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Leo Trotzki 19200722 Zum bevorstehenden Kongress der Kommunistischen In­ternationale

Leo Trotzki: Zum bevorstehenden Kongress der Kommunistischen Internationale

[Die Kommunistische Internationale, Nr. 12, 1920, S. 54-63]

A. Beitrittsbedingungen zur III. Internationale.

I.

Die Sozialpatrioten und ihre bürgerlichen Inspiratoren weisen darauf hin, dass die Führer der III. Internationale (bisweilen: „Moskau”, „Bolschewiki”) den anderen Parteien mitunter diktatorische Forderungen stellen – auf Ausschluss der Führer, auf Änderung der Taktik usw. als Vorbedingung des Beitritts zur III. Internationale.

Die Zentrumssozialisten (Kautskyaner, Longuetisten) wiederholen diese Beschuldigungen in etwas geschwächter und verwässerter Form, wobei sie an das Nationalgefühl der Arbeiter der einzelnen Länder appellieren, indem sie in ihnen das Misstrauen wecken, als wolle sie jemand von außen her „kommandieren”.

In Wirklichkeit kommt bei derartigen Beschuldigungen und Unterstellungen die bürgerlich-böswillige Verzerrung oder das spießerlich-stumpfsinnige Unverständnis für das Wesen der Kommunistischen Internationale selbst zum Ausdruck, die keine einfache Summe der in den verschiedenen Ländern existierenden proletarischen und sozialistischen Vereinigungen ist, sondern eine einheitliche und selbständige internationale Organisation darstellt, welche bestimmte, genau formulierte Ziele durch bestimmte revolutionäre Mittel anstrebt.

Die Organisation eines jeden Landes, die sich der III. Internationale anschließt, unterwirft sich nicht nur ihrer allgemeinen, wachsamen und straffen Leitung, sie hat ihrerseits nun selber das Recht, an der Leitung aller anderen Teile der Kommunistischen Internationale regen Anteil zu nehmen.

Die Zugehörigkeit zur Internationale verfolgt nicht Zwecke internationaler Höflichkeit, sondern revolutionäre Kampfaufgaben. Sie kann daher keineswegs auf Undeutlichkeiten, Unklarheiten und Missverständnissen beruhen. Die Kommunistische Internationale verwirft verächtlich die herkömmlichen Formen, die von oben bis unten den Beziehungen innerhalb der II. Internationale ihren Stempel aufdrückten und darauf beruhten, dass die Führer einer jeden nationalen Partei sich den Anschein gaben, als ob sie die opportunistischen und chauvinistischen Kundgebungen und Handlungen nicht merkten, wobei sie darauf spekulierten, dass diese ihnen in gleicher Münze heimzahlen werden. Die gegenseitigen Beziehungen der nationalen, „sozialistischen” Parteien waren nur ein schwacher Abklatsch der gegenseitigen Beziehungen der bürgerlichen Diplomatie in dem Zeitalter des bewaffneten Friedens. Eben daher trat in dem Moment, wo die kapitalistischen Generäle die kapitalistische Diplomatie beiseite schoben, an der üblichen diplomatischen Lüge der „Bruderparteien” der II. Internationale der offene Militarismus seiner Führer an den Tag.

Die IIl. Internationale ist eine Organisation der revolutionären Aktion, des internationalen proletarischen Aufstandes. Diejenigen Elemente, die ihre Bereitschaft erklären, in die III. Internationale einzutreten, sich zugleich aber gegen die ihnen von „außen” diktierten Bedingungen auflehnen, zeigen ihre volle Unbrauchbarkeit und Unhaltbarkeit vom Standpunkt der Prinzipien und der Aktionsmethoden der III. Internationale. Die Schaffung einer internationalen Organisation des Kampfes und der Diktatur des Proletariats ist nur unter der Bedingung möglich, dass in die Kommunistische internationale nur Organisationen zugelassen werden, die vom wirklichen Geist des proletarischen Aufstandes gegen die Herrschaft der Bourgeoisie durchdrungen sind und daher selbst ein Interesse daran haben, dass inmitten der mit ihnen zusammen arbeitenden politischen und gewerkschaftlichen Organisationen Verräter keinen Platz finden, aber auch nicht willenlose Skeptiker, Elemente der ewigen Schwankungen, Verbreiter der Panik und der Geistesverwirrung. Das kann man nicht ohne eine fortwährende und beharrliche Säuberung seiner Reihen von falschen Anschauungen, falschen Aktionsmethoden und ihren Trägern erreichen.

