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Leo Trotzki 19200122 Über die Mobilisierung des industriellen Proletariats

Leo Trotzki: Über die Mobilisierung des industriellen Proletariats,

über die Arbeitspflicht, die Militarisierung des Wirtschaftslebens und die Verwendung militärischer Truppenteile zu wirtschaftlichen Arbeiten.

Thesen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands, Berichterstatter: L. Trotzki

[Nach Russische Korrespondenz, 1. Jahrgang, Heft IV (Februar 1920), S. 2-6]

1. Der außerordentliche wirtschaftliche Tiefstand des Landes als Resultat des imperialistischen Krieges und der gegenrevolutionären Vormärsche gegen Sowjetrussland, kommt unmittelbar zum Ausdruck in der vollkommenen Desorganisation der grundlegenden Elemente der Produktion: der technischen Hilfsmittel, der Versorgung mit Rohmaterialien, vor allem der Arbeiterschaft und des Heizmaterials.

2. In nächster Zeit ist nicht daran zu denken, von auswärts Maschinen, Kohlen und qualifizierte Arbeiter in größerem Maßstabe zu bekommen, und zwar nicht nur infolge der Blockade, über deren weitere Entwicklung man. im jetzigen Augenblick noch nichts Bestimmtes sagen kann, sondern vor allem, weil Westeuropa selbst vollkommen erschöpft ist.

3. Der Hebel, mit dessen Hilfe das wirtschaftliche Leben des Landes gehoben werden kann, ist also die lebendige Arbeitskraft, ihre Organisierung, ihre Verteilung und zweckmäßige Ausnutzung.

A. Das industrielle Proletariat.

4. Das industrielle Proletariat, der Hauptträger der politischen Macht, muss in der nächsten Zeit seine ganze Aufmerksamkeit und Spannkraft auf die Organisation des Wirtschaftslebens und der unmittelbaren Anteilnahme am Produktionsprozess konzentrieren.

5. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die gelernten und qualifizierten Arbeiter zu sammeln, sie nach und nach aus der Armee, aus den Sowjetorganen hinter der Front, selbst aus den Sowjetwirtschaften und Kommunen, aus der Heimindustrie, aus den Dörfern, vor allem aus dem noch bestehenden Privathandel zurückzuziehen.

6. Um die qualifizierten Arbeiter zur Arbeit heranzuziehen, muss für die Besserung ihrer Lebens- und Wohnungsbedingungen gesorgt werden. Ferner müssen die Gewerkschaften sie organisatorisch zu beeinflussen suchen, wo all das nicht nützt, muss zu Zwangsmaßnahmen gegriffen werden.

7. Die Durchführung dieser Maßnahme, wie überhaupt jeder Arbeit, die die Entwicklung der Industrie fördert, kann nur dann ernste positive Resultate zeitigen, wenn die Gewerkschaftsverbände gut organisiert sind und über einen festen Bestand von zuverlässigen und verantwortungsvollen Arbeitern verfügen, die imstande sind, eine eiserne Arbeitsdisziplin durchzuführen.

8. Gleichzeitig müssen in großem Maßstabe Maßnahmen zur fachmännischen Ausbildung der heranwachsenden Jugend (von 14 Jahren an) getroffen werden, damit späterhin für Ersatz der qualifizierten Arbeitskraft gesorgt ist. Zu diesem Zweck muss dem Kommissariat für Volksaufklärung ein starkes mit Vollmachten ausgestattetes Organ angegliedert werden, in dem Mitglieder aller interessierten Behörden und Institutionen vertreten sind.

B. Die ungelernte Arbeitskraft.

9. Die wirtschaftlichen Bedingungen erfordern Menschenmaterial, mehr als irgendwann, so dass auch ungelernte Arbeiter, d. h. Bauern, zur Industrie- und Transportarbeit herangezogen werden müssen.

a) An mechanischen Arbeitsmitteln ist Russland jetzt außerordentlich arm. Die Maschinen sind abgenutzt und können nur in geringem Maßstabe renoviert werden. Der kommende Aufschwung der Produktion wird – infolge des großen Mangels an Maschinen – in vielen Industriezweigen die Notwendigkeit der außerordentlich gesteigerten Anwendung von menschlicher, hauptsächlich ungelernter Arbeitskraft erfordern.

b) Das Fällen und Heranschaffen von Holz, das noch lange den größten Teil des Bedarfes an Heizmaterial zu decken haben wird, die Gewinnung von Torf und Schiefer in Mengen, wie sie nie zuvor gebraucht worden sind, schließlich die wieder aufgenommene angespannte Arbeit in den Kohlen-, Naphtha- und Erzbezirken erfordert neben den qualifizierten, eine große Menge von ungelernten Arbeitern.

c) Die Arbeit in den Sowjetwirtschaften, vor allem aber in den durch den Bürgerkrieg verwüsteten Gegenden, wird die Nachfrage nach menschlicher Arbeitskraft, nach Dauer- wie auch nach Saisonarbeitern, ungeheuer steigern,

d) Vorübergehende, Saison- und Hilfsarbeiten, z. B. das Schneeschippen, der Barackenbau, die Wiederherstellung und Ausbesserung von Brücken und Verkehrswegen, werden ebenfalls viel Arbeitskräfte erfordern.

