondern ein Regime des Wesens ist. Die Beschränkung der von der kommunistischen Partei geleiteten Räteorganisationen war bedingt durch die außergewöhnlich schwierige internationale militärische Lage, und diese Beschränkung erfolgte und blieb gerade deshalb bestehen, weil die Masse der Partei ihre Bedeutung und Unvermeidlichkeit erkannt hatte und sie bewusst durchführte.

Gerade aus diesem selben Grunde war die Partei, als die Frontfrage, d. h. die Frage vom Sein oder Nichtsein der Räterepublik ihre Schärfe verlor, sich sofort darüber klar, dass unverzüglich alle inneren Kräfte und Mittel erfasst und zur Lösung der nächstliegenden Aufgaben entsprechend gruppiert werden müssten Wenn die Entscheidung der Frage vom Sein oder Nichtsein Sowjetrusslands zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Höchstmaß von Konzentration des Partei- und Staatswillens erforderte, so kann die Frage nach der Zukunft Sowjetrusslands nur gelöst werden durch die größtmögliche Aktivität der Partei, ihre engste Fühlungnahme mit den Massen, durch Berücksichtigung ihrer Erfahrungen und Stimmungen, durch Entwicklung der Selbsttätigkeit und der schöpferischen Kräfte von Millionen Arbeitern und Bauern. In diesem Übergang von einem Zeitabschnitt zum andern liegt der Sinn jener Losung von der Arbeiterdemokratie begründet, die gegenwärtig die Partei beschäftigt. Es handelt sich durchaus nicht um eine Revision des Parteistatuts oder der Rätekonstitution. Das Statut unserer Partei ist vom Geiste des demokratischen Zentralismus voll durchdrungen. Dies bedeutet, dass die Formen und Methoden der zentralistischen Oberleitung, von unten, von der Partei selbst bestellt werden. Gegenwärtig will die Partei ihre Kontrolle über die erwählten Organe direkter und aktiver gestalten, die Anteilnahme der Massen an dieser Kontrolle verstärken. Den äußeren Ausdruck für die Belebung der Arbeiterdemokratie müssen bilden und bilden bereits häufigere Massenversammlungen, die Diskussion aller grundlegenden Fragen, eine häufigere Anwendung des Systems der Wählbarkeit, Kritiken, Diskussionen, ausführlichere und unmittelbare Beleuchtung aktueller Fragen durch die Presse usw. usw. Unter diesem Zeichen tritt der Parteitag zusammen.

Die Arbeiterdemokratie ist jedoch, wie gesagt, nicht eine Demokratie der Form, sondern eine solche des Wesens. Versammlungen, Diskussionen, Polemiken, Konferenzen, Kongresse, Wahlen – dies alles sind letzten Endes Formen, die die Gedanken und den Willen der Massen zum Ausdruck bringen sollen. Was wird aber allen diesen Formen Inhalt verleihen? Welche Fragen und Aufgaben müssen gegenwärtig im Mittelpunkt des Parteilebens und somit auch der Versammlungen, Diskussionen, Konferenzen und Wahlen stehen? Ohne Zweifel: Fragen des Wirtschaftslebens im Lande.

Es handelt sich nicht nur darum, dass unsere Zeitungen, die Partei- und sonstigen Versammlungen sich mit Darlegungen über den einheitlichen Wirtschaftsplan, über Konzessionen, die staatliche Regelung der Landwirtschaft u. a. zu befassen. Eine solche literar-politische Mobilmachung der öffentlichen Meinung aus Anlass verschiedener, darunter auch wirtschaftlicher, Fragen ist dem Regime der bürgerlichen Demokratie gleichfalls eigen. Wir müssen unsere Aufgabe tiefer auffassen. Erforderlich ist eine innere Umgruppierung der Kräfte der Rätedemokratie und deren wirtschaftliche Neuorientierung, richtiger deren Neuerziehung auf dem Gebiete der Produktion. Schon wiederholt haben wir uns umstellen und den auf der Tagesordnung stehenden historischen Aufgaben anpassen müssen. Die letzten drei Jahre waren fast ausschließlich eine Zeit militärischer Auslese, militärischer Erziehung. Die Partei zog in jedem einzelnen ihrer Mitglieder nicht nur den Willen zum Siege groß, sondern gruppierte, suchte und wählte die Mitarbeiter ausschließlich unter dem Gesichtswinkel der alles andere in den Hintergrund rückenden Sorge um die Front. Dieser militärische Aufbau der Partei – ohne Verletzung ihres kommunistischen Wesens – ist eines der größten Wunder der Geschichte.

