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Leo Trotzki 19211215 An den Kongress der Kommunistischen Partei Frankreichs in Marseille

Leo Trotzki: An den Kongress der Kommunistischen Partei Frankreichs in Marseille

[Nach Die Tätigkeit der Exekutive und des Präsidiums des E.K. der Kommunistischen Internationale vom 13. Juli 1921 bis 1. Februar 1922, Petrograd 1922, S. 322-327]

Werte Genossen!

Die Kommunistische Internationale sendet ihrer auf dem Parteitag vereinigten französischen Sektion brüderliche Grüße.

Ein Jahr ist vergangen, seitdem Ihr in Tours unter schweren Kämpfen den „Kriegssozialismus” liquidiert, Euch von der Zweideutigkeit des Reformismus befreit und den Anschluss an die Kommunistische internationale vollzogen habt.

Die Genossen, die Euch verließen – und wie viele von Euch haben das vielleicht zuerst bedauert – haben sich gleichfalls von der Zweideutigkeit befreit. Sie hatten versichert, dass sie trotz ihres Austritts aus der Partei Revolutionäre bleiben würden, Freunde und Verteidiger der russischen Revolution. Aber ihr Gegensatz zu den Grundsätzen des Kommunismus, der sie aus der gereinigten Partei heraus trieb, machte sie sofort zu wahrhaften Konterrevolutionären, die die Schmähungen der kapitalistischen Presse gegen die russische Revolution wiederholen und die konterrevolutionären Sozialdemokraten verteidigen, die zu den erbittertsten Feinden der Revolution der Arbeiter und Bauern gehören.

Die Partei der Dissidenten kommt immer mehr unter den Einfluss und die politische Leitung von Leuten, wie Renaudel, Grumbach und Blum, d. h. von Leuten, die während des Krieges die französische Arbeiterklasse und den internationalen Sozialismus verrieten, von Leuten, die noch jetzt an ihre Politik der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie festhalten und die sich der französischen Partei zur Verbindung der Wiener Internationale mit der Zweiten Internationale der königlichen Minister bedienen.

Tours und sein Werk der Spaltung, der energischen Reinigung, waren das notwendige und unausbleibliche Ergebnis der Reaktion und der Erbitterung der Arbeiterklasse gegen den Reformismus und den Kriegssozialismus, die ihre Interessen verraten hatten.

Aber Tours war auch der Ausgangspunkt einer neuen Epoche in der Geschichte der revolutionären Bewegung Frankreichs: Die Kommunistische Partei erstand. Ein Jahr trennt uns von dem Kongress von Tours. Heute gibt es keinen Revolutionär mehr, der das Werk der Spaltung und der Reinigung, das dort vollzogen wurde, bedauert. Aber es ist nicht nur notwendig, einen Blick auf den Weg der Feinde des Kommunismus zu werfen, wir müssen auch die Arbeit prüfen, die von der Kommunistischen Partei in dem ersten Jahre ihrer Tätigkeit verrichtet wurde.

Die Kommunistische Internationale begrüßt freudig die Ergebnisse Eurer Bemühungen, Eure Föderationen umzugruppieren und zu reorganisieren, eine große Partei von 130.000 Mitgliedern zu bilden und Eure Presse zu heben.

Den Widerstand gegen den Imperialismus und die Reaktion, deren festeste Stütze in der ganzen Welt die französische Bourgeoisie darstellt, kann nur die Kommunistische Partei und ihre Presse organisieren. Im Laufe dieses Jahres ist es der Partei gelungen, einen ständig wachsenden Einfluss auf die Arbeitermassen und die Kleinbauern Frankreichs zu gewinnen.

Diese Resultate, die uns mit Freude erfüllen, dürfen indessen uns nicht die Schwächen und die Mängel dieses ersten Jahres verschleiern. Die Kommunistische Internationale begnügt sich heute nicht mehr damit, Grüße und Glückwünsche an ihre Sektionen zu richten. Es ist ihre Pflicht. brüderlich ihre Schwächen aufzuzeigen und in engster Zusammenarbeit und Verbindung mit ihnen den Weg zu ihrer Beseitigung zu suchen.