Die Bedingungen, die die III. Internationale einer jeden ihr beitretenden Organisation stellt und stellen wird, dienen eben diesen Zweck.

Wir wiederholen: die Kommunistische Internationale ist keine Summe der nationalen Arbeiterparteien. Sie ist die Kommunistische Partei des internationalen Proletariats. Die deutschen Kommunisten haben das Recht, mit aller Schärfe die Frage zu stellen, warum Turati ihrer Partei angehört. Die russischen Kommunisten das Recht und die Pflicht, bei Erörterung der Frage über die Aufnahme der USPD und der Französischen Sozialistischen Partei in die III. Internationale derartige Bedingungen zu stellen, die von ihrem Standpunkt aus unsere internationale Partei vor Verwässerung und Zerfall bewahren würden. Eine jede in die Kommunistische Internationale eintretende Organisation erhält ihrerseits das Recht und die Möglichkeit, auf die Theorie und die Praxis der russischen Bolschewiki, der deutschen Spartakisten usw. einzuwirken.

II.

In seinem erschöpfenden Antwortschreiben an die USPD stellt das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale die deutschen Unabhängigen den französischen Longuetisten gleich. Das ist unbedingt richtig. Aber momentan, wo die Frage der Sozialistischen Partei Frankreichs sich mehr von der praktischen Seite aus vor uns stellt, ist es notwendig, neben den Grundzügen der Ähnlichkeit auch die des Unterschiedes festzustellen.

Die Tatsache, dass die Sozialistische Partei Frankreichs als Ganzes einen Drang zur Kommunistischen Internationale zeigte, erweckte von Anfang an ganz naturgemäße Befürchtungen. Die Befürchtungen können sich nur verstärken, wenn man die Lage des Sozialismus in Frankreich mit seiner Lage In Deutschland vergleicht.

Die alte deutsche Sozialdemokratie spaltete sich nun in drei Teile: 1. die offen chauvinistische Regierungssozialdemokratie der Ebert-Scheidemann 2. die „unabhängige” Partei, deren offizielle Führer sich in dem Rahmen der parlamentarischen Opposition zu halten bestrebt sind, während die Massen sich in den offenen Aufstand gegen die bürgerliche Gesellschaft werfen und 3. die Kommunistische Partei, als Bestandteil der III. Internationale.

In der Frage des Anschlusses der USPD an die III. Internationale stellen wir das oben angeführte Missverhältnis zwischen der Politik der offiziellen Führer und den Bestrebungen der Massen fest. Dieses Missverhältnis ist der Anlegepunkt unseres Hebels. Was die Sozialdemokratie der Scheidemänner anbelangt, die nun, wo sich eine rein bürgerliche Regierung gebildet hat, zu einer halb oppositionellen Stellung übergeht, so kann bei uns über die Aufnahme dieser Partei in die III. Internationale oder auch nur über irgendwelche Verhandlungen mit ihr nicht einmal die Frage auftauchen. Indessen ist die Sozialistische Partei Frankreichs keineswegs eine der USPD in deren jetzigem Zustand gleichwertige Organisation, denn irgend eine Spaltung hat sich in der Sozialistischen Partei Frankreichs nicht vollzogen und die französischen Ebert, Scheidemann und Noske verbleiben auf ihren verantwortlichen Posten.

Während des Krieges war die Haltung der Führer der Sozialistischen Partei Frankreichs nicht um ein Haar besser als die der patentierten Sozialverräter. Der Klassenverrat erreichte hier wie dort die gleiche Tiefe. Was die Formen anbelangt, in denen er seinen Ausdruck fand, so waren sie auf Seiten der französischen Partei noch schreiender und banaler als im Lager der Scheidemänner. Während jedoch die USPD unter dem Druck der Massen mit ihren Scheidemännern gebrochen hat, verbleiben die Herren Thomas, Renaudel, Varine, Sembat u. a. nach wie vor in den Reihen der Sozialistischen Partei Frankreichs.

