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Leo Trotzki 19210830 Die Hungersnot in Russland und die Weltlage

Leo Trotzki: Die Hungersnot in Russland und die Weltlage

(Rede vor dem Rat der Arbeiter- und Bauerndeputierten des Stadt- und Landkreises Moskau am 30. August 1921.)

[Nach Russische Korrespondenz, II. Jahrgang, Heft 10/11, November 1921, S. 896-908]

1. Warum hat der Hunger Russland in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt?

Genossen, unsere Hungersnot und überhaupt Sowjetrussland stehen gegenwärtig im Mittelpunkt des Interesses der ganzen zivilisierten Menschheit. Überall spricht, schreibt, diskutiert man über die Hilfeleistung für die Hungernden des Wolgagebietes. Am energischsten, ehrlichsten und leidenschaftlichsten agitieren hierfür die Arbeiterorganisationen und ihre Organe und vor allem die Kommunisten. Das ist durchaus verständlich. Die tiefe Sympathie und die immer stärker werdende Unterstützung durch die werktätigen Massen Europas und der ganzen Welt waren und sind die Grundbedingung der Erhaltung der Sowjetmacht. Die Grundlage für die proletarische Hilfe bildet überall in der Welt die völlige Einheit der Interessen aller Schaffenden.

Viel weniger verständlich erscheint jedoch die Tatsache, dass die Frage der Hilfeleistungen so lebhaft auch von den herrschenden Klassen und Regierungen aller bürgerlichen Länder aufgegriffen worden ist. Selbst vor 4 Jahren, unmittelbar nachdem unsere Arbeiterklasse die Macht ergriffen, stand Sowjetrussland nicht in solchem Maße im Brennpunkt des Weltinteresses wie heute. Die Minister, Großindustriellen, Börsianer, Zeitungsleute, Parlamentarier interessieren sich in stärkster Weise für die Frage der Hungerhilfe. Das ist, Ihr werdet es zugeben, schon etwas weniger leicht begreiflich. Gewiss, o gewiss: niemand von uns zweifelt daran, dass die Börsenleute, Unternehmer und Minister sehr gute, geradezu goldene Herzen haben. Aber dieses Herz hat sie nicht gehindert, uns mit blutigen, verwüstenden Interventionskriegen zu überfallen, uns mit dem Stacheldraht der Blockade von der übrigen Welt abzusperren.

Es ist sonnenklar, dass außer Humanität, Menschlichkeit und anderen hohen, aber unwägbaren Dingen es irgendwelche andere, durchaus handgreifliche und abwägbare Gründe und Kräfte sein müssen, die die Herren in Washington, London und Paris bewegen, sich die Lage der hungernden Bevölkerung des Wolgabeckens so sehr zu Herzen zu nehmen und ihre Aufmerksamkeit zu teilen zwischen der irischen Frage, den japanischen Marinerüstungen, dem griechisch-türkischen Kriege auf der einen und der grauen Not des Kasanschen und Samaraschen Muschik auf der anderen Seite. Ohne einen solchen tieferen Grund wäre das, was heute in der Welt geschieht, gar nicht zu verstehen. Die Zeitungen sind voll von Artikeln, die Minister halten Reden, die Parlamentskommissionen beraten, die Funkstationen spielen nach allen Seiten, – und alle sprechen über eines, alle denken einen Gedanken: wie helfen wir dem Kasanschen und Samaraschen Gouvernement, zwei Gebieten – die lange nicht alle von diesen Herrn Ministern auf der Karte zu zeigen vermöchten.

Versteht sich, die Regierungen, die Industriellen und die Börsianer sind gezwungen, auch mit jenem selbstlosen und immer stärker anschwellenden Willen, Russland zu helfen, zu rechnen, der von unten herauf drängt; aber der Kern der Sache ist dennoch der, dass unter dem Anschein, die Frage der Hilfe für die Hungernden zu lösen, in Wahrheit ein neuer und, wie es scheint, entscheidender Versuch gemacht wird, in vollem Umfange und recht praktisch eine andere Frage zu lösen: die Frage des Verhältnisses zu Sowjet-Russland und seine Einbeziehung in den Ring der Weltwirtschaft

Der Hunger in Russland fällt nämlich zusammen mit einer ihrer Tiefe nach unerhörten Handels- und Industriekrise in der ganzen Welt.

Der Kapitalismus ist heute dabei, an die Bezahlung der Rechnung für die Zerstörung und Verwüstung des Krieges heranzugehen, und in dem Versuch der Bezahlung gibt sich die kapitalistische Welt Rechnung, was sie verloren, zerstört hat, und was ihr heute fehlt.

Diese Inventuraufnahme der Weltwirtschaft bedroht die Bourgeoisie nicht minder als jene revolutionäre Welle, welche Europa unmittelbar nach dem Krieg überspülte. Hier geht es um das Fundament der Herrschaft der Bourgeoisie, der Kapitalisten selber.

Wenn im Laufe der letzten anderthalb Jahre die Bourgeoisie sich politisch erholt hat, ihren staatspolizeilichen Apparat wieder herstellen konnte, so fühlt sie in wirtschaftlicher Beziehung erst jetzt ganz klar den Abgrund, der sich vor ihren Füßen auftut. Der Umsatz des internationalen Handels in den ersten 6 Monaten dieses Jahres (1921) beträgt kaum die Hälfte des internationalen Umsatzes während der ersten Hälfte des vorigen Jahres. Indessen war auch schon die erste Hälfte des vorigen Jahres von jener tiefen Krise erfasst, die im März zum Ausdruck kam (Japan, Vereinigte Staaten von Amerika).

Übrigens hat sogar das Jahr 1919 – das Jahr eines künstlichen, scheinbaren, fiktiven Handels- und Industrieaufschwunges – dennoch den überaus großen Niedergang des Handels und der Industrie im Vergleich mit der Vorkriegszeit offenbart. Es ist deshalb nur natürlich, wenn die Hauptorgane der Bourgeoisie die Wiederherstellung der kapitalistischen Wirtschaft auf der sicheren Grundlage geordneter internationaler Beziehungen, d. h. auf der Grundlage einer „Arbeitsteilung" im Weltmaßstabe sieht.

Die heikelste Frage auf diesem Wege ist – Sowjet-Russland. Ohne seine Einbeziehung in das Wirtschaftsleben, ohne die Hebung seiner Produktions- und Kaufkraft sieht die kapitalistische Welt schon keine Möglichkeit mehr, aus ihren Schwierigkeiten herauszukommen.

Aber man wird sagen und sagt auch: „Ja, man darf doch nicht vergessen, dass Sowjet-Russland – ein sozialistischer Staat ist, dass an seiner Spitze die Kommunistische Partei steht, deren Gedanke einzig und allein gerichtet ist auf den Sturz des Kapitalismus der ganzen Welt, deren Führer auf dem 3. Kongress der Internationale aufs Neue ihren unerschütterlichen Glauben an die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruches der kapitalistischen Gesellschaft erklärt haben." Was hat es unter diesen Verhältnissen für einen Sinn für die Bourgeoisie, die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland wieder herzustellen? So stellen die Frage einerseits einige der allerverbohrtesten Apostel des Bürgertums; andererseits – mit ganz anderer Begründung natürlich – manche ganz „linken, erzlinken" Kritiker Sowjet-Russlands.

Die Unvermeidlichkeit der proletarischen Revolution in Europa gegenüberzustellen den Handelsbeziehungen Europas mit dem proletarischen Staat Sowjet-Russland, – das heißt den wirklichen Ablauf des Uhrwerks der Entwicklung nicht begreifen.

Vor allem: Die Bourgeoisie erkennt die Unvermeidlichkeit ihres Unterganges als Klasse gar nicht an, sie will kämpfen, ja mehr als das, mit Hilfe der Handelsbeziehungen macht sie sich Hoffnung, Sowjet-Russland umzugestalten, es ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Folglich sind die Beziehungen zwischen dem Weltkapitalismus und Sowjet-Russland, darunter auch die „friedlichen", die Handelsbeziehungen, nur ein Bestandteil, nur eine Etappe im Krieg zwischen der Welt-Herrschaft der Kapitalisten und der Wirtschaftsordnung, die ihre Nachfolgerin wird.