10. Die Versorgung der Industrie, des Transports und überhaupt des Wirtschaftslebens mit notwendiger Arbeitskraft kann nur unter Durchführung der Arbeitspflicht gesichert werden.

C. Die allgemeine Arbeitspflicht.

11. Die sozialistische Gesellschaftsordnung lehnt prinzipiell das liberal-kapitalistische Prinzip der „freien Arbeit" ab, das in der bürgerlichen Gesellschaft für die einen die Freiheit – auszubeuten, für die andern die Freiheit – ausgebeutet zu werden, bedeutet. Soweit die Überwindung der dem Menschen feindlichen äußeren physischen Verhältnisse die grundlegende Aufgabe der gesellschaftlichen Organisation bildet, verlangt der Sozialismus die obligatorische Teilnahme aller Mitglieder der Gesellschaft an der Erzeugung materieller Werte; er stellt sich zur Aufgabe, die Form der vergesellschaftlichten Arbeit zu einem möglichst vernünftigen, d. h. möglichst wirtschaftlichen und angenehmer, zu machen. Das Prinzip der allgemeinen Arbeitspflicht, das die Grundgesetze der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik festgelegt haben, muss jetzt in weitgehendstem Maße durchgeführt werden.

12. Die endgültige Durchführung des Prinzips der allgemeinen Arbeitspflicht kann innerhalb der Rahmen des allgemeinwirtschaftlichen Planes erst verwirklicht werden, wenn der ganze verwaltende und wirtschaftliche Apparat des Landes vervollkommnet wird und wenn allgemein Arbeitsbücher eingeführt werden, die Aufschluss darüber geben, welche Stellung jeder Bürger und jede Bürgerin Sowjetrusslands im wirtschaftlichen Leben einnimmt.

13. Der Übergang zur Anwendung der Arbeitspflicht muss sofort geschehen und zwar in Formen, die, wenn sie von der absoluten Genauigkeit noch weit entfernt sind, doch imstande wären, die Versorgung mit notwendiger Arbeitskraft sicherzustellen.

14. Hierzu ist vor allem notwendig, die Zahl der Arbeitskräfte festzustellen, die sofort benötigt werden und die, der Verpflegung den Werkzeugen usw. entsprechend, an die wichtigsten Arbeiten sofort herangehen können.

15. Gleichzeitig muss durch ein besonderes Dekret festgestellt werden, welche wirtschaftlichen Nöte die lokalen Bedürfnisse verursachen und auf Grund lokal organisierter Arbeitspflicht geregelt werden müssen.

16. Die Organisation der Arbeitspflicht, die sich auf beide Geschlechter erstreckt, muss nach Möglichkeit den Eigenarten der einzelnen Bezirke angepasst sein (die örtliche Industrie, Perioden besonders angestrengter Landarbeit, usw.), und die Verteilung der Kräfte zwischen der allgemein-staatlichen und der lokalen Arbeitspflicht muss, in ihrer Gesamtheit, nach Möglichkeit eine für das ganze Land gleichmäßige sein, damit die Landwirtschaft möglichst wenig darunter leidet.

17. In der nächsten Periode müssen zur Arbeitspflicht vor allem solche Kategorien herangezogen werden, die durch die militärischen Mobilisationen am wenigsten betroffen waren, es müssten also nach Möglichkeit zunächst viele Frauen herangezogen werden.

18. Der Apparat zur Durchführung der Arbeitspflicht, so der allgemein staatlichen wie der lokalen, muss aus Vertretern folgender Ortsabteilungen bestehen: des Kommissariats für militärische Angelegenheiten, der Verwaltungsabteilung des Exekutivkomitee und der Abteilung für Arbeitsangelegenheiten.

19. Das gesamte Lokalorgan (Das Komitee der allgemeinen Arbeitspflicht), das dem Exekutivkomitee unmittelbar untergeordnet ist, wird Anweisungen über Zustellung von Arbeitskräften entweder vom Zentralexekutivkomitee erhalten – wenn es sich um Arbeiten von allgemein staatlicher Bedeutung handelt – oder vom örtlichen Exekutivkomitee – wenn es sich um Arbeiten innerhalb des Bezirkes handelt. Es ist Aufgabe des Komitees für allgemeine Arbeitspflicht, die lokalen Forderungen miteinander, wie auch mit den Forderungen des Zentrums in Einklang zu bringen, wobei aber nach einer allgemein-geltenden Regel die Forderungen des Zentrums in erster Linie erfüllt werden müssen.

