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Leo Trotzki 19201008 Was von „langer Dauer“ und von „kurzer Dauer“ ist

Leo Trotzki: Was von „langer Dauer“ und von „kurzer Dauer“ ist

[Nach Der Sozialdemokrat. Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie und der Kommunistischen Partei Württembergs, 20. November 1920.1]

[Dieser Artikel wurde vor Abschluss des Präliminarfriedens mit Polen geschrieben. Er hat jedoch an Aktualität nichts eingebüßt {– Die Redaktion}]

Pilsudski, der noch immer nicht die Hoffnung verliert, den Schulterschluss zwischen Polen und Sowjetrussland zu hintertreiben, hat vor einigen Tagen den Journalisten erklärt, dass ein solcher Friede sowieso nicht von langer Dauer wäre, da die Sowjetregierung ja auch nicht von langer Dauer ist. In derselben Weise haben sich in letzter Zeit Millerand und andre Anhänger des Krieges mit Russland geäußert. „Die Sowjetmacht ist nicht von langer Dauer“ suchten die imperialistischen Räuber Estland, Litauen und Lettland zu überzeugen, als diese zu der Schlussfolgerung kamen, dass der Friedensschluss mit dem Arbeiter- und Bauernstaat eine Notwendigkeit sei. Aber die Randstaaten hatten es satt, auf den versprochenen Fall der Sowjetmacht zu warten und vertrugen sich einer nachdem anderen mit ihr.

Die Sowjetmacht ist nicht von langer Dauer“ sagten zur Zeit des Brest-Litowsker Friedens die deutsche Diplomaten im kaiserlichen Reichstag. Durch diese Prophezeiung hofften die Diener der Hohenzollern ihre Verhandlungen mit der revolutionären Regierung zu rechtfertigen. Ihre Berechnung war: Die Sowjetmacht wird bald fallen! Der mit ihr abgeschlossene vorteilhafte Friede wird auch für die anderen Regierungen bindend sein. Es kam aber anders, der Brest-Litowsker Friede fiel, die Sowjetmacht blieb.

Einer der bulgarischen Minister, die sich auf Stambulinski hinaus spielen, sagte mir in einem so genannten „Privatgespräch“ während der Brester Verhandlungen: „Sie begreifen, dass die Zentralmächte nicht von der Dauerhaftigkeit des Friedensvertrages überzeugt sein können, da revolutionäre Regierungen nie von langer Dauer sind.“ Indessen wurde die Regierung Deutschlands gestürzt und Österreich-Ungarn zerfiel in kleine Stücke und begrub unter seinen Trümmern die Monarchie, die Bürokratie und die Diplomatie. Die jungtürkische Partei, die in der Türkei herrschte und in Brest-Litowsk im Tone des Siegers mit uns verhandelte, verwandelte sich in eine Organisation Aufständischer, die jetzt bei Sowjet-Russland gegen die Entente Hilfe sucht. In Bulgarien endlich hat Zar Ferdinand längst den Schauplatz seiner Regierung verlassen.

Es sind also die Regierungen, die dem deutschen Bunde angehörten während der drei Jahre des Bestehens der Sowjetmacht in Staub verfallen. Die revolutionäre Macht der Arbeiter und Bauern aber, der man eine kurze Dauer prophezeite, lebt.

In Frankreich herrschte während der letzten Kriegsjahre die Diktatur Clemenceaus, des „Tigers“, des französischen Wucherers. Clemenceau schwor, dem bolschewistischen Russland ein Ende zu bereiten. Nachdem er Deutschland besiegt und den Versailler Frieden abgeschlossen hatte, schickte er sich an, Präsident von Frankreich zu werden mit rein monarchistischen Rechten. Clemenceau fiel aber bei den Wahlen durch und sogar die reaktionären Vertreter des Kapitals im französischen Parlament fürchteten, dass der imperialistische „Tiger“ Frankreich ins Unglück stürzen könnte. Zum Präsidenten wurde Deschanal gewählt, der politisch nicht durchfallen konnte, weil er aus dem Fenster eines Eisenbahnzuges fiel und sich selbst zerschlug. Ihn löste Millerand ab. Ob auch dieses Subjekt aus dem Fenster fliegen oder einfach von der französischen Arbeiterklasse vor die Tür gesetzt wird, das ist einerlei, die Herrschaft Millerands, des Freundes und Beschützers Wrangels kann nicht lange dauern.

In den Vereinigten Staaten war während des Krieges der Stern des Präsidenten Wilson im Aufstieg begriffen. Seine Macht in den Vereinigten Staaten übertraf die Macht gekrönter Monarchen. Wilson hatte fest beschlossen, der Sowjetmacht ein Ende zu bereiten und sandte Koltschak gegen uns. Er unterstützte unablässig jede Gemeinheit und alle Verbrechen gegen die Arbeiter- und Bauernrepublik. Im Endresultat sind von der Macht Wilsons nur kümmerliche Spuren übrig geblieben. Die aufgeblähte Volkstümlichkeit hat sich in Verachtung und Hass gegen diesen bösartigen treulosen Heuchler verwandelt. In fünf Monaten läuft die Frist seiner Präsidentschaft ab. Weder in Amerika noch in Europa gibt es jemanden, der daran zweifelt, dass Wilson von Harding, einem Anhänger der Verständigung mit Sowjetrussland abgelöst wird. (Die Präsidentschaftswahlen haben diese Auffassung inzwischen bestätigt. Die Redaktion.)