Aber nicht nur das: Wenn ein einzelner Kaufmann, der theoretisch die Unvermeidlichkeit seines persönlichen Todes durchaus anerkennt, deshalb doch durchaus nicht aufhört zu feilschen und zu markten und bis zum letzten Atemzuge Profit zu machen, – um wie viel weniger kann dem Handel und der Profitmacherei eine ganze Klasse entsagen, selbst wenn sie sich dazu bereit fände, uns zu glauben, dass ihr geschichtlicher Untergang unabwendbar ist …

Aber lassen wir die Philosophie. Tatsache ist, dass die bürgerlichen Staaten, ohne damit auf den Kampf gegen uns zu verzichten, mit uns Verträge schließen. Tatsache ist, dass, ohne im Hass gegen uns nachzulassen, sie mit uns Abmachungen treffen und manchmal sogar auf sehr lange Zeit. Das heißt durchaus nicht, dass derartige Verträge es der Geschichte verbieten, sich als unbeteiligter Dritter einzumischen und vermittels einer Revolution einen der beiden Vertragschließenden zu streichen. Mit der Geschichte hat noch keiner einen Vertrag abgeschlossen. Wenn wir den oder jenen Vertrag unterschreiben, so bedeutet das, dass wir nur für uns verantwortlich sind. Entgegen den blödsinnigen Behauptungen einer feilen Presse erfüllen wir unsere Verträge mit völliger Gewissenhaftigkeit – Nicht aus Sympathie für die andere Seite, sondern aus der Erkenntnis unserer eigenen Interessen. – Für die Geschichte aber sind wir nicht verantwortlich …

2. Menschenliebe und Berechnung.

Es kann keinem Zweifel unterliegen – ich kehre zu meinem Grundgedanken zurück – dass unter der Deckung philanthropischer Organisationen, „Roter-Kreuz"gruppen usw. eine Neu- Orientierung der kapitalistischen Regierungen gegenüber Sowjet-Russland vor sich geht. Gerade diese unsere neue Hungerheimsuchung hat die Weitestblickenden unter den imperialistischen Führern ganz klar davon überzeugt, dass außer der Sowjetmacht und der führenden Kommunistischen Partei es in Russland keine andere Kraft gibt, die überhaupt mit Aussicht auf Erfolg die Organisation, die Ordnung und die wirtschaftliche Wiederaufrichtung des Landes auf sich nehmen könnte.

Lloyd George hat, wenn die Nachrichten einiger Zeitungen stimmen, in der Sitzung des Obersten Rates gesagt, dass die russische Frage, die Frage der Hungersnot in Russland keine Frage der Philanthropie sei; dass es wesentlich darauf ankomme, zur Herstellung solcher wirtschaftlicher Wechselbeziehungen mit Sowjet-Russland zu gelangen, dass dabei dessen wirtschaftlicher Wiederaufbau gesichert werde. Hierin hat Lloyd George unbedingt recht. Die Philanthropie kann nur die Bedeutung eines Palliativmittels haben und auch das nur mit sehr begrenzter Wirkung. Vom Standpunkt des Weltkapitalismus aus gesehen, steht die Frage so: in Russland ein Kapital derart anzulegen, dass für die Zukunft ein genügend hoher Profit garantiert ist.

Freilich, an dem diesmaligen Hilfswerk nehmen großen Anteil auch wirkliche, anerkannte bürgerliche Menschenfreunde, wie zum Beispiel die amerikanischen Quäker und andere. Aber auch sie sind nicht nur Philanthropen. Auch sie erfüllen – sei es selbst unbewusst – eine gewisse Funktion im Selbsterhaltungskampf ihrer Klasse um deren Herrschaft. Ähnlich wie die Eroberung der Kolonialländer fast immer und überall mit der Entsendung von Missionaren begann, denen dann bald die Kaufleute und Soldaten, „Schutztruppen" folgten, – so kann auch die Wiederherstellung von Handelsbeziehungen mit uns ganz gut mit einer philanthropischen Hilfe anfangen. Unabhängig vom persönlichen Willen einzelner Menschen – welche hierbei ganz selbstlos und uneigennützig wirken können – tut die Philanthropie in diesem Falle die Arbeit eines weit ausgreifenden Kundschafterdienstes, sie schafft die Stützpunkte und jene Atmosphäre des Wohlwollens und des Verständnisses, ohne die Handelsbeziehungen unmöglich sind. Hiermit will ich durchaus nicht irgendwelche philanthropische Wirksamkeit herabsetzen. Im Gegenteil, befreit von jeglichem Seifenschaum sentimentaler Phrasen oder scheinheiliger Bedingtheiten erhält diese Wirksamkeit eine viel größere Bedeutung in unseren Augen. Sie kündigt den Anbruch einer neuen Etappe in den Beziehungen zwischen uns und der kapitalistischen Welt an.

Ich wiederhole: die weitest blickenden Elemente der Bourgeoisie haben begriffen oder fangen an zu begreifen, dass im heurigen Russland – nach dem imperialistischen Weltkrieg, nach dem revolutionären Bürgerkrieg, nach einer ganzen Reihe ausländischer Interventionen und nach der Blockade – es keine organisierte Macht gibt, die unter diesen unerhört schwierigen Umständen jene Arbeit leisten könnte, die wir erfüllen; denn es ist Tatsache, dass es dem Hunger nicht gelungen ist, ein Chaos zu schaffen, die Sowjetordnung ist unerschütterlich, und die erste und wichtigste Hilfe und Selbsthilfe – die Winteraussaat im Wolgagebiet – haben wir aus eigenen Mitteln geleistet. Daher auch dieses auf den ersten Blick sonderbare Resultat: dass der Hunger, d. h. diese neue schwere Heimsuchung Sowjetrusslands, sich in einen politischen Faktor verwandelt hat, der die bürgerlichen Regierungen zur wirtschaftlichen Annäherung an uns treibt

Aber daneben sehen wir auch noch ein anderes Ergebnis.

3. Neue Hoffnungen auf Intervention und das russische Weißgardistentum.

Die Hungerkrisis, die Sowjet-Russland jetzt durchlebt, hat die Energie jener Elemente, die mit der endgültigen Befestigung der Sowjetmacht alles oder allzu viel zu verlieren haben, bis zum Letzten aufgestachelt Es sind dies vor allem das Weißgardistentum im Ausland, die Emigranten, und in zweiter Reihe jene Gruppen und Cliquen der Weltbourgeoisie, die schon früher sich eng und unlösbar mit der Politik der Interventionen, der Blockade und anderer gewaltsamer Formen der Erdrosselung Sowjet-Russlands verbunden haben. Und hier sehen wir eine andere paradoxe, d. h. auf den ersten Blick unerklärliche, Erscheinung: Neben dem offensichtlichen Anwachsen der Tendenzen der Wirtschaftlichen Annäherung an Sowjet-Russland finden wir gleichzeitig eine Verstärkung der Tendenzen zum Sturz der Sowjetmacht. Und doch besteht hier kein Widerspruch: Im Gegenteil, eines ergänzt das andere. Das russische konterrevolutionäre Emigrantentum, das eng mit sehr starken und einflussreichen imperialistischen Zentren in Europa verknüpft ist ist sich ganz klar darüber, dass, wenn der gegenwärtige Moment verpasst wird, dass, wenn man eine neue Intervention nicht jetzt nicht sofort erreicht – wenn man der Sowjetmacht die Möglichkeit lässt mit dem Hunger fertig zu werden, ja etwa gar noch ihre internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu festigen, – dass dann alle Hoffnungen und Pläne der Wiederaufrichtung des alten Russlands begraben sind.

Jetzt oder nie" – sagt sich das großagrarische und -kapitalistische Emigrantentum. „Wer weiß, vielleicht wirklich jetzt?" fragen sich manche französischen und sonstigen Interventionsanhänger. Welches sind nun die Wege zur Niederwerfung der Sowjetmacht? Das zu sagen, erfordert keine große Erfindungsgabe. Alle diese Wege sind ja längst ausprobiert. Etwa: ein neuer Feldzug Wrangels – durch Bessarabien, durch den Kaukasus oder vom Fernen Osten aus; eine Vorwärtsbewegung der Petljuraschen, Saawinkowschen oder anderer Banden; die Anzettelung von Bauernaufständen im Lande; terroristische Akte – alles das zusammengenommen mit der „Hilfe für die Hungernden", mit einem Komitee von Männern des öffentlichen Lebens, als einem „Kraftzentrum", das sich auf alle jene Arten des Kampfes gegen die Sowjetmacht stützt und sich der Beihilfe aller internationalen Wohltätigkeitsorganisationen und der hinter ihnen stehenden Regierungen erfreut So deckt die Flagge der Hilfeleistung einerseits die Neu-Orientierung gegenüber Sowjet-Russland im Sinne der wirtschaftlichen Annäherung an dieses; andererseits wird dieselbe Flagge benutzt zur Verdeckung der militärischen Interventionspläne, für die die Hungersnot die langersehnte günstige Gelegenheit zum Angriff bietet.

Die russische Emigrantengesellschaft – deren reaktionäre Minierarbeit noch vor einigen Monaten etwas einzuschlafen und ermatten zu wollen schien, – ist jetzt wieder aufgewacht zeigt einen fieberhaften Tätigkeitsdrang, wirft sich wie wild nach allen Richtungen, telegraphiert, hat Besprechungen, Interviews, läutet an allen Telefonen, lügt und verleumdet. „Jetzt oder nie" rufen ihre Parteiführer aller Richtungen von den monarchistischen „Schwarzen Hunderten" bis zu den linken „Sozialrevolutionären". Die einen im heiseren Bass, die anderen in den höchsten Tönen. Eben diesen Eindruck – eines vielstimmigen, aber im Grunde doch einmütigen Gebells – bringt gegenwärtig die Emigrantenpresse hervor.