Wenn wir die Arbeit dieses ersten Jahres kritisieren, so rechnen wir auch mit dem Zustand, in dem die Spaltung von Tours die Partei gelassen hat. Wir wissen, dass eine Partei, die eine solche Verirrung während des Krieges über sich ergehen ließ, nicht durch die Annahme einer Parteitagsresolution von heute auf morgen kommunistisch werden kann. Die Abstimmung von Tours kennzeichnete den Willen der Partei, eine kommunistische Partei zu werden. Dieses erste Jahr musste also ein ständiges Bemühen, fortwährende Arbeit aufzeigen, um der Partei ihren kommunistischen Charakter zu geben.

Die Bemühungen der Partei waren groß. Sie haben nicht genügt. Mit Euch wünschen wir einige der Ursachen hierfür zu suchen, überzeugt, dass der Kongress von Marseille gewillt ist, mit aller Kraft das in Tours begonnene Werk fortzusetzen, die Anregungen der Internationale in Erwägung zu ziehen, um den kommunistischen Charakter der Partei und ihrer Politik zu verstärken.

Die Partei hatte unter der Schwäche ihrer Leitung zu leiden. Das Zentralkomitee ist durch ein Übermaß administrativer Arbeiten in Anspruch genommen, aber es ist nicht imstande, der Partei eine feste politische Leitung zu gehen. Es hat nicht Tag für Tag sich von dem Gedanken leiten lassen, die Aktivität der Partei zu verstärken. Es hat nicht eine einheitliche Gesinnung geschaffen.

Die Partei hat gelitten unter dem Mangel einer Agrarpolitik, einer Gewerkschaftspolitik, einer Wahlpolitik. Das Zentralkomitee hat die Prüfung und die Lösung aller dieser Probleme dem Kongress von Marseille überlassen, befürchtend, dass die Föderationen ihr Diktatur vorwerfen würden, wenn sie diese Probleme selber löse.

Jeder Revolutionär wird aber begreifen, dass die Leitung einer kommunistischen Partei, die von dem Kongress gewählt wurde und also das Vertrauen der Partei besitzt, die weitgehendsten Kompetenzen haben muss, um die Politik der Partei im Sinne der Thesen und Beschlüsse der nationalen und internationalen Kongresse zu leiten.

Es ist notwendig, dass aus Marseille eine viel festere Parteileitung hervorgeht, die zu einer wirklichen politischen Führung imstande ist, die den Geist der Partei kontrolliert und beeinflusst, die parlamentarische Arbeit leistet und Tag für Tag zu allen Fragen der französischen und internationalen Politik Stellung nimmt.

Es erscheint uns nützlich, die administrativen Angelegenheiten einem besonderen Sekretariat zu übertragen und aus den Reihen des Zentralkomitees eine Leitung von mindestens fünf Mitgliedern zu ernennen, deren wichtigste Aufgabe diese tägliche Leitung der Aktivität und des Geistes der Partei sein wird.

Als Konsequenz dieser Arbeit einer festeren Parteileitung ist es notwendig, in der Partei einen Geist größerer Disziplin zu entwickeln. Die Kommunisten müssen sich in erster Linie als Mitglieder der Partei fühlen und in ihrem ganzen öffentlichen und privaten Leben als solche handeln.

Die Frage der Gewerkschaftspolitik der Partei ist sicherlich die wichtigste und schwerste, die dem Parteitag von Marseille gestellt ist und deren Lösung der Partei während des ersten Jahres ihres Bestehens gefehlt hat.

Wenn die Kommunistische Partei die Vorhut und der Preisfechter der sozialen Revolution sein will, so muss sie sich um die gewerkschaftlichen Fragen bekümmern. Es gibt keine Arbeiterfragen, die nicht gleichzeitig gewerkschaftliche Fragen sind; es gibt keine Arbeiterfragen, die nicht die Partei angehen. Die Partei muss also eine feste Linie gegenüber den gewerkschaftlichen Fragen einhalten. Sie muss vor der Arbeiterklasse das Recht und die Pflicht in Anspruch nehmen, sich aktiv mit diesen Fragen zu beschäftigen. Sie muss von ihren Mitgliedern verlangen, dass sie in der Gewerkschaft ebenso Kommunisten sind wie in der Partei.