Das Wesentlichste ist jedoch das wirkliche, tatsächliche, praktische Verhältnis der Führer der offiziellen Sozialistischen Partei Frankreichs zu der Frage des revolutionären Kampfes um das Ergreifen der Macht. Die von den Longuetisten geleitete Sozialistische Partei rüstet sich nicht nur mit allen Mitteln der Agitation und Organisation offen oder heimlich zu diesem Kampf, nein, sie flößt im Gegenteil den Massen den Gedanken ein, dass die gegenwärtige Epoche der ökonomischen Zerrüttung und Verelendung für die Herrschaft der Arbeiterklasse ungünstig ist. Mit anderen Worten, die von den Longuetisten geleitete Sozialistische Partei Frankreichs drängt den Arbeitermassen eine passive und abwartende Taktik auf, sie flößt ihnen den Gedanken ein, dass die Bourgeoisie in der Epoche imperialistischer Katastrophen fähig sei, das Land aus dem Zustand des wirtschaftlichen Chaos und des Elends zu führen und dadurch „günstige” Bedingungen für die Diktatur des Proletariats vorzubereiten. Es lohnt sich nicht, darüber zu reden, dass die Sozialistische Partei Frankreichs, wenn der Bourgeoisie das gelänge, was ihr keinesfalls gelingen kann, d. h. die wirtschaftliche Wiedergeburt Frankreichs und Europas, – noch weniger Anlässe, Möglichkeiten und Interesse hätte als jetzt, das Proletariat zum revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft aufzufordern.

Mit anderen Worten, in der wichtigsten Frage spielt die von den Longuetisten geleitete Sozialistische Partei Frankreichs eine gegenrevolutionäre Rolle.

Freilich ist im Gegensatz zu der Scheidemann-Partei die Sozialistische Partei Frankreichs aus der II. Internationale ausgetreten. Wenn man aber in Betracht zieht, dass dieser Austritt ohne Schaden für die Einigkeit mit Renaudel, Thomas und allen anderen Handlangern des imperialistischen Krieges vollzogen wurde, so wird es vollständig klar, dass für einen sehr beträchtlichen Teil der offiziellen französischen Sozialisten der Austritt aus der II. Internationale nichts gemeinsam hat mit einem Verzicht auf ihre Methoden, sondern nur ein einfaches Manöver ist zum weiteren Betrug der arbeitenden Massen.

Während des Krieges hat sich die Sozialistische Partei Frankreichs mit einer derartigen Beharrlichkeit dem Kaisersozialismus eines Scheidemann entgegengestellt, dass es momentan nicht nur für Longuet, Mistral, Pressemane und andere Anhänger des Zentrum, sondern auch für Renaudel, Thomas, Varine höchst unbequem erschien, innerhalb der II. Internationale von Angesicht zu Angesicht mit Ebert, Scheidemann und Noske als mit ihren nächsten Gefährten zu bleiben. Der Austritt aus der Kirche von Huysman wurde dem offiziellen französischen Sozialismus als Folge seiner patriotischen Stellungnahme diktiert. Freilich hat er alles getan, um seiner patriotischen Weigerung, mit Noske und Scheidemann sofort zusammenzuarbeiten, den Schein einer Geste zu geben, die auch durch den Internationalismus diktiert wird. Aber der Phrasenschwall der Straßburger Resolutionen vermag die Tatsache nicht aufzuheben, sondern schwächt sie nur, dass zur Straßburger Parteimehrheit nicht die französischen Kommunisten, wohl aber alle notorischen Chauvinisten gehören.

Die USPD, die als Organisation der patriotischen Sozialdemokratie gegenübersteht, ist gezwungen, mit ihr einen offenen, geistigen und politischen Kampf in der Presse und in den Versammlungen zu führen. Trotz des noch so sehr opportunistischen Gepräges ihrer Blätter und Führer trägt sie dadurch zur Revolutionierung der Arbeitermassen bei. In Frankreich beobachten wir dagegen in der letzten Zeit eine zunehmende Annäherung der früheren Mehrheit an die frühere Longuetistische Minderheit und die Beseitigung eines jeden ernsten Kampfes zwischen ihnen auf geistigem, politischem und organisatorischem Gebiet.