4. Die Emigrantenpresse über Russland.

Genossen, aus Zeitmangel kann ich ebenso wie die meisten von Euch regelmäßig die russischen weißgardistischen Zeitungen, die im Auslande erscheinen, nicht verfolgen. Aber bei uns im Kriegsamt gibt es eine Abteilung, welche dienstlich verpflichtet ist, auf alles zu achten, was die Auslandspresse im allgemeinen und die russische weißgardistische im Besonderen über die Rote Armee, unsere militärischen Absichten und unsere Politik bringt. Von dieser Dienststelle nun habe ich gestern dieses dicke Heft bekommen, das Ihr hier seht mit Auszügen aus der russischen Emigranten-Presse. Es wäre vielleicht ganz nützlich, dieses Heft vollständig abzudrucken; denn es gibt eine klare Vorstellung sowohl von denen, die diese Zeitungen herausgeben, wie von denen, für die sie herausgegeben werden.

Dass Zeitungen überhaupt ihrer ganzen Natur nach nicht immer ganz richtige Nachrichten bringen, dass sie häufig übertreiben, ja, gezwungen sind, zu übertreiben, – damit muss man sich nun einmal abfinden. Aber es ist doch ein Unterschied zwischen der unvermeidlichen tendenziösen Unterstreichung und einem solchen wahnwitzigen Taumel von Erfindung, Lüge und Verleumdung wie er hier erfolgt. Von vornherein muss ich mich entschuldigen, dass ich nun gezwungen bin, mich mit Euch zusammen mehrere Stufen tiefer zu begeben und mich einige Minuten lang auf einem Niveau zu bewegen, das … einfach unter allem Niveau ist.

Die Hauptaufgabe der Emigrantenpresse während der letzten Wochen ist: – zu beweisen, dass wir zu einem neuen Feldzug rüsten. Gegen wen? Gegen alle, die uns umgeben. Das Reutersche Büro teilt in der zweiten Julihälfte aus Helsingfors mit, dass die Sowjetregierung die allgemeine Mobilmachung befohlen habe. „Man nimmt an, dass diese Maßnahme sich gegen Estland, Lettland und Litauen richtet oder aber den Zweck hat, die Kemalisten gegen die Griechen zu unterstützen." Dieses Telegramm geht durch die ganze weißgardistische Presse. Kein Zweifel, auch das Reuterbüro hat es erst aus derselben Emigrantenquelle erhalten und dann ist es ebendorthin zurückgekehrt, ausgestattet mit der ganzen Autorität der offiziösen englischen Telegraphenagentur.

Aus Warschau wird durch ein dortiges russisches „Press-Büro" verbreitet: „Die Bolschewiki bereiten ein neues Kriegsabenteuer vor und haben die Absicht, ihre neu formierte litauische Armee zur Einnahme Wilnas vorrücken zu lassen."

Man sollte meinen, dass man gerade in Warschau besser nicht von Abenteuern spräche, die mit dem Namen Wilna verknüpft sind – aus genau denselben Gründen, aus denen man im Hause des Gehenkten nicht gerne vom Strick redet. Allein das ist durchaus kein Hindernis dafür, dass dies Warschauer Telegramm die ganze interessierte Presse durchläuft. Vor einer Woche wird aus London mitgeteilt dass in Sowjet-Russland die Mobilmachung aller Wehrpflichtigen bis zum 48. Jahre angeordnet sei. Diesmal „sind die Kriegsmaßnahmen der Bolschewiki mit der Absicht eines Überfalls auf Polen getroffen worden". Zum Überfluss wird der Nachricht der Anschein voller Genauigkeit verliehen: „Die Eisenbahnerbataillone sind im Bezirk von Husiatyn, Schepetowka, Nowograd-Wolynsk, Korostenj, Podwolotschisk zusammengezogen worden, was beweist" – nun, was glaubt Ihr wohl? – „dass Trotzki und Bucharin auf ihre kriegerischen Pläne nicht verzichtet haben" … Nun, Ihr wisst ja alle, dass der Kommandeur unserer Eisenbahnbataillone Genosse Bucharin ist! (Allgemeines Gelächter der Versammlung).

Weiterhin kehrt in allen möglichen Varianten eine Nachricht darüber wieder, dass „dem Projekt Trotzki hinsichtlich eines Angriffs auf Rumänien in Sowjetkreisen ernste Bedeutung beigelegt wird, da nach Ansicht der Bolschewiki eine Eroberung Rumäniens das für Sowjet-Russland nötige Brotgetreide einbringen würde." Diese sinnlosen Nachrichten, welche auf Schritt und Tritt einander widersprechen, werden täglich zu Dutzenden im Pariser „Obschtscheje Djelo" abgedruckt. Der Chefredakteur des „Obschtscheje Djelo" ist bekanntlich Burzew, und diejenigen von uns, welche lange Jahre im Exil verbracht haben, wissen, dass Burzew seit jeher den festbegründeten Ruf genoss, ein … na, wie soll ich sagen? … nicht gerade Weiser zu sein. Wir alle wussten, dass Burzew nicht das Pulver erfunden hat, und dass er nach seiner ganzen Geistesverfassung als das Gegenteil der Leute erscheint, welche das Pulver oder weniger erfinden.

Allein genau dieselben Nachrichten, Wort für Wort, druckt auch die Zeitung Miljukows ab, dessen Namen der Geschichte angehört als des Erfinders des Pulvers der Kadettenpartei. Hat auch dies Pulver nicht immer die gehörige politische Wirkung gehabt, so ist immerhin Miljukow mit Burzew nicht vergleichbar.

Was sagt Ihr aber dazu, dass in einer der zu uns gelangten Nummern der Pariser Zeitung Miljukows, den „Neuesten Nachrichten" vom 16. August, eine Nachricht aus Reval, oder mindestens angeblich aus Reval steht, die wörtlich folgendes besagt: „In Moskau wird eine wütende Kampagne gegen die baltischen Randstaaten geführt. In allen Straßen sind Aufrufe angeklebt, in denen die Bevölkerung gegen Lettland und Estland aufgehetzt wird, wo „die Speicher vor Korn bersten". Der Aufruf schließt mit den Worten: „Zu den Waffen! Rettet die sterbenden Frauen und Kinder! Alle Mann in den Feldzug gegen die weißen baltischen Staaten!" –

Wie bekannt, gibt es in "Moskau jetzt offizielle Vertreter der baltischen Staaten, es sind hier zahlreiche ausländische Korrespondenten anwesend, und ich möchte die einen wie die anderen bitten, sich mal recht genau die Mauern und Zäune Moskaus anzusehen, ob sie auch nur einen solchen Aufruf finden.

Weiter finde ich in meinem Heft „Berichte" über den Zustand der Roten Armee. Das ist überhaupt das Hauptthema für die weißgardistische Emigrantenpresse. Sie hat in Bezug auf die Rote Armee zwei Aufgaben, die freilich einander widersprechen und dennoch beide so nötig sind, wie das liebe Brot: erstens muss bewiesen werden, dass die Rote Armee eine kolossale Gefahr darstellt, dass sie die stärkste bewaffnete Macht ist, die unmittelbar die Sicherheit Europas bedroht; zweitens ist zu beweisen, dass eine militärische Intervention gegen Sowjet-Russland das einfachste und leichteste Ding der Welt sei, denn die Sowjetmacht liege im Sterben, die Rote Armee sei im Zerfall und kaum noch vorhanden. Man muss sagen, die russische Emigrantenpresse löst mit einer bewunderungswürdigen Entschlossenheit diese beiden sich so stark widersprechenden Aufgaben, indem sie alltäglich in denselben Spalten Nachrichten bringt, sowohl über die wachsende Macht der Roten Armee wie über ihre endgültige Zersetzung. Ich will nur einige neue Daten anführen, die die erste Kavalleriearmee betreffen oder die „Armee Budjonnys", welche auch im Ausland große Popularität besitzt und die von der Emigrantenpresse dauernd benutzt wird, um die europäische Bourgeoisie, je nachdem, damit zu schrecken oder mit Hoffnung zu erfüllen.

Hier habt Ihr zum Beispiel eine solche Meldung aus den letzten zwei Wochen: „Auf Grund absolut zuverlässiger Nachrichten" – diese Leute schreiben nie anders, als auf Grund absolut zuverlässiger Nachrichten – „haben sich zwei Kavalleriedivisionen der 1. Armee Budjonnys, die ins Stawropoler Gouvernement verlegt worden sind, gegen die Bolschewiki und Kommunisten erhoben und haben Stawropol besetzt." Ein oder zwei Tage danach, berichtet der „Temps" aus Moskau, dass „die Budjonny-Armee sich geweigert habe, dem Demobilmachungsbefehl nachzukommen. Die unteren Dienstgrade ziehen es vor, im Dienst zu bleiben, d. h. sie fahren fort, zu plündern und erhöhte Lebensmittelrationen zu beziehen." Man muss sich dabei nur gewärtig halten, dass eben dieselbe Presse Tag für Tag leugnet, dass wir demobilisieren. Und, wenn sie schon, wie zum Beispiel hier, es einmal anerkennt, so nur, um gleichzeitig mitzuteilen, dass die Kavalleristen sich nicht demobilisieren lassen. Einige Tage später lesen wir in denselben Zeitungen: „Die Kosakenformationen der Budjonny Armee gehen in voller Ausrüstung mit Pferden und Waffen in ganzen Abteilungen auf die Seite der Aufständischen über." Also: dieselben Kavalleristen, die sich nicht demobilisieren lassen, gehen – angeblich – in geschlossenen Verbänden aus der Armee auf die Seite der Insurgenten über!