Eine kommunistische Partei kann nicht dulden, dass ihre Mitglieder noch die Politik von Jouhaux und der Amsterdamer Internationale unterstützen. Sie muss deutlich allen, die mit Jouhaux gehen, sagen, dass ihr Platz in der Partei der Renaudel, Albert Thomas und Longuet ist.

Die Partei muss in gleicher Weise energisch die anarchistischen und syndikalistischen Ideen bekämpfen, die die Rolle der Partei in der Revolution leugnen. Ebenso klar muss sie versichern, dass ihr Wille und der Wille der Kommunistischen Internationale nicht die Unterordnung der Gewerkschaften unter die Partei ist, sondern die Arbeit, aller Parteimitglieder in dem Kampfe der gewerkschaftlichen Minderheit in Frankreich.

Die Partei muss die engste Zusammenarbeit mit denjenigen Syndikalisten suchen, die ihre revolutionäre Auffassung im Zusammenhang mit der Geschichte der letzten Jahre revidiert haben, indem sie brüderlich mit ihnen über alle revolutionären Probleme diskutieren.

Die Partei muss versuchen, sie zu einer genauen Umschreibung ihres gegenwärtigen Standpunktes zu bewegen, und sie muss alle anarcho-syndikalistischen Überbleibsel bekämpfen. Wir zweifeln nicht, dass die Partei, wenn sie eine wahrhaft revolutionäre und kommunistische Partei wird, nicht nur die Sympathie und das Vertrauen der großen proletarischen Massen in Frankreich gewinnen wird, sondern auch die syndikalistisch-kommunistischen Genossen, die ihr noch misstrauen, zum Eintritt bewegen wird. Durch eine Politik ohne Opportunismus und ohne Schwanken wird sie diese Elemente gewinnen. Der Thesenentwurf zur Frage der Gewerkschaften, der durch Euer Zentralkomitee ausgearbeitet wurde, ist nur der erste Grundriss zur Klärung dieser grundlegenden Frage.

Diejenigen Leute, die sagen, dass der wirtschaftliche Kampf die Partei nichts angeht, sind entweder Narren oder Leute, die sich über den Kommunismus lustig machen wollen. Die Partei muss in sich alle besseren Elemente der Arbeiterklasse aufsaugen, und sie muss sich mit allen Formen des Klassenkampfes befassen, einschließlich des wirtschaftlichen Kampfes.

Die Gewerkschaft als Gewerkschaft untersteht nicht der Partei als Partei. In diesem Sinne sind die Gewerkschaften autonom. Aber die Kommunisten, die in den Gewerkschaften tätig sind, müssen stets als disziplinierte Kommunisten handeln.

Infolge einer Reihe besonderer Umstände gibt es noch heute außerhalb der Reihen der Kommunistischen Partei Frankreichs eine Anzahl wertvoller revolutionärer Elemente, die sich als Syndikalisten betrachten. Wir müssen uns mit ihnen verständigen und uns früher oder später mit ihnen in den Reihen der einigen Kommunistischen Partei vereinigen. Aber wir können und dürfen nicht Vorurteile des Syndikalismus gegenüber der Partei und der politischen Aktion ermutigen.

Als die Delegation der Kommunistischen Partei in Moskau auf dem Dritten Kongress war, lenkte das Exekutivkomitee seine Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit einer Kontrolle der nicht offiziellen Parteipresse durch das Zentralkomitee.

Das Exekutivkomitee hatte besonders im Auge den Fall der Vague Brizons und des Journal du Peuple Fabres, die beide eine Politik führten, die zu der Politik der Partei und der Internationale im Widerspruch stand.

Die klaren Thesen des Zweiten Internationalen Kongresses bestimmten, dass kein Parteimitglied für sich eine sogenannte Pressefreiheit beanspruchen dürfe, um Organe herauszugeben, die nicht unter der vollständigen politischen Kontrolle der Partei stehen.