Unter diesen Verhältnissen bietet die Frage des Beitritts der Sozialistischen Partei Frankreichs zur III. Internationale noch mehr Schwierigkeiten und Gefahren als der Anschluss der USPD.

III.

Der Sozialistischen Partei Frankreichs, insofern sie nun praktisch die Frage ihres Anschlusses an die III. Internationale stellt, müssen wir ganz klare und präzise Fragen stellen, die durch die oben angeführten Erwägungen diktiert werden. Nur offene und präzise Antworten, die von der „Partei”, d. h. in Wirklichkeit von ihrem entsprechenden Teil bestätigt werden, werden der Frage des Beitritts der Partei der französischen Sozialisten in die internationale kommunistische Organisation einen realen Inhalt verleihen.

Diese Fragen wären beispielsweise der Art:

1. Erkennt Ihr für die Sozialistische Partei nach wie vor die Pflicht der nationalen Verteidigung in Bezug auf den bürgerlichen Staat an? Haltet Ihr es für zulässig, die bürgerliche Republik Frankreich in ihren militärischen Zusammenstößen mit anderen Staaten direkt oder indirekt zu unterstützen? Haltet Ihr die Bewilligung von Kriegskrediten sowohl in der Gegenwart als auch im Fall eines neuen Weltkrieges für zulässig? Entsagt Ihr entschieden der verräterischen Parole der nationalen Verteidigung? Ja oder nein?

2. Haltet Ihr sowohl in Friedens- als auch In Kriegszeiten die Beteiligung von Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung für zulässig? Haltet Ihr eine direkte oder indirekte Unterstützung einer bürgerlichen Regierung durch die sozialistischen Parlamentsfraktionen für zulässig? Haltet Ihr es für möglich, in den Reihen Eurer Partei Taugenichtse zu dulden, welche ihre politischen Dienste den kapitalistischen Regierungen, den Organisationen des Kapitals, der kapitalistischen Presse, als verantwortliche Agenten des räuberischen Völkerbundes (Albert Thomas), als Redakteure der bürgerlichen Presse (A. Varine), als Anwälte oder parlamentarische Verteidiger von kapitalistischen Interessen (Paul Boncourt) usw. verkaufen? Ja oder nein?

3. In Anbetracht der räuberischen Gewalttaten des französischen Imperialismus an einer Reihe von schwachen Völkern und insbesondere den rückständigen Kolonialvölkern Afrikas und Asiens, haltet Ihr es für Eure Pflicht, einen unerbittlichen Kampf mit der französischen Bourgeoisie, ihrem Parlament, ihrer Regierung, ihrer Armee, in den Fragen des Weltraubes zu führen? Verpflichtet Ihr Euch, mit allen Euch zu Gebote stehenden Mitteln diesen Kampf überall, wo er entsteht, und vor allem in Form eines offenen Aufstandes der unterdrückten Kolonialvölker gegen den französischen Imperialismus, zu unterstützen? Ja oder nein?

4. Haltet Ihr es für notwendig, sofort einen systematischen und schonungslosen Kampf gegen den offiziellen französischen Syndikalismus zu beginnen, der sich vollständig nach der Seite des wirtschaftlichen Kompromisses, der Zusammenarbeit der Klassen, des Patriotismus usw. orientierte und der systematisch den Kampf um die revolutionäre Enteignung auf dem Wege der Diktatur des Proletariats durch ein Programm der Nationalisierung der Eisenbahnen und der Bergwerke durch den kapitalistischen Staat ersetzt? Haltet Ihr es für die Pflicht der Sozialistischen Partei Hand in Hand mit Loriot, Monatte, Rosmer und anderen in den Arbeitermassen eine energische Agitation einzuleiten für die Säuberung der französischen Gewerkschaftsbewegung von den Jouhaux, Dumoulin, Merrheim und anderen Verrätern an der Arbeiterklasse? Ja oder nein?