Aber hören wir weiter: „In Jekaterinoslaw wurden die erste und zweite Armee Budjonnys verladen und, mit Maschinengewehren und Geschützen überreichlich versehen, Kemal zu Hilfe geschickt. Am 20. Mai kam diese Armee in Trapezunt an, um von dort über Angora [Ankara] sofort an die Smyrna-Front abzugehen." Ob die Armee Budjonnys Stawropol, wie oben erwähnt, auf dem Wege über Jekaterinoslaw nach Smyrna erobert hat, oder auf einem anderen Wege, darüber verraten die „zuverlässigen" Quellen nichts. Aber die Leistungen der Budjonny-Armee sind durch die angeführten Meldungen nicht erschöpft. Aus Riga, oder wenigstens angeblich aus Riga, lassen sich die weißgardistischen Zeitungen melden: „Die Kavalleriearmee Budjonnys ist zusammengezogen, geordnet und sowohl mit Reitern wie mit Pferdebeständen remontiert und nach Weißrussland hinüber geworfen. Augenblicklich lagern ihre Truppenteile von Tschernobyl den Dnjepr, aufwärts bis Mogilew und halten so den Mosyrer, Retschizer und Bobruisker Kreis besetzt."

Ich bitte Euch, einen Blick auf die Karte zu werfen: Smyrna [Izmir] liegt weit genug, nicht nur von Jekaterinoslaw, sondern auch von Stawropol, und jetzt stellte sich mit einem Mal heraus, dass ebendieselbe Kavalleriearmee, die sich nicht demobilisieren lassen wollte, und die gleichzeitig in Form von Insurgentenscharen sich aufgelöst hatte, – dass sie, aufgefüllt mit neuen Pferden und allem Notwendigen versehen, in besten Stand gesetzt sei und dass, während ihr linker Flügel über Trapezunt bis Angora und Smyrna reicht (ja vielleicht gar Indien bedroht?), ihr rechter Flügel sich auf den Bobruisker Kreis stützt, so Polen unmittelbar bedrohend. Ich muss um Entschuldigung bitten, dass ich noch einmal gezwungen bin, mich auf einige Minuten ins weißgardistische Lager zu begeben, wo Jahrmarktsbude und Irrenhaus eins werden. Aber es lässt sich nicht umgehen. Das russische Emigrantentum ist der äußerste Flügel in der Weltmobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte, die gegenwärtig anlässlich des russischen Hungers vor sich geht. Emigrantentum und Intervention – das ist ein und dasselbe. Man muss deshalb wissen, mit was für Mitteln diese Leute arbeiten. Die in meinen Händen befindlichen Daten sind unerschöpflich. Ich bin gerne bereit, den Herren ausländischen Journalisten Abschriften der Zitate mit genauer Quellenangabe zu überlassen, wenn sie es übernehmen, der europäischen öffentlichen Meinung davon Kenntnis zu geben.

Hier zwei Telegramme, die den inneren Zustand Sowjet-Russlands charakterisieren sollen, – das eine vom 27. Juli, das andere vom 7. August. Das erste lautet: „Zur Zeit der Arbeiterunruhen in Petrograd am 19. und 20. Juni wurden 618 Arbeiter, die sich geweigert hatten, zur Arbeit zu gehen, erschossen. Außerdem liegen auf den Straßen viele von den Kirgisen Getötete und etwa anderthalbtausend Verwundete. Die Kirgisen haben vier Tote und etwa einunddreißig Verwundete verloren."

Das zweite Telegramm meldet zehn Tage später: „Während der blutigen Ereignisse vom 19. und 20. Juli in Moskau wurden sechshundertachtundzwanzig Menschen erschossen und über 1500 verwundet. Die Truppen haben 4 Tote und 21 Verletzte verloren." Es haben sich also an denselben Monatstagen am 19. und 20., in Moskau im Juli und in Petrograd im Juni blutige Unruhen ereignet, von denen wir, Ihr und ich, bisher nichts wussten, über die jedoch der Helsingforser Korrespondent des Herrn Miljukow und viele andere die genauesten Informationen besaßen. In Petrograd sind nach diesen Berichten in jenen Tagen 618, in Moskau 628 getötet worden, in der einen wie in der anderen Stadt gab es gerade 1500 Verwundete, und hier wie dort verlor das Militär 4 Tote und 21 bzw. 31 Verwundete. In Petersburg traten Kirgisen in Tätigkeit; die „Nationalität" der Moskauer Truppen bleibt unbekannt. – Und solche Berichte wiederholen sich von Tag zu Tag und auf Grund solcher Meldungen werden dann „entrüstete" Artikel über den erneuten Terror der Bolschewiki geschrieben!

Aus demselben Helsingfors wird anfangs August gemeldet, dass die Roten Truppen „Giftige Gase anwenden, um den Einbruch hungernder Bauern nach Moskau abzuwehren". Und das in der Zeitung des Herrn Miljukow! Ein anderer Bericht dort: – „auf den Straßen Moskaus balgt man sich um ein Stück Brot. Allnächtlich knallen Revolverschüsse. Fast alle Ärzte sind umgebracht worden." Und schließlich „zum Oberbefehlshaber der Sowjettruppen gegen die Hungernden ist General Seitschenkowski ernannt".

Ah, wir sehen förmlich diese Leute von hier aus, die so viel verloren haben und die bereit sind, ganz gleich, um welchen Preis, sich wenigstens einen Teil dessen wieder zu verschaffen, was sie besessen hatten als Resultat von Gewalt, Raub, Ausbeutung. Wir sehen sie vor uns, diese Gutsbesitzer, Fabrikanten, Zarenminister, Advokaten und Professoren, die urplötzlich von Sympathie für die Wolgabauern glühen. Wir kennen sie, diese Menschenfreunde, wir kennen sie von ihren Taten her und von denen ihrer Vorväter und Söhne. Wenn sich jetzt im Augenblick in den Händen dieser Herren das eine Ende einer Zündschnur befände, mit Hilfe deren man neun Zehntel des Arbeiter- und Bauernrussland in die Luft sprengen könnte, um das übrigbleibende Zehntel zu unterwerfen und auszusaugen, – sie, diese bewährten Freunde des Menschengeschlechts, die Herren Wrangel, Kriwoschejin, Rjabuschinski, Miljukow und ihre Bediensteten, die Sawinkow, Aksentjew und Tschernow – sie alle würden, ohne sich zu bedenken, das brennende Streichholz an die Zündschnur halten. Aber leider steht den Ärmsten diese Zündschnur nicht zur Verfügung! Daher sucht sich ihre erstickte Wut einen Ausweg in dieser sich überstürzenden Flut von Lügen.

Ich will schließen mit der Weißgardistenpresse, welche die extremsten europäischen Imperialisten anspornt, und will nur noch eine Mitteilung aus der letzten Nummer der Miljukowschen Zeitung vom 17. August anführen, eine Meldung, die Sibirien betrifft, das von der weißgardistischen Presse dauernd mit nie enden wollenden Aufständen und Umstürzen bedacht wird, obgleich dort alles ruhig ist. Folgendes meldet das Pariser Blatt: „Ein Havas-Telegramm aus Tokio meldet die Einnahme Tschitas durch Baron Ungern-Sternberg und den Sturz der Sowjetmacht in Irkutsk." Wie Ihr seht, eine Nachricht von großer Bedeutung! Baron Ungern ist ein hoher Trumpf in dem fernöstlichen Interventionsspiel. Er marschierte auf die Mongolei und bedrohte die Republik des Fernen Ostens. Jetzt habe er, so wird uns gemeldet, Tschita besetzt und die Sowjetmacht in Irkutsk übern Haufen geworfen. Ich muss zugeben, dass in dieser Meldung wirklich, im Gegensatz zu anderen, ein Körnchen Wahrheit steckt: Der General Baron Ungern befindet sich tatsächlich westlich von Tschita. In meinem Besitz befindet sich ein neu eingetroffener offizieller Rapport unseres sibirischen Kommandos, der einesteils das Tokioter Telegramm bestätigt, in anderer Hinsicht aber es doch wesentlich berichtigt. Ich will eine dieser Meldungen bekanntgeben: „Am 22. August, 12 Uhr wurde von der gemischten Gruppe Schtschetinkin (weiter folgt die Aufzählung der beteiligten Formationen) nach einem Gefecht der General Ungern-Sternberg mit seinem persönlichen Wachkommando, bestehend aus 90 Mongolen mit einem Mongolenfürsten an der Spitze, gefangengenommen. General Baron Ungern wurde am 23. Aug. 10 Uhr unserem Stabe eingeliefert und hier sofort vernommen. Neuere Nachrichten über die kleinen versprengten Abteilungen des Generals Ungern fehlen." So ist also General Ungern Gefangener und wird, westlich von Tschita,. unter Bewachung weiterbefördert. Seine Armee besteht nicht mehr. So ist denn auch dieser Trumpf der fernöstlichen Intervention aus der Hand geschlagen. (Beifall.)