Die englische Regierung Lloyd Georges ist zäher als die Regierungen anderer Länder. Dafür aber ist ihr der Boden untergraben und droht jeden Augenblick einzustürzen. Die nie dagewesene Verschärfung der Arbeiterbewegung, die Aufstände und Kundgebungen, die Schaffung des Aktionsausschsses rücken praktisch die Frage der Arbeiterregierung immer mehr in den Vordergrund. Irland befindet sich im Zustand des ununterbrochenen siegreichen Aufstands gegen London. Die englischen Kolonien in Asien und Afrika endlich sind in die Epoche revolutionärer Gärungen der viele Millionen zählenden Volksmasse eingetreten, die das ganze Gebäude des britischen Imperialismus zu stürzen drohen. Bald werden die leidenschaftlichen Hasardspieler es ablehnen, ihre Einsätze auf die Karte der langen Dauer der Regierung Lloyd Georges zu machen.

In Italien ist die Lage noch zugespitzter. Seit dem Kriege folgt Krise auf Krise und die Regierungen wechseln einander ab wie die Schatten der Lichtbilder. Ministerpräsident Giolitti, die hervorragendste Figur der Bourgeoisie, sieht sich gezwungen zuzugeben, dass Italien in die Epoche der sozialistischen Umgestaltung eingetreten ist.

Soll ich von den Kleinen sprechen? Von Südslawien, von Rumänien, von der Tschechoslowakei und endlich von Polen?

Polen, das an Händen und Füßen von Frankreich gefesselt ist, hat keine innere Kraft, besteht nur durch den Willen und von den Almosen der Entente, kämpft und schließt Frieden, wenn es befohlen wird, lebt, so lange man ihm zu leben gestattet. Sein politisches Leben stellt einen chaotischen Kampf vor, wo die Interessen der Klassen, die Intrigen der Parteien, die Ränke der polnischen Politiker und die Umtriebe der Diplomaten der Entente sich zu einem ungeheuren Netz verflechten, aus dem die Arbeiterklasse sich mit großer Anstrengung zu befreien versucht. Was ist das gegenwärtige Polen? Wo sind seine Grenzen? Wo ist sein Verwaltungsapparat? Wo ist der Zusammenhang seiner Teile, aus denen es zusammengesetzt ist? Wie lautet das Programm seiner Regierung? Wie ist es um den morgenden Tag bestellt? Das weiß niemand. Willkür, Bestechlichkeit und Abenteurertum im Dienste des ausländischen Willens, das ist das gegenwärtige polnische Regime.

Es lohnt sich nicht, mit Sowjetrussland Frieden zu schließen, denn die Sowjetregierung ist nicht von langer Dauer“, hinter diesen stolzen Worten verbirgt sich durchaus kein stolzer Inhalt. In Wirklichkeit fühlen die herrschenden Gruppen aller bürgerlichen Länder ihren Mangel an Widerstandskraft und fürchten eben deshalb, dass jeder von ihnen geschlossene Friede nicht von langer Dauer sein wird. Durch den Mund Pilsudskis sagen die Imperialisten: „Die Sowjetmacht rechnet auf weitere Entwicklung der internationalen Revolution, die nicht nur den Rigaer Vertrag umstürzen und hinwegfegen wird, sondern auch den Versailler die nicht nur die diplomatischen Verträge, sondern auch die Regierungen, die sie abgeschlossen haben und das kapitalistische Regime stürzen wird. Lohnt es sich in diesem Falle, Frieden zu schließen. Ist es nicht besser, den verheerenden Krieg gegen die Arbeiter- und Bauernrevolution in Russland und in der ganzen Welt fortzusetzen?“

Während sie die Worte über unsere kurze Dauer – dumme Redensarten, die niemand mehr glaubt – wiederholen, werden die heutigen Beherrscher Polens, wie auch ihre großmächtigen Gebieter selbst von Todesahnungen gequält und wissen nicht, welches Ende sie vorziehen sollen: den Tod im Frieden oder den Tod im Krieg.

Wir wollen aufrichtig und ehrlich den Frieden, denn nur auf diese Weise können wir den Winterfeldzug vermeiden, und die Leiden der werktätigen Massen Russlands, der Ukraine und Polens vermindern. Wir haben kein Interesse daran und können kein Interesse daran haben, die Friedensverträge zu verletzen, weder die schon unterschriebenen noch diejenigen, die wir abzuschließen im Begriffe sind. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Kräfte der Geschichte für uns arbeiten. Die lange Dauer des bürgerlichen Regimes und der bürgerlichen Regierungen ist zur Erinnerung an vergangene Zeiten geworden. Dieses Regime ist dem Untergang geweiht und die Stunde seines Zusammenbruchs nähert sich zusehends. Die besitzenden Klassen fühlen dies zusehends. Daher rasen sie, außer sich vor Wut. In ihren Fieberphantasien, in denen sich Angst mit Hass mischt, murmeln sie von einer kurzen Dauer unseres Bestehens. Erbärmlich in der Lüge, niederträchtig in ihrem Hass, sind sie unfähig, irgend jemand zu betrügen. Wir, der internationale Bund des Kommunismus, sind dazu berufen, die Totengräber des kapitalistischen Regimes zu werden. Diese Aufgabe werden wir erfüllen. Von langer Dauer und unerschütterlich sind nur wir – im Kriege wie im Frieden.

1 Der „Sozialdemokrat“ war ab 1915 die Zeitung der KriegsgegnerInnen in der Stuttgarter SPD, ab 1917 die Zeitung der Württembergischen USPD. Nach dem Vereinigungsbeschluss von KPD und USPD-Mehrheit im Oktober 1920 wurde er gemeinsame Zeitung beider Organisationen. Nach dem Vollzug der Vereinigung wurde er in „Der Kommunist“ umbenannt.

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