5. Haltet Ihr es für möglich, in den Reihen der sozialistischen Partei Propheten der Passivität zu dulden, die den revolutionären Willen des Proletariats lähmen und zersetzen, indem sie ihm den Gedanken einflößen, dass der „gegenwärtige Augenblick” angeblich nicht günstig für seine Diktatur wäre? Haltet Ihr es für Eure Pflicht, den Arbeitermassen im Gegenteil jenen Betrug aufzudecken, kraft dessen der „gegenwärtige Augenblick” in der Auslegung durch die Agenten der Bourgeoisie sich immer nur für die Herrschaft der Bourgeoisie tauglich erweist: vorgestern – weil Europa eine Periode machtvollen industriellen Aufschwungs durchlebte, der die Zahl der Unzufriedenen verringerte; gestern – weil es sich um nationale Verteidigung handelte; heute – weil die Wiederherstellungstätigkeit der Bourgeoisie einen neuen Krieg hervorgerufen hat und zugleich damit auch die Pflicht der nationalen Verteidigung? Meint ihr, dass die sozialistische Partei unverzüglich zur wirklichen ideellen und organisatorischen Vorbereitung des revolutionären Ansturms gegen die bürgerliche Gesellschaft schreiten soll zwecks Eroberung der Staatsmacht in kürzester Frist. Ja oder nein?

B. Die Gruppierungen in der französischen Arbeiterbewegung und die Aufgaben des französischen Kommunismus.

I.

In der Epoche, die dem Kriege vorausging, war die Sozialistische Partei Frankreichs an ihren leitenden Spitzen der vollständigste und vollendetste Ausdruck aller negativen Seiten der II. Internationale: des beständigen Bestrebens zur Zusammenarbeit der Klassen (Nationalismus, Mitarbeit an der bürgerlichen Presse, Kreditbewilligung, Vertrauensvoten gegenüber den bürgerlichen Regierungen usw.), des geringschätzigen oder gleichgültigen Verhaltens gegenüber der sozialistischen Theorie, d. h. den grundsätzlichen sozialrevolutionären Aufgaben der Arbeiterklasse gegenüber, der abergläubischen Verehrung der Götzen der bürgerlichen Demokratie (Republik, Parlament, allgemeines Wahlrecht, Ministerverantwortlichkeit usw.), des äußerlichen, rein dekorativen Internationalismus bei außerordentlicher nationaler Beschränktheit, spießbürgerlichem Patriotismus und nicht selten grobem Chauvinismus.

II.

Als schärfste Form des Protestes gegen diese Seiten der Sozialistischen Partei erschien der revolutionäre französische Syndikalismus. Da die Praxis des parlamentarischen Reformismus und Patriotismus sich in Bruchstücke scheinmarxistischer Theorie verhüllte, versuchte der Syndikalismus seine Opposition gegen den parlamentarischen Reformismus durch die anarchistische Theorie zu stärken, angepasst an die Methoden und Formen der Gewerkschaftsbewegung der Arbeiterklasse.

Der Kampf gegen den parlamentarischen Reformismus verwandelte sich in einen Kampf nicht nur gegen den Parlamentarismus, sondern auch gegen die „Politik” überhaupt, in eine nackte Verneinung des Staates als solchen. Die Syndikate (Gewerkschaften) wurden als einzige berechtigte und wirklich revolutionäre Form der Arbeiterbewegung proklamiert. Der parlamentarischen Vertretung und dem Fürsprechen für die Arbeiterklasse hinter den Kulissen wurde die direkte Aktion der Arbeitermassen gegenübergestellt, wobei der formlosen entschlusskräftigen Minderheit, als Organ dieser direkten Aktion, die entscheidende Rolle zugedacht wurde.

Diese kurze Kennzeichnung des Syndikalismus zeugt davon, dass er bestrebt war, den Bedürfnissen der herannahenden revolutionären Epoche Ausdruck zu geben. Aber die grundlegenden theoretischen Fehler (Fehler des Anarchismus) machten die Bildung eines festen geistig geeinigten revolutionären Kerns unmöglich, der in der Tat fähig wäre, den patriotischen und reformistischen Tendenzen entgegenzutreten. Der sozialpatriotische Sturz des französischen Syndikalismus vollzog sich ganz parallel mit dem Sturz der sozialistischen Partei. Wenn auf dem äußersten linken Flügel der Partei eine kleine Gruppe mit Loriot an der Spitze es gewesen ist, die die Fahne des Aufstandes gegen den Sozialpatriotismus hisste, so fiel auf der äußersten Linken des Syndikalismus dieselbe Rolle der anfangs kleinen Gruppe von Monatte und Rosmer zu: zwischen diesen beiden Gruppen entstand bald die notwendige geistige organisatorische Verbindung.