5. Die Stellungnahme der englischen Regierung.

Allein, welches sind nun die Möglichkeiten und Chancen der Interventionisten und vor allem in welcher Form ist die Intervention zu erwarten? Auf ein selbständiges kriegerisches Auftreten irgendeiner europäischen Großmacht hoffen eigentlich auch die russischen Emigranten nicht. Aber sie erwarten von Seiten der kapitalistischen Regierungen, besonders der französischen: erstens, dass sie die kleineren Gegner Russlands aktiv unterstützen, und zweitens, – dass sie der Sowjetregierung bestimmte politische Forderungen im Zusammenhang mit der Hilfe für die Hungernden stellen werden. –

Beginnen wir mit dem letzteren Gedanken. Seine Unsinnigkeit ist ja offensichtlich. Bedingungen – und zwar in Form eines Ultimatums – sind uns ja schon früher gestellt worden. Sie wurden abgelehnt. Es folgte dann die Zeit der militärischen Interventionen und der Blockade. Wir hielten stand. Durch die Logik der Tatsachen sahen sich die kapitalistischen Staaten gezwungen, mit uns in Unterhandlungen zu treten. Wir kamen dem entgegen. Das Handelsabkommen mit England wurde von beiden Seiten unterschrieben, wobei Lloyd George seine Schlüsse aus der Erfahrung der Vergangenheit zog und gar nicht daran dachte, auch nur irgendwelche Bedingungen in Bezug auf die Regierungsform Russlands zu stellen. Könnte überhaupt nur irgend jemand denken, dass dieser selbe Lloyd George sich entschließen werde, politische Forderungen im Zusammenhang mit einer philanthropischen Hilfeleistung aufzustellen? Schwer glaublich! Nehmen wir aber einmal auf eine Minute das Unwahrscheinliche an, nämlich, dass Lloyd George abgelöst würde durch einen leidenschaftlichen Freund Miljukows, Burzews und der Kuskowa, und dieser seine politischen Bedingungen stellte – so ist es ganz klar, dass das für ihn nur mit einer noch größeren Blamage enden müsste Selbstverständlich würden wir alle derartigen Bedingungen von vornherein ablehnen. Wir täten das eingehend, höflich und bestimmt, – Ihr wisst, mit welcher Genauigkeit und Höflichkeit unsere Diplomatie manchmal durchaus unbegründete und durchaus unhöfliche Forderungen abzulehnen weiß. Wir würden uns sogar in eine Unterhaltung einlassen. Wir würden der anderen Partei erklären, das heißt, derjenigen, die uns zumuten wollte, bei uns das Regime der sogenannten Demokratie einzuführen: „Unsere Theorie erkennt die völlige Unzulänglichkeit der Demokratie in der Frage der Entscheidung des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Die Demokratie ist eine Herrschaftsform, die geeignet ist zur Verschleierung und Unterstützung der Diktatur der Bourgeoisie, die nur durch die Diktatur des Proletariats gestürzt werden kann. Aber wenn die Demokratie unfähig ist zur Lösung der Grundfrage unserer Epoche: – des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie, so kann eben dieselbe Demokratie durchaus wertvoll sein und eine fördernde Bedeutung haben bei Lösung anderer Fragen. Zum Beispiel bei der der nationalen Selbständigkeit ganzer Völker, besonders solcher, innerhalb derer die neuen Klassengegensätze sich noch nicht so zugespitzt haben.

So zum Beispiel würden wir historisch und politisch es für völlig richtig halten, wenn man Indien, Ägypten, der Türkei, Algier, Tunis und anderen Ländern es frei überließe, auf demokratischem Wege, d. h. durch allgemeine Volksabstimmung die Fragen ihres nationalen Geschickes zu entscheiden: ob sie einverstanden sind, weiter Kolonien zu bleiben, oder ob sie das Leben eines selbständigen nationalen Staates zu leben wünschen. Über dieses Thema könnte unsere Diplomatie – wie sie das des öfteren schon getan – eine ganz höfliche und ganz überzeugende Note schreiben, die für die andere Seite tödlich wäre. Wir zweifeln nicht, dass die andere Seite ein derartiges diplomatisches Zwiegespräch gar nicht erst beginnen würde.

6. Das Hooversche Unternehmen.

Kann das russische Emigrantentum auf die Initiative Amerikas seine Hoffnung setzen? Wir halten das für wenig wahrscheinlich. Die Reise des Senators France hierher, das philanthropische Hilfswerk Hoovers, stellen sich unseren Augen als Symptome jenes Umschwunges dar, der sich in der öffentlichen Meinung der amerikanischen Bourgeoisie vollzog. Für einen derartigen Umschwung sind ernste Gründe vorhanden: eine in den Vereinigten Staaten unerhörte Handels- und Industriekrise und der wachsende Gegensatz zu Japan auf der einen Seite, zu England auf der anderen. In den Unterhandlungen mit Mister Hoover sind wir sehr weit gegangen im Sinne der Zugeständnisse und der Gewährung aller möglichen Erleichterungen für die amerikanische Hilfsorganisation. Hierbei haben wir jenen Vorurteilen Rechnung getragen – und haben das ganz offen gesagt – in denen nun einmal die öffentliche Meinung der amerikanischen Kapitalistenklasse und ihre führenden Männer befangen sind. Aber indem wir diesen Vorurteilen und diesem beschränkten politischen Horizont große Konzessionen machten, haben wir rundweg alle jene Ansprüche abgelehnt, welche nur irgendwie nach politischen Bedingungen aussahen, nach einem Versuch, die Hand nach der Souveränität und Unabhängigkeit der Sowjetrepublik auszustrecken. Diese Bedingungen wurden denn auch von Hoover zurückgenommen. Die Vereinbarung wurde unterschrieben. Und wir glauben, dass sie nicht nur einen Zusatz zur Ernährung einer Million Kinder im Gefolge hat, sondern auch der wirtschaftlichen Annäherung beider Länder dienen wird.

Wir verschließen aber unsere Augen durchaus nicht vor der Gefahr, dass es Elemente gibt – und nicht nur unter dem russischen Emigrantentum – die mit der Hoover-Organisation reaktionäre Hintergedanken verbinden. Für sie handelt es sich nicht darum, der Sowjet-Regierung offen Bedingungen vorzulegen oder gar zu diktieren, – sondern darum, in das innere Leben Russlands sich einzunisten, ihren eigenen „Apparat" unter dem Deckmantel dar Hungerhilfe auszubauen und ihn dann zur Unterstützung eines konterrevolutionären Umsturzes in Tätigkeit zu setzen. Solche Pläne für unwahrscheinlich zu halten, wäre leichtsinnig. In dieser Hinsicht haben wir schon etliche Erfahrung. Gerade der Organisator der Hoover-Hilfe in Sowjet-Ungarn, ein gewisser Kapitän Gregory, bietet ein interessantes Beispiel und eine lehrreiche Warnung. Dieser Herr hat kürzlich in der amerikanischen Zeitschrift „World Work" erzählt, wie eng, ja wie führend er am Sturze der ungarischen Sowjetregierung beteiligt war. Zu diesem Zweck setzte sich Mister Hoovers Vertreter mit einigen Verrätern innerhalb der ungarischen Sowjetregierung in Verbindung und schritt dann mit-dem Segen der britischen Militärmission und der italienischen diplomatischen Vertretung an seine Arbeit, die nicht wenig zur Aufrichtung der in Ungarn regierenden verbrecherischen Bande des Admirals Horthy beigetragen hat. Nach Gregorys eigenen Worten hatte ihm Hoover Instruktion erteilt, sich jeder Politik fernzuhalten. Aber, wie wir sahen, nahm Gregory diese Instruktion nicht ganz ernst. Es könnte vorkommen, Genossen, dass auch unter den Bevollmächtigten Mr. Hoovers in Russland sich Leute finden werden, die sich sagen, dass die Instruktion über die Nichteinmischung in die russische Politik nicht so buchstäblich gemeint sei, und durch das Beispiel des Kapitäns Gregory sich verfuhren lassen, ja mehr als das, es können ohne weiteres in die Hilfsorganisation einfach russische Weißgardisten eindringen, die überzeugt sind, es genüge, sich amerikanisch-glatt zu rasieren und amerikanische Stiefel anzuziehen, um seiner Verschwörerarbeit die völlige Unverletzlichkeit zu sichern.

Dies Herren werden sich verrechnen. Wir werden uns streng an den Geist und den Buchstaben der Abmachung mit Hoover halten, und werden alle Maßnahmen treffen, um der amerikanischen Organisation die reibungslose Erfüllung ihrer philanthropischen Aufgabe unter Ausschluss jeder Politik zu sichern. – Wir zweifeln nicht, Genossen, dass alle lokalen Sowjetbehörden, in Übereinstimmung mit Geist und Buchstaben des Vertrages, die größte Wachsamkeit zeigen werden, und eine ernste politische Kontrolle, jede an Ort und Stelle, entfalten werden, um den Abenteurern und Eindringlingen jede Möglichkeit abzuschneiden, den Hunger der Bauern auszunutzen, um einen konterrevolutionären Umsturz in Russland zu inszenieren.

