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Leo Trotzki 19201225 Leitsätze zur Gewerkschaftsfrage (Auszug)

Leo Trotzki: Leitsätze zur Gewerkschaftsfrage (Auszug)

[Nach Die Internationale, 3. Jahrgang (1921), Heft 1, S. 22-25]

Unsere Gewerkschaftsverbände durchleben eine schwere Krisis. Eine der unbestreitbarsten Ursachen dieser Krisis bildet die Schwächung und Lähmung der Gewerkschaftsverbände infolge der schweren Opfer, die sie während der ganzen Zeit des Bürgerkrieges zu tragen hatten.

Die übermenschliche Anspannung aller Kräfte, die der Krieg von der Arbeiterklasse forderte, wirkte mit unausbleiblicher Notwendigkeit lähmend auf die Selbsttätigkeit der Arbeiterorganisationen, darunter auch der Gewerkschaftsverbände. Die Methoden der Arbeiterdemokratie (Behandlung der brennenden Fragen in der breiten Öffentlichkeit, Kritik, Ideenkampf, Wahlprinzip u. a.) waren in dieser Zeit auf ein Minimum beschränkt.

Die Hauptursache der Gewerkschaftskrisis liegt in der Nichtübereinstimmung zwischen den Aufgaben, die unseren Gewerkschaftsverbänden auf dem gegebenen Entwicklungsstadium objektiv erwachsen, und denjenigen Denk- und Arbeitsgewohnheiten und Methoden, von denen die Gewerkschaften, hierin Erben der Vergangenheit, beherrscht werden. Das Missverhältnis zwischen der Gewerkschaft, wie sie ist, und der Gewerkschaft, wie sie sein soll, ist gegenwärtig zum stärksten Widerspruch innerhalb des Arbeiterstaates geworden. Solange wir dieses Widerspruches nicht Herr geworden sind, vermögen wir auf dem Wirtschaftsgebiete keinen ernstlichen Schritt nach vorwärts zu tun.

[Genosse Trotzki zitiert das Programm der K.P.R. und findet, dass wir uns in der letzten Periode dem im Programm vorgesehenen Ziel in der Praxis nicht genähert, sondern uns von ihm entfernt haben. Ginge die Entwicklung auf diesem Wege weiter, so würde dies eine sehr große Gefahr sowohl für die Gewerkschaften, wie überhaupt für die Wirtschaft bedeuten.]

In der bürgerlichen Gesellschaft vereinigten die Gewerkschaften die Arbeiterklasse zum Kampf für die Verbesserung der Lage der Arbeitenden, sodann zur Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise durch die revolutionäre Tat.

In der Kerenski-Epoche gingen die Gewerkschaften zur Kontrolle der Industrie über; dies war eine der Formen des Kampfes, der zwischen Arbeit und Kapital tobte.

Nach dem Oktoberumsturz schied die Arbeiterklasse, vor allem durch Vermittlung der Gewerkschaften, primitive Organe aus zur Beherrschung der nationalisierten Unternehmen. Diese Bewegung hat, ohne hinreichenden Grund die Bezeichnung eines elementaren Syndikalismus erhalten. In Wirklichkeit haben die Arbeitermassen in dieser ersten Zeit der Revolution mit eben denselben Mitteln der halb-elementaren Massenschöpfung staatliche Räteorgane, den Wirtschaftsapparat, Armeen und anderes geschaffen.

Das, was in der bürgerlichen Gesellschaft das Wesen der Gewerkschaft ausmacht, ist fortgefallen; im Arbeiterstaate kann der Gewerkschaftsverband keinen wirtschaftlichen Klassenkampf führen, andererseits ist die Anteilnahme der Gewerkschaften am Wirtschaftsaufbau in dem Maße immer beschränkter, systemloser und oberflächlicher geworden als die Wirtschaftsorgane, die sich von den Gewerkschaften losgelöst hatten sich immer selbständiger entwickelten, die ihnen notwendigen Arbeiter aufnahmen und ihren Apparat ein- und umschalteten. Gerade daraus ist die tiefe Krisis in unserer Gewerkschaftsbewegung entsprungen, gerade das gab den Boden ab zum Anwachsen dieser Krisis.

Das Abrücken der Gewerkschaften von der tätigen und verantwortlichen Aufbauarbeit begünstigte außerordentlich die Entwicklung einer konservativ-gewerkschaftlichen Gesinnung unter den führenden Gewerkschaftsbeamten.

Die Gewerkschaften sind während der drei abgelaufenen Jahre des Sowjetregimes in weit geringerem Maße als alle übrigen Organisationen des Arbeiterstaates, Veränderungen in ihrer Struktur, ihren Arbeitsmethoden und in den Personen ihrer leitenden Organe unterworfen worden. Nachdem sie ihre alte Existenzgrundlage, die der wirtschaftliche Kampf bildete, verloren hatten, waren die Gewerkschaften aus einer Reihe von Gründen außerstande, die nötigen Kräfte in ihre Reihen zu ziehen und die erforderlichen Methoden auszuarbeiten, die sie zur Lösung der neuen Aufgabe zu befähigen vermocht hätten, vor die sie durch die proletarische Revolution gestellt worden waren und die in unserem Programm ihre Formulierung gefunden hat: zur Organisierung der Produktion.