III.

Wir haben oben darauf hingewiesen, dass die form- und rückgratlose Longuetistische Mehrheit mit ihrer Renaudelschen Minderheit ineinander aufgehen.

Was die sogenannte syndikalistische Minderheit anbelangt, die auf dem letzten Kongress der Syndikate in Lyon in einigen Fragen ein Drittel der Delegierten erreichte, so stellt sie jene noch äußerst formlose Strömung dar, in der revolutionäre Kommunisten und Anarchisten, die noch nicht mit ihren alten Vorurteilen gebrochen haben und „Longuetisten” (Versöhnler) des französischen Syndikalismus nebeneinander stehen. In dieser Minderheit Ist noch der anarchistische Aberglaube gegen die Ergreifung der Staatsmacht sehr stark, wobei sich bei vielen hinter diesem Aberglauben die einfache Angst vor revolutionärer Initiative und das Fehlen des Willens zur Aktion verbergen. Aus der Mitte dieser syndikalistischen Minderheit ist die Idee des Generalstreiks als Mittel zur Verwirklichung der Nationalisierung der Eisenbahnen aufgestellt worden. Das Programm der Nationalisierung, das gemeinsam mit den Reformisten als Losung der Verständigung mit den bürgerlichen Klassen aufgestellt wurde, wird im Wesentlichen als Aufgabe der Gesamtnation, dem reinen Klassenprogramm, d. h. der revolutionären Enteignung des Eisenbahn- und sonstigen Kapitals durch die Arbeiterklasse entgegengesetzt. Aber gerade das kompromisslerisch-opportunistische Gepräge dieser Parole, die dem Generalstreik aufgedrängt wird, lähmt den revolutionären Elan des Proletariats, trägt Unsicherheit und Wankelmütigkeit in seine Mitte und zwingt es in Unschlüssigkeit vor der Anwendung eines seiner äußersten Mittel, wie den Generalstreik, zurückzuweichen, der von ihm die größten Opfer im Namen von rein reformistischen, radikal-bürgerlichen Zielen fordert.

Nur eine klare und ausgeprägte Formulierung der revolutionären Aufgaben durch die Kommunisten kann die notwendige Klarheit in die syndikalistische Minderheit hinein tragen, sie von den Vorurteilen und den zufälligen Mitläufern befreien und, was die Hauptsache ist, ein ausgeprägtes Aktionsprogramm für die revolutionären Proletariermassen geben.

IV.

Derartige rein intellektuelle Gruppierungen, wie die „Clarté, erscheinen höchst symptomatisch für die vorrevolutionäre Epoche, wenn ein kleiner, wenn der beste Teil der bürgerlichen Intellektuellen im Vorgefühl des Anbruchs der tiefsten revolutionären Krise von den durch und durch verfaulten herrschenden Klassen zurückweicht und sich geistig neu zu orientieren sucht. Derartige, ihrem Wesen nach intellektuellen Elemente, die naturgemäß zum Individualismus, zur Absonderung in besondere Gruppierungen, auf Grund persönlicher Sympathien und Anschauungen hin neigen, sind unfähig, ein bestimmtes System von revolutionären Anschauungen auszuarbeiten, um so weniger anzuwenden und reduzieren daher ihre Arbeit auf eine abstrakte, rein idealistische, kommunistisch gefärbte, in humanitäre Tendenzen verwässerte Propaganda. Mit der kommunistischen Bewegung der Arbeiterklasse aufrichtig sympathisierend, weichen derartige Elemente jedoch nicht selten im schärfsten Moment vor dem Proletariat zurück, wenn die Waffe der Kritik durch die Kritik der Waffen ersetzt wird, um dann nachher wieder dem Proletariat Ihre Sympathien zu bringen, wenn es nach Ergreifung der Macht die Möglichkeiten erhalten wird, seine kulturschöpferische Kraft zu entfalten. Die Aufgabe des revolutionären Kommunismus ist, den fortgeschritteneren Arbeitern die rein symptomatische Bedeutung derartiger Gruppierungen zu erklären und an ihrer Idealistischen Passivität und Beschränktheit Kritik zu üben. Die fortgeschrittenen Arbeiter dürfen sich unter keinen Umständen als Chor um intellektuelle Solisten gruppieren – sie müssen eine selbständige Organisation schaffen, die ihre Arbeit leistet, abgesehen von Ebbe und Flut der ihnen dargebrachten Sympathien des besten Teils der bürgerlichen Intellektuellen.