7. Frankreich und die Interventions-Pläne.

Wird es Frankreich riskieren, die Frage des Hungers mit der Stellung politischer Bedingungen zu verbinden? Das ist wenig wahrscheinlich. Soweit bekannt, ist die Hauptbedingung Frankreichs die Anerkennung und die Bezahlung der Schulden; aber diese Bezahlung – ist nicht so sehr eine politische Forderung, als vielmehr eine ganz gewöhnliche Wuchererforderung. Freilich, die französischen Offiziösen und die französischen Minister erlauben sich von Zeit zu Zeit den Luxus großspuriger Urteile über Russland, klopfen dem russischen Volk gönnerhaft auf die Schulter, wobei sie es zur Sowjetmacht in Gegensatz zu bringen suchen usw. Aber dies banale Geschwätz, – das überhaupt in den politischen Sitten des heutigen Frankreichs einen breiten Raum einnimmt, – hat gar keinen politischen Inhalt Das russische Volk, wie es lebt, arbeitet, leidet, hungert, kämpft und hofft wird gegenwärtig durch seine Sowjetmacht dargestellt. Und neben der Sowjetmacht gibt es für die französische Regierung keinen Weg zum russischen Volke und wird es keinen geben. Das Verständnis hierfür geht langsam auch der französischen Bourgeoisie auf. Eine ganze Reihe von Zeitungen und Politikern fordert bereits die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Russland. Aber die Schwankungen in den regierenden Kreisen sind noch sehr groß, und offenbar ist eine Entscheidung immer noch nach der einen wie nach der anderen Seite möglich.

Der nicht unbekannte rumänische Außenminister, der übrigens weit häufiger die Rolle eines diplomatischen Kuriers Frankreichs spielt, Herr Take Jonescu, hat – nach Mitteilung einiger rumänischer Blätter – am 10. August in der Sitzung des rumänischen Ministerrates erklärt, dass „von einer Hilfe Frankreichs für die Hungernden in Russland überhaupt nicht die Rede sein kann, da Frankreich nur auf den geeigneten Moment wartet, um Russland anzugreifen, zur Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung." Diese Meldung scheint uns durchaus nicht ganz unbegründet zu sein. Ich habe schon anfangs gesagt, dass der offene und vielleicht entscheidende Umschwung in der Richtung zur wirtschaftlichen Annäherung an Sowjet-Russland auf der anderen Seite ergänzt wird durch ein Wiederaufleben der militärischen Einmischungspläne. Meistens ringen diese beiden Tendenzen hart miteinander. Aber sie können sich auch zuweilen miteinander vertragen. Es ist zum Beispiel nicht ausgeschlossen, dass die französische Regierung sich in die Notwendigkeit versetzt sieht, endgültig auf den „Blockade-Stacheldraht" des Herrn Clemenceau zu verzichten, der sich – wie so vieles andere aus dem Erbteil dieses Politikers – in ein Theaterrequisit verwandelt hat, – dass sie aber gleichzeitig der Versuchung nicht widerstehen kann, ein letztes, allerletztes Mal zu untersuchen, wie fest die Sowjetregierung steht. „Wie wäre es, wenn die Sowjets tatsächlich" – wie die Wrangel, Kriwoschejin, Miljukow, Kerenski und Martow alle behaupten – „sich am Vorabend ihres Falles befänden? Wie wäre es, wenn man nur noch ein Viertelstündchen politische Haltung zu bewahren brauchte? Wie wäre es mit dem Versuch, diese historische Viertelstunde mit Hilfe einer neuen Intervention noch etwas zu verkürzen? In der Vergangenheit gelangen die Interventionen allerdings nicht, – aber vielleicht gelingen sie jetzt?"

Wenn es aber auch diesmal schief ginge, dann kann man – so meinen die Herren Franzosen – sich ja immer noch endgültig an den grünen Tisch setzen und um Schulden und Prozente feilschen. Solche Stimmungen sind in Frankreich durchaus möglich. Mehr als das, sie sind das Wahrscheinliche.

8. Die heilige Dreieinigkeit der französischen „Menschenfreunde".

In der Tat, es genügt, aufmerksam die Personen zu betrachten, die von Frankreich für die Zusammensetzung der Kommission für die russische Hungerhilfe benannt worden sind. Ihr wisst, dass eine derartige Kommission auf Beschluss des Obersten Rates gegründet worden oder in der Bildung begriffen ist. Ihr Zweck ist äußerst nebelhaft. Sie hat, so scheint es, die Aufgabe: „die Vorbedingungen zur Schaffung eines Komitees zum Studium der besten Mittel und Wege einer möglichen Hilfe für die Hungernden in Russland zu untersuchen." Und für diese wirklich überaus „vorbereitende" Kommission ernennt Frankreich drei Leute: General Pau, der als ein forscher Monarchist weitaus bekannter ist, denn als Feldherr, und der seinerzeit ein enger Vertrauter des Zarenhofes war; dann den französischen Fabrikanten Giraud, der in Moskau sich ein Vermögen durch schonungslose Ausbeutung von Arbeitern und Arbeiterinnen erworben hat; und schließlich den letzten französischen Botschafter im alten Russland, Herrn Noulens. Die Aufstellung des Letzteren ist besonders bezeichnend. Noulens war der Urheber und Geldgeber des von Sawinkow im Jahre 1918 in Jaroslaw organisierten Aufstandes.

Noulens stand im Mittelpunkt der Verschwörung, deren Ziel die Zerstörung des Eisenbahnnetzes rings um Petersburg war, um 1918 durch den Hunger in Petersburg eine Staatsumwälzung hervorzurufen. So erscheint also Noulens als patentierter Spezialist für Hungerfragen. Schon im Jahre 1918 hielt er den Hunger für seinen besten Bundesgenossen. Er selber versuchte mit Hilfe von Dynamitexplosionen die Petersburger Frauen und Kinder zum Verhungern zu verurteilen, – natürlich im höheren Interesse der Zivilisation und Humanität. Wem anders wohl als Noulens könnte das Frankreich der Börse in seiner selbstlosen, edlen Weise die Hilfe für die hungernden Bauern von Kasan und Samara überlassen! Im Jahre 1918 war der Name Noulens einer der populärsten in Russland. Jetzt ist er vielleicht etwas verblasst im Gedächtnis der russischen Arbeiter und Bauern. Eure Aufgabe, Genossen, ist es, diesen Namen im Andenken der Werktätigen wieder in seinem ganzen Glanze aufstrahlen zu lassen.

Hungernde Kinder Petersburgs, Bauern und Bäuerinnen der Wolga, hört die frohe Botschaft: das Börsen-Frankreich sendet Euch Herrn Noulens zu Hilfe!

9. Polen und die Intervention.

Aber nicht genug des bösen Willens von Herrn Noulens. Um zum allerletzten Male die Standfestigkeit der Sowjetregierung zu erproben, bedarf es einer militärischen Intervention und zu einer solchen Intervention bedarf es einer Armee. Dazu französische Truppen in Bewegung zu setzen, – wie zu Zeiten der Besetzung Odessas – davon kann heute nicht die Rede sein. Bleibt nur ein Weg: mittels eines Vasallenstaates der kleinen Entente zu operieren.

Vor nicht so sehr langer Zeit war Polen das Werkzeug Frankreichs gegen Sowjet-Russland, Jetzt aber ist die Lage anders. Nicht leicht ist Polen zum Rigaer Frieden gelangt. Ihr erinnert Euch, wie oft und wie vergeblich wir ihm friedliche Verhandlungen vorgeschlagen haben, schon früher, ehe noch die polnische Regierung, unter dem Druck Frankreichs, es bis zum großen Kriege getrieben hatte. Als Ergebnis der blutigen, erschöpfenden und für beide Teile zerrüttenden Schlachten erhielt Polen schließlich einen Friedensvertrag, der ungünstiger war als der, den wir ihm vor dem Kriege vorgeschlagen hatten. Aber immerhin ist dieser Frieden wesentlich noch sehr günstig für Polen. So ist denn absolut kein Grund zur Befürchtung vorhanden, dass die polnischen Machthaber nach Empfang dieser harten geschichtlichen Lehre sich zum zweiten Male entschließen würden, auf Einwirkung Frankreichs aufs neue einen Feldzug gegen Russland zu eröffnen.

Die innere wirtschaftliche und politische Lage Polens ist ganz und gar nicht dazu angetan, solchen weitgehenden kriegerischen Plänen den Weg zu ebnen. Eine polnische Zeitung, der „Kurjer Poranny" (Morgenkurier) in Warschau schreibt folgendes: „Ein Staat, in dem die Eisenbahnzüge stehen bleiben, in dessen Hauptstadt die Wasserleitung und die städtischen Krankenhäuser mit Hilfe von Soldaten bedient werden, wo die Arbeiter und Angestellten sich im Widerstreit mit der Regierung befinden, wo der erschöpfte Fiskus hilflos ist, wo Schiebertum, Spekulation und Ausbeutertum ungehemmt wüten, wo die einzelnen Parteien erbittert um die Macht kämpfen", – ein solcher Staat ist ja offensichtlich nicht imstande, seine Armee jenen Nachfolgern Clemenceaus zur Verfügung zu stellen, die, ehe sie sich an den Verhandlungstisch setzen, noch einmal, ein einziges Mal auf das Kriegsfeld ihren Spieleinsatz setzen wollen, – den Einsatz fremden Blutes.