Die Erziehung unserer militarisierten Arbeiterdemokratie (denn unserem militärischen Aufbau lag zweifellos eine, in ihrem äußeren Ausdruck zwar beschränkte, Selbständigkeit der Arbeiter zugrunde) bildete bloß eine Übergangsepisode gegenüber jener nun beginnenden Epoche der Erziehung zur Produktion. Der Aufbau einer einheitlichen sozialistischen Wirtschaft ist seinem Wesen nach eine bestimmte Erziehung der Menschen für die Wirtschaft. Selbst tüchtige Kommunisten, die in eine schlechte und schwache Truppe kamen, haben wiederholt versagt und wurden von der Welle der Panik mit fortgerissen. Der Wille zur Wirtschaft allein genügt nicht, ebenso wie der Wille zum Siege nicht genügt. Gewisse Gewöhnungen, individuelle und kollektive Methoden, eine bestimmte Gruppierung der Menschen ist notwendig, die unter dem Gesichtswinkel der Wirtschaft erfolgt und vervollkommnet wird. Gewiss werden bestimmte, von zehntausenden Parteimitgliedern beim Militärdienst erworbene Fertigkeiten in der Wirtschaft ihre Verwendung finden und haben sie bereits gefunden: die Gewohnheit, in großem Maßstabe zu arbeiten, das Verständnis für die Rolle und Bedeutung in Einklang gebrachter Massenanstrengungen, für Exaktheit und strenge Verantwortlichkeit. Diese Züge und Gewohnheiten müssen ihre wirtschaftliche Verwendung streng im Einklang mit dem Charakter der Produktion und ihren inneren Bedürfnissen finden. Die Erziehung zur Produktion ist eine ungleich größere, gewaltigere Aufgabe, als die der militärischen Erziehung. Die Armee belegte Millionen mit Beschlag für einige Jahre; die Wirtschaft umfasst dutzende und hunderte Millionen Menschen und erfordert von ihnen die größte Kraftanstrengung während der ganzen bevorstehenden Epoche.

Die Erziehung der Millionen durch die Partei (die Produktionspropaganda ist bloß ein Bestandteil dieser Arbeit) ist nur dann erfolgreich möglich, wenn wir uns selbst neu erziehen. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass, da die Arbeiterklasse eine erzeugende Klasse ist, die Erziehung zur Produktion und der Produktionsstandpunkt allen Arbeitern geläufig sein muss. Es ist das ein großer Irrtum. Die Arbeitermassen sind an die automatische Produktion gewöhnt, hatten aber unter dem Kapitalismus nie die Möglichkeit, ihren aktiven Geist und Willen in die Produktion zu verpflanzen. Nunmehr sind sie durch den Gang der Ereignisse auch von der automatischen Produktion ausgeschlossen. Was die fortgeschrittenere Arbeiterschicht anbelangt, so hat sie die Massen und sich selbst zum aktiven Kampf gegen das kapitalistische Produktionssystem erzogen. Genosse Sosnowski erklärte ganz richtig in einem seiner Referate, dass die Schule der illegalen Tätigkeit in der Revolution in gewissem Sinne und für eine gewisse Zeit nicht nur für die Massen, sondern in erster Linie für den Vortrupp der Arbeiterschaft selbst eine Schule der Produktionsfeindlichkeit war. Ein der Bedeutung der Produktion sich bewusster Arbeiter ist ein solcher, der sein Werkzeug, die Werkbank, die Fabrik, die Wirtschaft als Ganzes vom Standpunkt einer geregelten Gesamtproduktion, einer wissenschaftlichen Organisation der Erzeugung und einer Steigerung der Arbeitsleistung betrachtet. Ein solcher Arbeiter lehrt die Massen durch Wort und Tat, dass ihre Interessen als Konsumenten nur durch eine richtige Produktion gesichert werden können. Das Bestreben, Hunger, Kälte, Krankheiten und Unwissenheit zu beseitigen, muss zu einem bewussten Willen der Werktätigen werden, ihre Arbeiten auf die nötige Höhe zu bringen. Die Organisationsformen müssen in erster Linie unter dem Gesichtswinkel der Produktion bewertet werden. Ein der Bedeutung der Produktion sich bewusster Arbeiter, ein Organisator, ein Leiter, muss im Bewusstsein der werktätigen Bevölkerung in Stadt und Dorf eine ausschließliche Bedeutung erlangen.