Im Arbeiterstaate kann es keine in organisatorischer Hinsicht von einander abgesonderten Spezialisten für die Organisierung der Produktion einerseits und für die Gewerkschaftsbewegung andererseits geben Als allgemein gültiges Prinzip muss anerkannt werden, dass jeder, der für die sozialistische Produktion gebraucht wird, schon dadurch für die Gewerkschaft unentbehrlich ist und umgekehrt, dass jeder wertvolle Gewerkschaftsarbeiter sowieso an der Organisierung der Produktion teilnehmen muss.

Die Konzentrierung der gesamten Produktionsverwaltung in den Händen der Gewerkschaften, wie sie unser Programm fordert, bedeutet die planmäßige Umgestaltung der Gewerkschaften zu Apparaten des Arbeiter-Staates und die allmähliche Verschmelzung der Gewerkschafts- mit den Wirtschaftsorganen. Nicht um eine formelle Proklamierung der Gewerkschaften zu staatlichen Organen handelt es sich, sondern um ihre tatsächliche Umwandlung zu Produktionsorganisationen, die jeden Industriezweig allseitig umfassen und für die Interessen sowohl der Produktion als auch der Produzenten verantwortlich sind.

Die Aufgabe besteht sonach nicht in einer Revision der programmatischen Voraussetzungen in der Gewerkschaftsfrage, sondern darin, tatsächlich einen neuen Schritt auf dem Wege der Verwirklichung des Prinzips zu tun, das von der Partei anerkannt und in ihrem Programm erhärtet ist

Während des Jahres, das seit dem IX. Parteikongress verflossen ist, haben die wirtschaftlichen Organisationen einen bedeutenden Schritt vorwärts gemacht. Auf einzelnen Gebieten der Produktion sind gewichtige Resultate erzielt worden. Das Problem der Aufstellung eines einheitlichen Wirtschaftsplanes nimmt immer bestimmtere praktischere Formen an. Indes kommt dies innerhalb der Gewerkschaften fast überhaupt nicht zum Ausdruck. Da die allgemeine Richtlinie der Entwicklung im Sinne einer allmählichen Verschmelzung der Gewerkschafts- mit den Produktionsorganen für alle unbestreitbar feststeht, so ist es sonnenklar, dass jede Etappe auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Entwicklung gleichzeitig eine neue Etappe auf dem Wege der Zusammenschweißung der Gewerkschaften mit den Wirtschaftsorganen sein muss. Solange dies nicht erreicht ist, wird sich die Krisis immerwährend verschärfen.

Wenn die Frage richtig gestellt wird, so ergibt sich mit Gewissheit, dass die Organisierung der Arbeit im Arbeiterstaat einzig und allein auf der Produktion fußen und nur in ihr gipfeln kann. Mit anderen Worten, die Organisation der Arbeit und die der Produktion müssen in eins zusammenfallen. Daher auch die allmähliche „Verschmelzung" der gewerkschaftlichen mit den Wirtschaftsapparaten. Dies ist, wie wir gesehen haben, der Standpunkt des Parteiprogramms.

Die Umwandlung der Gewerkschaftsverbände in Produktionsverbände — nicht nur den Namen, sondern dem Arbeitsinhalt nach — stellt die riesenhafte Aufgabe der Epoche dar, in die wir eintreten. Der Gewerkschaftler darf in sich nicht einen Fürsprecher für die Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeiter sehen, sondern einen Organisator, der die Werktätigen für die Produktion auf der Grundlage einer immer mehr sich vervollkommenden Technik organisiert.

Im Arbeiterstaat hat die Gewerkschaft nur insoweit Sinn und Daseinsberechtigung, inwieweit sie tatsächlich über die Produktion gebietet, indem sie alle Produzenten in ihre Reihen zieht, die Organisation, die Mechanisierung der Arbeit verbessert, die Produktivität erhöht und auf diese Weise die materielle Lage der Arbeitenden und ihr geistiges Niveau hebt.

Die gesamte übrige Tätigkeit der Gewerkschaften, sei es auf dem Gebiete der Aufklärung, sei es auf militärischen oder anderen Gebieten, vollzieht sich ohne Störung ihres Grundcharakters von Produktionsorganisationen der Werktätigen.

Der Produktionsverband muss alle für den gegebenen Wirtschaftszweig unentbehrlichen Arbeiter, angefangen vom Schwarzarbeiter [ungelernten Arbeiter] bis zum qualifiziertesten Ingenieur, umfassen.

Die auf das Produktionskriterium eingestellte Umerziehung muss sich selbstverständlich vor allem auf die Gewerkschaftsarbeiter (die „Funktionäre") erstrecken, deren Reihen durch neue Kräfte gründlich gestärkt und belegt werden müssen. Die Leiter der Gewerkschaften im Zentrum und in der Provinz werden in die Sphäre der rein wirtschaftlichen Fragen eintreten müssen und werden schon dadurch das Produktionskriterium in ihre alltägliche Arbeit in den Gewerkschaftsverbänden hinein tragen. Andererseits sind die Leiter der Wirtschaftsorgane verpflichtet, an alle Fragen der Produktion, auch an die rein technischen, mit wachsender Erkenntnis und Solidarität heranzugehen, als an Fragen, die vor allem die Organisierung der lebendigen Kraft betreffen. Nur die wechselseitige Fruktiflzierung dieser beiden Gesichtspunkte wird die notwendige psychologische Grundlage schaffen für die organische Verschmelzung zweier parallel existierender Apparate in einen einheitlichen Apparat, der in gleichem Maße sowohl die allgemeinen Interessen der Produktion als. auch unmittelbar die Interessen der Produzenten sicherstellt.

[Am Schlusse seiner Leitsätze schlägt Genosse Trotzki eine Reihe praktischer Maßnahmen vor.]

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