20. Im Zentrum wird ein Hauptkomitee für allgemeine Arbeitspflicht gebildet, in dem Mitglieder der Volkskommissariate für Arbeit, für Inneres, der Mobilisationsabteilung beim Hauptquartier und der Zentrale für Statistik vertreten sind. In der nächsten Zeitperiode wirkt dieses Komitee als unmittelbares Organ des Verteidigungs-Sowjet. Alle zentralen und örtlichen Institutionen müssen sich den Verordnungen des Hauptkomitees in Fragen der allgemeinen Arbeitspflicht fügen.

D. Die Militarisierung des Wirtschaftslebens.

21. Im Übergangsstadium der Entwicklung einer Gesellschaft, die das Erbe einer schweren Vergangenheit angetreten hat, ist der Übergang zu einer planmäßig organisierten gesellschaftlichen Arbeit undenkbar ohne die Anwendung von Zwangsmaßnahmen, so in Bezug auf Elemente, die ein Parasitendasein führen, wie auch in Bezug auf zurückgebliebene Elemente des Bauerntums und der Arbeiterklasse. Das Zwangsmittel, über das der Staat verfügt, ist seine militärische Macht. Folglich ist die Militarisierung der Arbeit – in diesem oder jenem Maße, in dieser oder jener Form – eine unbedingte Notwendigkeit für jede Übergangswirtschaft, die auf dem Prinzip der allgemeinen Arbeitspflicht aufgebaut ist.

Zwangsmaßnahmen werden umso weniger Anwendung finden, je mehr sich das System der sozialistischen Wirtschaftsordnung entwickeln wird, je günstiger die Arbeitsbedingungen sein werden und je höher das Erziehungsniveau der heranwachsenden Generation sein wird.

22. In den gegenwärtigen Verhältnissen Sowjetrussland bedeutet die Militarisierung, dass die Wirtschaftsfragen (die Intensivität der Arbeit, die sorgfältige Behandlung der Maschinen und Instrumente, gewissenhafte Verausgabung von Material usw.) im Bewusstsein der Werktätigen und in der Praxis der staatlichen Institutionen ebenso geachtet werden müssen, wie Fragen des militärischen Kampfes. Die Stadt- und Landbevölkerung muss erkennen, dass die Beseitigung der Arbeitsdesertation, des Müßigganges, des unzuverlässigen Arbeitens eine Frage von Leben und Tod des ganzen Landes bedeutet und dass sie in aller kürzester Zeit wenn auch mit den strengsten Mitteln erreicht werden muss

23. In dieser Richtung muss eine weitgehende mündliche und schriftliche Propaganda entfaltet werden, die zur Aufgabe hat, auf Grund konkreten, stets neuen Materials über unseren wirtschaftlichen Zerfall und einzelne Erfolge auf dem Wege zu seiner Überwindung, die breitesten werktätigen Massen im Sinne einer wachsamen Kontrolle über alle Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens zu erziehen, und die parteilosen Konferenzen der Arbeiter und Bauern zum Kampf gegen Unordnung, Bürokratismus und Müßiggang heranzuziehen.

Die führende Rolle in dieser Arbeit müssen – neben der Partei – die Gewerkschaftsverbände übernehmen, zu denen die besten Arbeiter, die jetzt eine militärische Schulung durchgemacht haben, schleunigst zurückkehren müssen.

24. Die formale Militarisierung einzelner Unternehmungen oder Industriezweige, die in diesem Augenblick von besonderer Bedeutung sind oder die durch die allgemeine Zerrüttung besonders betroffen sind, geschieht jedes mal auf besondere Verordnung des Verteidigungs-Sowjets und hat den Zweck, dem Unternehmen die Arbeiter vorübergehend zu sichern und ein strengeres Regime einzuführen, wobei den entsprechenden Organen weitgehende Disziplinarrechte eingeräumt werden, wenn die Gesundung des Unternehmens nicht auf anderem Wege herbeigeführt werden kann.

25. Die Massenheranziehung ungelernter und gewerkschaftlich nicht organisierter Arbeiter durch die Arbeitspflicht zu Transport-, Verpflegungs-, Bau- usw. Arbeiten erfordert – wenigstens für die erste Zeit – eine Arbeiterorganisation von militärischem Typus.

