Leo Trotzki: Statt eines Nachwortes [zu „Terrorismus und Kommunismus"] [Nach Grundfragen der Revolution, Hamburg 1923, S. 216-219] Dieses Buch erscheint zum II. Kongress der Kommunistischen Internationale. Die revolutionäre Bewegung des Proletariats hat, während der seit dem I. Kongress verflossenen Monate, einen großen Schritt vorwärts getan. Die Stellung der offiziellen, offenen Sozialpatrioten ist überall untergraben. Die Ideen des Kommunismus gewinnen immer größere Verbreitung. Das zum offiziellen Dogma erhobene Kautskyanertum ist grausam kompromittiert. Kautsky selbst bildet jetzt im Schoße der von ihm selbst geschaffenen „unabhängigen" Partei eine wenig maßgebende und ziemlich lächerliche Figur. Trotzdem beginnt der geistige Kampf in den Reihen der internationalen Arbeiterklasse erst gehörig zu entbrennen. Wenn wir eben sagten, dass das zum Dogma erhobene Kautskyanertum auf dem Sterbebette liegt und die Führer der sozialistischen Zwischenparteien sich beeilen, es zu verleugnen, so spielt doch das Kautskyanertum als spießerliche Stimmung, als Tradition der Passivität, als politische Feigheit, noch eine große Rolle an den Spitzen der Arbeiterorganisationen der ganzen Welt, ohne für diejenigen Parteien eine Ausnahme zu machen, die eine Hinneigung zur III. Internationale an den Tag legen oder die sich ihr sogar formell angeschlossen haben. Die USPD, die auf ihr Banner die Diktatur des Proletariats geschrieben hat, duldet die Gruppe Kautskys in ihren Reihen, deren gesamte Bemühungen darauf gerichtet sind, die Diktatur des Proletariats in Gestalt ihres lebendigen Ausdrucks – der Sowjetmacht – theoretisch zu kompromittieren und in Verruf zu bringen. Unter Verhältnissen des Bürgerkrieges ist ein derartiges Zusammenleben nur insofern und bis dahin denkbar, als und bis die Diktatur des Proletariats für die führenden Kreise der „unabhängigen" Sozialdemokraten ein frommer Wunsch bleibt, ein formloser Protest gegen den offenen und schändlichen Verrat der Noske, Ebert, Scheidemann und anderer und – nicht zuletzt – ein Werkzeug der Wahl- und Parlamentsdemagogie. Die Lebenszähigkeit des formlosen Kautskyanertums ist am grellsten an dem Beispiele der französischen Longuetisten zu sehen. Jean Longuet überzeugte auf die aufrichtigste Weise sich selber und lange Zeit versuchte er auch andere zu überzeugen, dass er mit uns Hand in Hand gehe und dass nur die Zensur Clemenceaus und die Verleumdungen unserer französischen Freunde Loriot, Monatte, Rosmer und anderer unsere Waffenbrüderschaft verhindere. Indessen genügt es, eine beliebige parlamentarische Rede Longuets kennen zu lernen, um sich zu überzeugen, dass der ihn und uns trennende Abgrund momentan vielleicht noch tiefer ist als in der ersten Periode des imperialistischen Krieges. Die heute vor dem internationalen Proletariat stehenden revolutionären Aufgaben sind ernster, unmittelbarer und kolossaler, direkter und ausgeprägter geworden als vor 5-6 Jahren. Die politische Rückständigkeit der Longuetisten, der parlamentarischen Vertreter der ewigen Passivität, ist auffallender geworden denn je, obgleich sie formell in den Schoß der parlamentarischen Opposition zurückgekehrt sind. Die italienische Partei, die zur III. Internationale gehört, ist keineswegs frei vom Kautskyanertum. Was die Führer anbelangt, so trägt ein beträchtlicher Teil von ihnen die internationalistische Ausrüstung nur von Amtswegen und infolge des Zwanges von unten. In den Jahren 1914-1915 war es der Italienischen Sozialistischen Partei weitaus leichter als den anderen europäischen Parteien, ihre oppositionelle Stellung zum Kriege zu bewahren, sowohl weil Italien um neun Monate später als die anderen Länder in den Krieg eintrat, als auch insbesondere