Die Handels- und Industriekreise Polens treten entschieden den Phantastereien der kleinbürgerlichen Chauvinisten und Nationalhetzer entgegen. Und das ist sehr begreiflich. Die europäischen Märkte sind Polen unerreichbar; am nächsten ist ihm der altgewohnte russische Markt. Die polnischen Kapitalisten hoffen, nicht nur für eigene Rechnung hier auftreten zu können, sondern auch als Vermittler des europäischen Kapitals. In dieser Rechnung liegt nicht Unmögliches. Die geographische Lage Polens unterstützt sie. Aber die erste Bedingung zur Verwirklichung dieser Berechnung ist die Erhaltung friedlicher Beziehungen zu Sowjet-Russland.

Was uns nun betrifft, so brauche ich ja in der Sitzung des Moskauer Sowjets nicht erst zu sagen, dass, entgegen aller weißgardistischen Lüge – wir an eine Wiederaufnahme des Krieges gegen Polen auch nicht einmal denken. Der beste Beweis für unsere friedlichen Absichten ist ja, dass wir progressiv, in steigendem Maße den Bestand unserer Roten Armee verkürzen. Diese Tatsache ist im polnischen Generalstab ebenso genau bekannt, wie in den andern Stäben.

10. Das Verhältnis zu Rumänien.

Ganz anders steht es mit Rumänien. Hier muss ich erinnern, wenn auch in kurzen Zügen, an die Geschichte unserer Beziehungen zu Rumänien, da in unserer raschlebigen Zeit selbst wichtige Ereignisse bald dem Gedächtnis entschwinden. Während des imperialistischen Krieges war Rumänien mit dem zaristischen Russland verbündet und hatte mit ihm eine gemeinsame Front gegen Österreich-Ungarn und Deutschland. Dieses Verhältnis blieb auch nach der Märzrevolution von 1917 bestehen. Ein krasser Umschwung trat erst mit der Oktoberrevolution und der Aufrichtung der Sowjet-Macht ein. Die rumänische Regierung nutzte die Vorteile, die ihr die gemeinsame Frontlinie bot, aus und drang in Bessarabien ein, um dort eine tatsächliche Militärdiktatur auszuüben.

Am 21. Februar 1918 gab der italienische diplomatische Vertreter Fasciotti, namens aller alliierten Vertreter bei der rumänischen Regierung, der Sowjet-Regierung die folgende Erklärung anlässlich dieser Besetzung Bessarabiens ab: „Was nun Bessarabien betrifft, so stellt das Erscheinen rumänischer Truppen dort eine militärische Operation dar, die jeden politischen Charakters entbehrt und die mit Einverständnis der Alliierten mit dem offensichtlichen humanitären Ziel unternommen ist, den russischen und rumänischen Truppen, sowie der Zivilbevölkerung die Verpflegung zu sichern".

Zwischen den rumänischen und den Sowjet-Truppen fanden jedoch ernste Zusammenstöße statt; als deren Ergebnis unterschrieb die rumänische Regierung am 5. März 1918 eine Vereinbarung mit Russland, deren erster Artikel die Verpflichtung Rumäniens enthält, das bessarabische Gebiet innerhalb zweier Monate zu räumen.

Ich erinnere an all das durchaus nicht deshalb, weil ich etwa glaube, dass die bessarabische Frage heute auf der Tagesordnung stünde. Aber es ist ja ganz klar, dass diese Tatsachen ein helles Licht auf die sonderbaren, unverständlichen, geradezu ungeheuerlichen Erklärungen mancher verantwortlicher rumänischer Politiker werfen, dass, angeblich, die „freund-nachbarlichen Beziehungen zwischen Rumänien und Russland sowie der Ukraine nie unterbrochen worden seien". Wenn man allerdings den „freund-nachbarlichen Beziehungen" eine derartig erweiterte Deutung gibt, dann schwindet wahrlich jeder Unterschied zwischen Krieg und Frieden, und Friedensverträge verlieren jeglichen Sinn.

Nicht umsonst wich die rumänische Regierung so hartnäckig im Laufe von mindestens anderthalb Jahren allen Friedensverhandlungen aus. Ich will hier nicht im einzelnen alle Episoden dieser „friedlichen und freund-nachbarlichen" Beziehungen erwähnen, wie z. B. die Tötung des Sowjetvertreters, des Genossen Roschal, durch rumänische Behörden an der rumänischen Grenze. Oder wie den Überfall Rumäniens auf das mit uns verbündete Räte-Ungarn.

Seit Beginn des Jahres 1920 macht die Sowjet-Regierung ununterbrochene Anstrengungen, um Friedensunterhandlungen mit Rumänien zu erreichen, vor allem deswegen, um auch an dieser Grenze sichere und solide Lebensbedingungen zu schaffen. Erst in den letzten Tagen, Genossen, habe ich wieder die Noten und sonstige Schriftstücke über die Beziehungen zwischen Moskau und Charkow einerseits und Bukarest andererseits mir durchgelesen, von Anfang vorigen Jahres ab, d. h. von einer Zeit an, wo, nach der Befreiung der Ukraine, die Föderation der Sowjetstaaten unmittelbar mit dem Territorium zusammenstieß, auf das sich die Macht der rumänischen Regierung tatsächlich erstreckte. Die gesammelten Noten Tschitscherins und Rakowskis machen einen erschütternden Eindruck. Ein ununterbrochenes Appellieren an die Herren Take Jonescu, Woyda-Wojewode, wiederum an Take Jonescu, dann an Herrn Averescu: immer mit ein und demselben Vorschlag: – die Frage der Herstellung friedlicher Beziehungen zwischen Rumänien und der Föderativen Sowjetrepublik zu erwägen.

Andererseits überraschen die zu einer Sammlung vereinigten Antworten der rumänischen Regierung durch ihr Ausweichen und ihre Widersprüche. Zuerst ist man in Bukarest einverstanden und schlägt vor, den Verhandlungsort zu bestimmen. Dann, infolge einer seltsamen Zerstreutheit und Vergesslichkeit, setzt die Regierung Rumäniens einseitig, von sich aus als Verhandlungsort Warschau fest, – die Hauptstadt gerade jenes Landes, das um jene Zeit offen Krieg gegen uns führte. Als unsere Diplomatie mit der ihr eigenen ruhigen Beharrlichkeit, gemeinverständlich und eingehend, dies Missverständnis aufklärt, – da bleibt Bukarest stumm.

Als angebliche Erklärung für die tatsächliche Weigerung, in Friedensverhandlungen einzutreten, berufen sie sich mit einem Male auf eine künftige Konferenz in London und informieren durch die Presse die rumänische öffentliche Meinung gleichzeitig in dem Sinne, als habe die Sowjetregierung überhaupt nichts auf die Note bezüglich des Verhandlungsortes geantwortet. Unsere Diplomaten entlarven ruhig und beharrlich auch dieses neue „Missverständnis". Ein weiteres Ausweichen – so sollte man meinen – ist unmöglich. Hier heißt es einfach, einen Verhandlungsort zu benennen. Hier aber greift die rumänische Regierung zu einem neuen unerwarteten Schachzug: Sie fordert, dass die verbündeten Sowjet-Regierungen vorher, d. h. noch vor Eröffnung der Verhandlungen ihr mitteilen, welche Fragen denn die Verhandlungen eigentlich berührten? Die rumänische Regierung habe nämlich, versteht Ihr? – „von jeher mit den Sowjetrepubliken in Frieden und Freundschaft gelebt" und sähe deshalb eigentlich gar keinen Grund zu Friedensverhandlungen. – Weiter kann man wohl das diplomatische Jonglieren kaum treiben.

Und unterdessen macht sich die Unreguliertheit unserer Beziehungen in allem fühlbar: bei den beiderseitigen Grenzwachen und ihren beständigen Zusammenstößen, bei der Schifffahrt in der Dnjestrmündung, bei der Dnjestrfischerei.

11. Die Gefahren neuer Abenteuer.

Indem die rumänische Regierung so allen Verhandlungen ausweicht, die öffentliche Meinung ihres eigenen Landes irreführt, künstlich Missverständnisse und Schwierigkeiten auf dem Wege zu den Vertragsverhandlungen schafft, sucht sie sich vor der selbstgeschaffenen beunruhigenden Unsicherheit im Dnjestrgebiet zu retten, schafft sie sich zusätzliche Garantien in Form der Petljuraschen Banden. Kaum haben die französischen Interventionisten diese Stelle des geringsten Widerstandes erspäht, so üben sie nach Kräften einen Druck auf Rumänien aus, um Verhandlungen mit uns zu vereiteln. Wenn Take Jonescu erklärt hat, Frankreich warte nur auf einen geeigneten Moment, um Sowjet-Russland zu überfallen, so wäre es völlig falsch zu denken, Frankreich selber werde den Angriff eröffnen. Ganz richtig ist jene Erklärung aber in dem Sinne, dass sehr einflußreiche Kreise Frankreichs aus allen Kräften sich bemühen, Rumänien in einen Feldzug hineinzutreiben, um dann abwartend zuzusehen, was dabei herauskommt.