26. Die Elemente der Arbeiterorganisation und der notwendigen Disziplin, - wie der inneren, – so auch der äußeren zwangsmäßigen, – können den durch die Arbeitspflicht mobilisierten Hunderttausenden und Millionen Werktätigen nur beigebracht werden mit Hilfe der klassenbewussten, entschlossenen und überzeugungsstarken Arbeiter, besonders solcher, die eine militärische Schulung durchgemacht haben und die gewohnt sind, die Massen zu organisieren und sie – unter den schwierigsten Bedingungen – zu führen.

27. Die Grundlage für die Durchführung der Arbeitspflicht bilden dieselben prinzipiellen Organisationsfragen, die der Bildung der Roten Armee und der Errichtung der Sowjetmacht überhaupt zugrunde liegen: den zurückgebliebenen Bauernmassen natürliche Führer und Organisatoren in Gestalt der klassenbewussten und in ihrer übergroßen Mehrzahl fachmännisch ausgebildeten Proletarier zu sichern. Soweit die Armee ein wichtiger Versuch einer solchen Massenorganisation war, müssen ihre Methoden (natürlich mit den erforderlichen Abänderungen) auch auf das Gebiet der Arbeitsorganisation übertragen werden, wobei die Erfahrung derjenigen Arbeiter ausgenutzt werden muss, die ihre militärische Arbeit jetzt zugunsten der wirtschaftlichen aufgeben müssen.

E. Die Arbeit – die Armee.

28. Als eine der Übergangsformen zur Durchführung der allgemeinen Arbeitspflicht und zur weitgehendsten Anwendung der vergesellschaftlichten Arbeit müssen die freiwerdenden militärischen Abteilungen zu Arbeitszwecken benutzt werden, und zwar bis hinauf zu ganzen Armeeformationen. So ist z. B. die III. Armee in die erste Arbeitsarmee umgewandelt worden, und dieser Versuch soll auch mit andern Armeen gemacht werden.

29. Die notwendigen Vorbedingungen für die Arbeitsverwendung von Truppenteilen und ganzen Armeen sind:

a) Die strenge und genaue Begrenzung der Aufgaben, die der Arbeitsarmee durch die einfachsten Arten der Arbeit, in erster Linie durch die Sammlung und Aufspeicherung der Lebensmittelvorräte, gestellt werden.

b) Die Festlegung solcher wechselseitiger Organisationsbeziehungen zu den entsprechenden Organen, dass die Möglichkeit der Verletzung von Wirtschaftsplänen und der Hineintragung von Desorganisation in zentralisierte wirtschaftliche Apparate ausgeschlossen ist.

c) Die Herstellung eines innigen Kontaktes und kollegialer Beziehungen zu den Arbeitern desselben Bezirkes und eine nach Möglichkeit gleichmäßige Verpflegung.

d) Der ideelle Kampf gegen spießbürgerliche-traditionelle Vorurteile, die die Militarisierung der Arbeit und die Anwendung der Arbeitspflicht falsch auffassen; Aufklärung über die Notwendigkeit dieser Maßnahme für die Hebung der Volkswirtschaft; Aufklärung über die Notwendigkeit einer immer größeren Annäherung zwischen der Organisation der Arbeit und der Organisation der Verteidigung in der sozialistischen Gesellschaft.

F. Die Verpflegung.

30. Bei allen wirtschaftlichen Plänen und Berechnungen, bei der Mobilisation der Arbeitskräfte, bei der Errichtung des Rätesystems in allen neu besetzten Gebieten usw. muss man sich als erste und wichtigste Aufgabe stellen: die Konzentrierung in Händen des Sowjetstaates von Hunderten Millionen Pud Brot, Fleisch, Fett, Fischen usw. Es muss ein Verpflegungsfonds geschaffen werden, der wirklich imstande ist, das industrielle Proletariat, die Sowjetangestellten und die durch Arbeitspflicht mobilisierten Bauern das laufende Jahr hindurch zu ernähren.

Nur die Schaffung einer Verpflegungsbasis in allen wichtigen Industriezentren gebt die absolute Garantie der Verwirklichung nicht nur eines bestimmten Wirtschaftsplanes, sondern der sozialistischen Gesellschaftsordnung überhaupt.

31. Die Organisierung der Verpflegung der Industriearbeiter und Sowjetangestellten ist die unaufschiebbare Aufgabe des Verpflegungskommissariats, wozu ihm die Mitarbeit der örtlichen Sowjets, der Gewerkschaftsverbände und des entsprechenden Apparates der Militärbehörde zur Verfügung stehen. Sorgt man so für die allgemeine Ernährung und für die allmählich besser werdende Qualität der verabfolgten Speisen, so wird dadurch die beste Form der Kontrolle der Teilnahme der Bürger an der Produktion geschaffen, außerdem wird dadurch eine Menge Energie, besonders der Frauen, die jetzt jede einzeln gezwungen sind, für das Stück Brot zu sorgen, gespart.

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