Die Exekutive hat entsprechend der Einmütigkeit der französischen Delegation in Moskau von der Parteileitung keinerlei offizielle Antwort zu diesem Punkte erhalten. Sie fordert von dem Kongress von Marseille, ihr die Antwort der Partei auf diese Frage zu geben, die sie als eine der elementarsten Fragen der kommunistischen Disziplin betrachtet und die von der Parteileitung hätte entschieden werden können und müssen.

Die Verzögerung der Lösung dieses Problems ist um so bedauerlicher, als seit jenem Beschluss sich um das Journal du Peuple eine ganze opportunistische Richtung kristallisiert hat, die das Werk von Tours bedauert, die Abspaltung der Dissidenten und Serratis beklagt und sogar die offene Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien in der Form des Linksblockes propagiert. Es ist nicht erstaunlich, dass diese Genossen, die diese den kommunistischen Grundsätzen absolut widersprechende Politik treiben, sich durch unsere Resolution getroffen fühlen und versuchen, die Verantwortung auf den französischen Vertreter der Exekutive abzuwälzen.

Wir hoffen, dass die in Marseille vereinte Partei deutlich ihren Gegensatz zu einer solchen Politik zum Ausdruck bringen und diese Gruppe von Genossen zur kommunistischen Disziplin zurückbringen wird.

Es erscheint uns notwendig, dass die französische Partei versucht, in engster und ständiger Verbindung mit den Arbeitern der Betriebe zu bleiben. Viel zu oft hat die Parteipresse einen mehr unzufriedenen als proletarischen revolutionären Charakter. Die Parteileitung umfasst auch eine zu geringe Anzahl von Arbeitern aus den Betrieben. Er erscheint uns notwendig, bei der Wahl der neuen Parteileitung dem Arbeiterelement einen viel größeren Platz einzuräumen.

Die französische Partei stand schon immer zu sehr abseits von dem Leben der Internationale. Wir hoffen, dass in Zukunft engere und häufigere Verbindungen der französischen Partei erlauben werden, einen tätigen und fruchtbaren Anteil an dem ganzen Leben der Kommunistischen internationale zu nehmen.

Wie wir die französischen Fragen als Fragen der ganzen Internationale betrachten, so hoffen wir auch, dass die Arbeiter Frankreichs alle Fragen, die das deutsche, russische, amerikanische usw. Proletariat angehen, als ihre eigenen Fragen betrachten und durch Diskussionen über sie tätigen Anteil an der Arbeit und dem Kampfe aller Sektionen der Internationale nehmen werden.

Alle diese wichtigen Fragen, die nach unserer Ansicht zum großen Teil die Parteileitung im Laufe des Jahres hätte erledigen müssen, unterliegen heute der Entscheidung des Kongresses von Marseille

Wir hoffen, dass die Arbeiten des Kongresses, nur beeinflusst von dem großen Wunsch und der heißen Hoffnung, die soziale Revolution zum Triumph zu führen, Eurer Partei einen neuen großen Aufschwung, eine feste theoretische Basis und eine klare Taktik geben werden.

Nach diesem ersten Jahre der Stabilisierung und der Organisation muss der Kongress von Marseille eine neue große Etappe sein und der Beginn eines Jahres intensiver und fruchtbarer Arbeit. Arbeit nach außen hin zur Eroberung der großen Massen für unser Ideal; ein Jahr des Kampfes auch, des immer erbitterteren Kampfes gegen den Reformismus von Amsterdam, London, Gent und Wien; eines Kampfes, um den Imperialismus zu schwächen und zu besiegen.

Auf Eurem Kongress müsst Ihr die Waffen für diese Schlachten und diese Arbeiten, die Euch erwarten, schärfen.

Die Kommunistische Internationale hofft, dass Marseille ein noch wichtigeres Datum in der Geschichte Eurer Partei sein wird, als das von Tours. Sie blickt auf Eure Arbeiten mit größtem Interesse, in dem Bewusstsein, dass die französische Partei ihre volle Pflicht in dem gemeinsamen Werk der vollständigen Befreiung der Arbeiter erfüllen wird.

Es lebe die Französische Kommunistische Partei, es lebe die Kommunistische Internationale, es lebe die Weltrevolution!

Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale.

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