Es versteht sich, dass von einer Eröffnung der Feindseligkeiten durch die reguläre rumänische Armee nicht die Rede sein kann. Nein, ein bescheideneres Auftreten ist geplant. Die Kriegshandlungen sollen eröffnet werden von den eigens hierzu in Bessarabien konzentrierten Petljurabanden. Die rumänischen regulären Formationen stehen im zweiten Treffen, decken den Petljuraleuten den Rücken und verhalten sich abwartend.

Auf diesen sauberen Plan bezieht sich die Note Rakowskis und Tschitscherins vom 30. August d. J. Die Note spricht aber noch nicht alles aus. 9/10 der in unseren Händen befindlichen Nachrichten können darin aus Gründen des militärischen Geheimnisses noch nicht veröffentlicht werden.

Aber auch dieses eine Zehntel an Nachrichten, das in der Note mitgeteilt wird, ist mehr als genug, um die wirkliche Lage der Dinge an der südwestlichen Grenze des Sowjet-Landes zu charakterisieren. In Wahrheit geht es nicht um diplomatische Spitzfindigkeiten, nicht um eine Wortklauberei über den Begriff „freundschaftliche Beziehungen". Es geht auch nicht um die Geschichte unseres Verhältnisses zu Rumänien, ja nicht einmal um den letzten, den gestrigen Tag dieser Vergangenheit. Es handelt sich um den heutigen und den morgigen Tag.

In Rumänien, der Bukowina und Bessarabien nimmt die Vorbereitung der Feindseligkeiten gegen die Sowjet-Republiken ihren Fortgang. In Bendery sitzt im rumänischen Militärstab der Bevollmächtigte der Petljuraschen Verschwörertruppen. Der „ukrainische" Hauptmilitärbevollmächtigte bei der rumänischen Regierung, ein gewisser Guljai-Gulenko, geht in allen rumänischen Stäben aus und ein und fühlt sich dort wie zu Hause. Die Aufgabe der in Bessarabien formierten und ausgerüsteten Banden ist: den Kamenez-Podolsker und den Mogilewer Kreis zu besetzen, als Stützpunkt für weitere, militärische Operationen. Ihre nächstfolgende Aufgabe ist die Lebensmittelversorgung auf dem rechten Dnjepr-Ufer unmöglich zu machen. Tschitscherin und Rakowski fordern in ihrer Note im Namen der Sowjet-Föderation, dass diesem Treiben ein Ende gesetzt werde.

Hierauf antwortet Herr Take Jonescu in dem Stil, der uns schon bekannt ist, dass bei der Vorlegung der Note Tschitscherins und Rakowskis im rumänischen Ministerrat, sie dort das allergrößte Erstaunen hervorgerufen habe. Dort – seht Ihr wohl! – ist von derartigen Tatsachen überhaupt nichts bekannt Sie wissen nichts. Aber wir wissen es! Wir kennen recht gut – die Leute, die Organisation, die Stäbe, die Verbindungen, die Bewaffnung, die Summen und auch die Quellen der Summen.

Und wenn Herr Take Jonescu uns sagt dass er von alledem nichts wisse, so können wir ihm nur empfehlen, sich nach alledem recht genau bei den rumänischen Stäben zu erkundigen, angefangen von Bendery bis nach Bukarest: Dort weiß man, denn dort handelt man.

Indem ich dem Moskauer Sowjet hierüber Bericht erstatte, wie ich es bereits der Regierung gegenüber getan habe, erbitte ich Eure größte Aufmerksamkeit für diese brennende Frage. Ich möchte in keinem Falle so verstanden werden, als ob uns von Seiten Rumäniens unvermeidlich Krieg drohe. Von einer solchen Unvermeidlichkeit kann, wenn ich die Lage recht verstehe, keine Rede sein. Aber durch den Druck der französischen Interventionisten und durch die Logik seiner eigenen unwahren Politik kann Rumänien gezwungen sein, viel weiter zu gehen, als es selbst will. Es fängt klein an. Es gruppiert längs unserer Grenze die Petljurabanden, schafft für sie Verwaltung und Nachrichtenwesen, d. h. es fährt fort, solche Handlungen zu begehen, wie sie in dem blutigen Chaos der letzten Jahre schon zur Gewohnheit geworden sind…

Wir jedoch wollen an der Südwestgrenze unserer Föderativ-Republik Ruhe und feste Verhältnisse, nicht aber eine Fortsetzung dieses blutigen Chaos. Ich sage es noch einmal: Jetzt geht es nicht um die Abrechnung für den gestrigen Tag, sondern um die Sicherung des morgigen. Wenn Take Jonescu von der Verwunderung seiner Regierung redet, die keine für morgen drohende Gefahren kenne, so können wir hieraus nur einen Schluss ziehen: Neben der offiziellen Regierung, welche Verhandlungen führt, die Erstaunen ausdrückt und „von nichts weiß", – besteht eine inoffizielle, die weiß und handelt.

Was aber würde die Verwirklichung jenes Planes bedeuten? Das rechte Ufer des Dnjepr in der Ukraine ist gegenwärtig einer der gesegnetsten Erdstriche der Föderativrepublik: Dort ist eine herrliche Ernte eingebracht, die den Hunger des Wolgalandes lindern kann und muss. Wenn jetzt in die westliche Ukraine jene Petljurabanden einrückten – von denen Take Jonescu nichts weiß –, so bedeutet das, dass das rechte Ufer zum Schauplatz des verderblichsten aller Kriege wurde, – nämlich desjenigen, der zwischen regulären Truppen und Freischaren geführt zu werden pflegt. Das hieße, dass über die Dörfer, Scheunen und Äcker der ukrainischen Bauern des rechten Ufers einmal, zweimal, der furchtbare Sturzbach des Bürgerkrieges hinwegginge!

Das hieße, dass die, auf rumänische Kosten ausgerüsteten Petljurabanden – von denen Take Jonescu nichts weiß – in der Ukraine allein fünf- bis zehnmal mehr Getreide vernichten würden, als die ganze vereinigte Philanthropie der ganzen bürgerlichen Welt uns zu geben sich anschickt

Und hier, Genossen, im Namen dieses berufensten örtlichen Organs der Sowjetmacht, wie im Namen der Arbeiter und Bauern Allrusslands sagen wir der Regierung Englands, der Regierung Frankreichs und allen Regierungen der Entente: „Ihr sprecht davon, uns zu helfen, Ihr wollt die Not der Wolgabauern untersuchen; – untersucht vor allem die Euch benachbarte Grenzzone Bessarabiens und Rumäniens, ob dort nicht Banditen und Brandstifter vorhanden sind von denen die ganze Ukraine, rechts des Dnjeprs, in Flammen auflodern kann, – der schwerste Schlag für die hungernden Bauern an der Wolga.

Wir erwarten, Genossen, keine rasche Antwort von der Entente, aber wir wollen und werden bereit sein, unsere Grenzen, unseren Bestand aus eigener Kraft zu sichern. Wie bitter schwer es uns auch fiele, jetzt, wo wir alle Kräfte und Mittel ganz und gar an die Hilfe für die Hungernden setzen möchten und gleichzeitig an das grundlegende Werk, an die Neuaufrichtung unserer Wirtschaft im Ganzen, – wir können unsere Südwestgrenze nicht aus den Augen lassen.

Das Schicksal des Wolgabauern und seiner Kinder entscheidet sich jetzt nicht nur an der Wolga selber, wohin wir Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen zur Hilfe senden und weiter senden werden, – sein Schicksal entscheidet sich auch an jenen Abschnitten unserer Grenze, wo der weltbeherrschende Imperialismus dem Gedanken noch nicht entsagt hat, die Sowjetmacht einer letzten Heimsuchung zu unterwerfen. Nach all der Erfahrung, die wir gewonnen, nach all dem Elend, das wir durchgemacht, nach den fast vier Jahren, in denen wir kämpften und siegten, fühlen wir uns fest genug, um, ohne in der Wirtschaftsarbeit nachzulassen, die Unverletzlichkeit der Föderativen Sowjet-Republik immer und überall zu verteidigen, wo sie auch bedroht sein mag, – trotz unserer aufrichtigen und offenen Bereitschaft zum Frieden mit allen Nachbarn. Wir sind bereit, mit der bisherigen Kraft und Entschlossenheit innerhalb des Landes jeden Versuch, die neue schwere Wegstrecke zu einem reaktionären Umsturz auszunutzen, zu unterdrücken.

Genossen! Nicht dazu haben wir im November des Jahres 1917 die Macht ergriffen, nicht dazu hat die arbeitende Klasse namenlose Opfer und Entbehrungen ohne Zahl getragen, um jetzt auf dieser neuen Wegstrecke zu straucheln und sich zu ergeben, – nein, die Rechnung unserer Feinde wird sich als falsch erweisen, auch diesmal!

Wir widerstehen, wir überwinden, wir werden siegen, wir werden wieder stark, wir schreiten voran! (Anhaltender Beifall.)

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