aus dem Grunde, weil die internationale Lage Italiens in diesem Lande sogar eine mächtige bürgerliche Gruppierung – Giolittianer im weitesten Umfange dieses Wortes – schuf, die bis zum letzten Moment der Einmischung Italiens in den Krieg feindlich blieb. Diese Umstände gestatteten der Italienischen Sozialistischen Partei, ohne tiefste innere Krisis der Regierung die Kriegskredite zu verweigern und überhaupt außerhalb des interventionistischen Blocks zu bleiben. Dadurch aber verlangsamte sich unzweifelhaft der Prozess der inneren Klärung der Partei. Zur III. Internationale gehörend, duldet die Italienische Sozialistische Partei bis zum heutigen Tage Turati und seine Anhänger in ihrer Mitte. Diese sehr weite Gruppierung – leider ist es uns schwierig, ihre quantitative Bedeutung in der Parlamentsfraktion, in der Presse, in den Partei- und Gewerkschaftsorganisationen irgendwie genau festzustellen – stellt eine weniger pedantische, weniger dogmenhafte, mehr deklamatorische und lyrische, aber trotzdem die schlimmste Form des Opportunismus, das romanisierte Kautskyanertum dar. Die versöhnliche Stellung zu den kautskyanischen, longuetistischen, turatistischen Gruppierungen maskiert sich gewöhnlich mit der Erwägung, dass die Zeit der revolutionären Aktionen in den betreffenden Ländern noch nicht gekommen sei. Aber eine derartige Fragestellung ist vollständig falsch. Niemand fordert von den dem Kommunismus zuneigenden Sozialisten, dass sie eine revolutionäre Umwälzung für die nächsten Wochen oder Monate anberaumen. Was aber die III. Internationale von ihren Anhängern fordert, das ist die Anerkennung nicht in Worten, sondern in der Tat, dass die zivilisierte Menschheit in die revolutionäre Epoche eingetreten ist, dass alle kapitalistischen Länder den größten Erschütterungen und dem offenen Klassenringen entgegensehen und dass die Aufgabe der revolutionären Vertreter darin besteht, für diesen unabwendbaren und nahen Krieg die notwendigen geistigen Waffen und die organisatorischen Stützpunkte vorzubereiten. Diejenigen Internationalisten, die es für möglich halten, zur Zeit mit Kautsky, Longuet und Turati zusammenzuarbeiten, an ihrer Seite vor die Arbeitermassen zu treten, verzichten in der Tat auf die geistige und organisatorische Vorbereitung des revolutionären Aufstandes des Proletariats, ganz abgesehen davon, ob dieser einen Monat oder ein Jahr früher oder später stattfinden wird. Damit der offene Aufstand der proletarischen Massen sich nicht in einem verspäteten Suchen von Weg und Führung zersplittert, ist es notwendig, dass weite proletarische Kreise bereits jetzt lernen, den ganzen Umfang der vor ihnen stehenden Aufgaben zu erfassen und deren vollständige Unverträglichkeit mit allen Abarten des Kautskyanertums und des Kompromisslertums einzusehen. Ein wirklich revolutionärer, d. h. kommunistischer Flügel muss sich vor dem Angesicht der Massen allen Gruppierungen der Unentschiedenheit und Halbheit, den Schulmeistern, den Anwälten und den Sängern der Passivität entgegenstellen, vor allem seine Positionen, in erster Reihe die geistigen, dann die organisatorischen, die offenen, die halboffenen und die streng geheimen, festigen. Der Zeitpunkt der formellen Trennung von den offenen oder verkappten Kautskyanern oder der Zeitpunkt ihrer Verjagung aus den Reihen der Arbeiterpartei wird, versteht sich, von Erwägungen der Zweckmäßigkeit, entsprechend der Situation bestimmt, aber die gesamte Politik von wirklichen Kommunisten muss nach dieser Richtung hin eingestellt sein. Aus diesem Grunde scheint es mir, dass dieses Buch immerhin nicht verspätet ist, – zu meinem größten Bedauern, wenn nicht als Verfasser, so doch als Kommunist. 17. Juni 1920.
|
Leo Trotzki > 1920 >