Bei dieser grundlegenden, entscheidenden Arbeit auf dem Gebiete der Erziehung der Massen zur Produktion und der Auswahl tüchtiger, produktiver Kräfte für eine leitende Tätigkeit gebührt den Gewerkschaften der erste Platz. Erst jetzt erschließt sich den Industrieverbänden nach Beseitigung der Fronten und nach Übergang des Landes zur wirtschaftlichen Tätigkeit ein weites Feld für schöpferische Arbeit. Erst jetzt können die Gewerkschaften ihren wahren Zweck im Arbeiterstaat erfüllen, d. h. zu Organisationen werden, die die Arbeiter nicht nur nach den Industrien, sondern auch für die Produktion erfassen und sich die führende Rolle in der Produktion sichern. Dies setzt in den Gewerkschaften selbst, von der untersten Keimzelle an beginnend, eine Durchsetzung des Produktionsstandpunktes und die Auswahl der Mitarbeiter unter diesem Gesichtswinkel voraus.

Die Partei erzog den Arbeiter und Kämpfer auf Grund der Erfahrungen des Alltages. Sie rief an Hand von Kleinigkeiten des Fabriklebens im Arbeiter das Klassenbewusstsein wach, formulierte seinen Hass gegenüber dem Ausbeuter und der Ausbeutung, arbeitete unermüdlich und hartnäckig an einer Erweiterung seines Gesichtskreises und stählte seinen Willen. Die Partei predigte ihm Unversöhnlichkeit nicht nur gegenüber den Verrätern, sondern auch gegenüber den schwankenden Gestalten. Indem die Partei dies tat, schuf sie sich selbst.

Die Partei erzog während der letzten zwei bis drei Jahre den kommandierenden Arbeiter, den Kommissar, das Mitglied der Roten Armee. Den Willen zum revolutionären Sieg brachte sie mit einem bestimmten Militärsystem in Verbindung. Sie überwand die Beschränktheit des Freischärlertums und erweiterte die Erkenntnis der fortgeschrittenen Teile innerhalb der Roten Armee so weit, dass diese in allgemein-staatlichem und internationalem Maßstabe zu denken vermochten. Nunmehr muss damit begonnen werden, den Typus eines Wirtschaftlers und Erzeugers, eines Baumeisters für das kommunistische Russland zu schaffen, zu erziehen und in den Vordergrund zu stellen. Diese Arbeit soll und muss ihrem ganzen Wesen nach auf ungleich breiterer Massenbasis als die militärische Arbeit erfolgen. Die Aufgabe besteht nicht nur darin, auf Parteiwegen Tausende und Zehntausende von Mitarbeitern zur Verstärkung der Industrieverbände und Wirtschaftsorgane ausfindig zu machen und auszuwählen. Es ist dies ein sehr wichtiger Teil der Aufgabe. Aber nur ein Teil. Notwendig ist – und dies ist das Wesen der Frage – die Massen zu lehren, diesen Wirtschaftler und Erzeuger auf einen verantwortungsvollen Posten zu stellen und ihn bei seiner grundlegenden Aufgabe, der Steigerung der materiellen Hilfsquellen des Landes, zu unterstützen. Die Frage der Ernennungen wird in der Praxis und in der Diskussion um so weniger Raum einnehmen, je mehr die Gewerkschaften sich selbst und die Masse mit dem Kriterium der Produktivität durchdringen werden.

Hierauf muss die ganze Aufmerksamkeit der fortgeschrittenen Arbeiter gelenkt werden. Wenn unsere internationale Lage günstigere Bedingungen für die Entwicklung der Arbeiterdemokratie schafft, so erfordern die Wirtschaftslage im Innern und der ganze Sinn des Räteregimes, dass unsere Demokratie zu einer Produktionsdemokratie wird, und diese Notwendigkeit zeugt dafür, dass der Rätestaat sich zur kommunistischen Gesellschaft entwickeln wird.

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