V.

Zur Zeit ist in Frankreich neben der gründlichen Revision der Theorie und Praxis des französischen parlamentarischen Sozialismus eine entschiedene Revision der Theorie und Praxis des französischen Syndikalismus notwendig, damit seine sich selbst überlebenden Vorurteile die Entwicklung der kommunistischen revolutionären Bewegung nicht hemmen sollen.

a) Es Ist vollständig klar, dass die weitere „Negierung” der Politik und des Staates durch den französischen Syndikalismus eine Kapitulation vor der bürgerlichen Politik bedeuten würde. Es genügt nicht, den Staat zu negieren, man muss sich seiner bemächtigen, um ihn zu überwinden. Der Kampf um die Besitzergreifung des Staatsapparates ist eine revolutionäre Politik. Auf sie zu verzichten, bedeutet auf die Grundaufgaben der revolutionären Klasse verzichten.

b) Die entschlusskräftige Minderheit, der die syndikalistische Theorie die Führung übertrug, indem sie sie in Wirklichkeit über die gewerkschaftlichen Massenorganisationen der Arbeiterklasse setzte, kann nicht formlos bleiben. Wenn man aber diese entschlusskräftige Minderheit der Arbeiterklasse richtig organisiert, wenn man sie durch innere Disziplin, die den unerbittlichen Bedürfnissen der revolutionären Epoche entspricht, verbindet, wenn man sie durch eine richtige Doktrin, ein wissenschaftlich aufgebautes Programm der proletarischen Revolution ausrüstet, so haben wir nichts anderes vor uns, als eine kommunistische Partei, die über allen anderen Formen der Arbeiterbewegung steht und ihre gesamte Arbeit geistig befruchtet und lenkt.

c) Die Syndikate, die die Arbeiter nach Industrien zusammenfassen, können nicht zum Organ der revolutionären Herrschaft des Proletariats werden. Einen solchen Apparat der entschlusskräftigen Minderheit (der kommunistischen Partei) zu liefern, vermögen nur die Sowjets, die die Arbeiter aller Distrikte, aller Industriezweige, aller Berufe umfassen und die dadurch die grundlegenden allgemeinen, d.h. sozialrevolutionären Interessen des Proletariats in den Vordergrund rücken.

VI.

Hieraus folgt die eherne Notwendigkeit der Schaffung einer Kommunistischen Partei Frankreichs, in der sowohl der revolutionäre Flügel der jetzigen Sozialistischen Partei, wie der revolutionäre Trupp des französischen Syndikalismus vollständig aufgehen müssen. Die Partei muss ihren eigenen vollständig selbständigen, streng zentralisierten Apparat schaffen, unabhängig von der heutigen Sozialistischen Partei, und von der CGT und den lokalen Syndikaten.

Die heutige Lage der französischen Kommunisten, die die innere Opposition der CGT und der Sozialistischen Partei bilden, verwandelt den französischen Kommunismus gewissermaßen in einen unselbständigen Faktor, in eine gewissermaßen negative Ergänzung der bestehenden Organe (Partei und Syndikate) und nimmt ihm die notwendige Kampfkraft, den unmittelbaren Zusammenhang mit den Massen und die führende Autorität.

Aus diesem Vorbereitungsstadium muss der französische Kommunismus unter allen Umständen herauskommen.

Den Ausweg bildet das sofortige Herangehen an den Aufbau einer zentralisierten kommunistischen Partei und vor allem die sofortige Schaffung von Tageszeitungen in allen Hauptzentren der Arbeiterbewegung, die im Gegensatz zu den jetzigen Wochenblättern nicht Organe der inneren Organisationskritik und der abstrakten Propaganda sein sollen, sondern Organe der unmittelbaren revolutionären Anregung und der politischen Leitung des Kampfes der proletarischen Massen.

Die Schaffung einer kampffähigen kommunistischen Partei in Frankreich ist heute eine Lebensfrage für die revolutionäre Bewegung des französischen Proletariats.

L. Trotzki.

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