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Leo Trotzki 19211206 Brief an M. Olminskij

Leo Trotzki: Brief an M. Olminskij

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 4. Jahrgang Nr. 166 (22. Dezember 1924), S. 2284 f. Der Brief wurde von Olminskij als Teil der Kampagne der Troika Sinowjew-Kamenew-Stalin gegen Trotzki als „Belastungsmaterial“ veröffentlicht]

Lieber Michael Stepanowitsch!

Entschuldigen Sie, dass ich mich mit der Antwort verspätet habe. In dieser Woche war ich mit Arbeit sehr überhäuft. Sie fragen bei mir wegen der Drucklegung meiner Briefe an Tschcheidse an. Ich glaube nicht, dass sie am Platze wäre. Die Zeit für die Geschichte ist noch nicht gekommen. Die Briefe wurden unter dem Eindrucke des Augenblicks und seiner Bedürfnisse geschrieben, der Ton der Briefe entsprach dem auch. Der jetzige Leser wird diesen Ton nicht verstehen, wird nicht die notwendigen geschichtlichen Korrekturen vornehmen und nur zu falschen Deutungen kommen. Aus dem Auslande müssen das Parteiarchiv und die ausländischen marxistischen Ausgaben eintreffen. Dort gibt es eine große Anzahl von Briefen aller jener, die an der ,Rauferei' teilgenommen haben. Sie haben doch nicht die Absicht, sie gleich abzudrucken? Dies würde völlig überflüssige Schwierigkeiten schaffen, denn es gibt in der Partei kaum zwei alte Emigranten, die nicht einander unter dem Einflusse des ideologischen Kampfes der augenblicklichen Erbitterung usw. kräftig beschimpft hätten.

Zu meinen Briefen Erklärungen schreiben? Aber dies würde bedeuten, davon zu erzählen, worin ich damals mit den Bolschewiki verschiedener Meinung war. Im Vorworte zu meiner Broschüre ,Ergebnisse und Aussichten' habe ich davon kurz gesprochen. Dies wegen des zufälligen Anlasses der Auffindung von Briefen in den Akten des Polizeidepartements zu wiederholen, sehe ich keine Notwendigkeit. Es muss noch hinzugefügt werden, dass eine Rückschau auf den Fraktionskampf auch jetzt Anlass zu einer Polemik geben könnte, denn – ich beichte dies reinen Herzens – ich glaube durchaus nicht, dass ich bei meinen Meinungsverschiedenheiten mit den Bolschewiki in allem Unrecht hatte. Unrecht hatte ich – und dies gründlich – bei der Einschätzung der menschewistischen Fraktion, indem ich ihre revolutionären Möglichkeiten überschätze und darauf hoffte, dass es gelingen würde, den rechten Flügel in ihr zu isolieren und zu vernichten.

Dieser grundlegende Fehler ergab sich jedoch daraus, dass ich an beide Fraktionen – sowohl an die bolschewistische wie an die menschewistische – vom Standpunkte der Gedanken der permanenten Revolution und der Diktatur des Proletariats heranging, während sowohl die Bolschewiki wie die Menschewiki damals auf dem Standpunkte der bürgerlichen Revolution und der demokratischen Republik standen. Ich dachte, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Fraktionen grundsätzlich nicht so tief wären, und hoffte (diese Hoffnung sprach ich mehr als einmal in Briefen und Referaten aus), dass der Gang der Revolution selbst beide Fraktionen zur Stellung für die permanente Revolution und die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse bringen werde, was auch im Jahre 1905 teilweise geschah. (Das Vorwort des Genossen Lenin zum Artikel Kautskys über die Triebkräfte der russischen Revolution und die ganze Linie der Zeitung ,Natschalo', das heißt ,Anfang'.)

Ich glaube, dass meine Einschätzung der Triebkräfte der Revolution unbedingt richtig war, dass aber die Schlussfolgerungen, die ich daraus in Bezug auf beide Fraktionen zog, unbedingt unrichtig waren. Nur der Bolschewismus konzentrierte dank seiner unversöhnlichen Linie in seinen Reihen die tatsächlich revolutionären Elemente, sowohl der alten Intelligenz wie auch der vorgeschrittenen Schichte der Arbeiterklasse. Nur dank dem Umstande, dass es dem Bolschewismus gelang, diese revolutionär zusammen geschmiedete Organisation zu schaffen, erwies sich die so schnelle Wendung von der revolutionär-demokratischen Position zur revolutionär-sozialistischen als möglich.

Auch jetzt könnte ich ohne Mühe meine polemischen Artikel gegen die Menschewiki und die Bolschewiki in zwei Kategorien teilen: Die einen sind der Analyse der inneren Kräfte der Revolution und ihren Perspektiven gewidmet (theoretisches polnisches Organ von Rosa Luxemburg, „Neue Zeit"), und die anderen der Einschätzung der Fraktionen der russischen Sozialdemokraten, ihrem Kampfe usw. Die Artikel der ersten Kategorie könnte ich auch jetzt ohne Verbesserungen herausgeben, da sie mit der Stellungnahme unserer Partei, beginnend vom Jahre 1917, voll und ganz zusammenMlen. Die Artikel der zweiten Kategorie sind offensichtlich verfehlt, und es würde nicht verlohnen, sie von neuem auszugeben. Die zwei gesandten Briefe beziehen sich auf die Artikel der zweiten Kategorie, ihre Veröffentlichung ist unzeitgemäß. Überlassen wir es irgendjemandem, dies nach zehn Jahren zu tun, wenn man sich dann dafür zu interessieren beginnen sollte.

6. Dezember 1921.

Mit kommunistischem Gruße

L. Trotzki.

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