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Leo Trotzki 19211225 Die wirtschaftliche Konjunktur und die internationale Arbeiterbewegung

Leo Trotzki: Die wirtschaftliche Konjunktur und die internationale Arbeiterbewegung

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 4 (10. Januar 1922), S. 25-28]

Die europäische Arbeiterbewegung beginnt Symptome eines neuen revolutionären Aufschwungs aufzuweisen. Ob wir jetzt einer letzten Entscheidung entgegengehen oder nicht, lasst sich schwer voraussagen. Aber ohne Zweifel macht die revolutionäre Kurve eine Steigerung nach oben.

Im ersten Jahre nach dem Kriege (1919) erlebte der europäische Kapitalismus seine kritischste Periode. Die höchste Steigerung des revolutionären Kampfes in Italien (Septembertage 1920) fand in einem Augenblick statt, als Deutschland, England und Frankreich die schärfsten Momente der politischen Krise überwunden hatten. Die Märzereignisse vergangenen Jahres in Deutschland waren nur ein verspäteter Nachklang einer vergangenen revolutionären Epoche und nicht der Beginn einer neuen. Schon seit dem Anfang 1920 geht das Kapital und seine Regierung nach Befestigung seiner ersten Positionen zum weiteren Angriff über. Die Bewegung der Arbeitermassen nimmt einen Verteidigungscharakter an. Die Kommunistischen Parteien überzeugen sich, dass sie in der Minderheit sind und in verschiedenen Momenten will es scheinen, dass sie von der größten Mehrheit der Arbeiterklasse isoliert sind. Daraus entsteht die sogenannte „Krise" der 3. Internationale. Augenblicklich ist, wie gesagt, ein offensichtlicher Umschwung eingetreten. Der revolutionäre Angriff der Arbeiterschaft wächst. Die Perspektiven des Kampfes werden größer.

Dieser Etappenwechsel resultiert aus verschiedenen komplizierten Ursachen. Aber seine Grundlage ist im scharfen Zickzack der wirtschaftlichen Konjunktur zu suchen, in dem sich die kapitalistische Entwicklung der Nachkriegszeit widerspiegelt

Der gefährlichste Augenblick für die europäische Bourgeoisie war die Demobilisationsperiode, die Heimkehr der betrogenen Soldaten und ihre Wiederaufnahme in den Produktionsprozess. Die ersten Monate nach dem Kriege schufen große Schwierigkeiten, die die Verschärfung des revolutionären Kampfes förderten. Aber die herrschenden bürgerlichen Cliquen kamen zu sich und begannen eine großzügige Finanz- und staatliche Politik durchzuführen, um die Demobilisationskrise abzuschwächen. Das Staatsbudget ist ebenso ungeheuer groß geblieben, wie in der Kriegszeit. Viele Unternehmungen wurden künstlich aufrechterhalten. Viele Bestellungen wurden nicht zurückgezogen, um einer Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Wohnungen werden vermietet für Preise, die die Reparaturunkosten nicht decken. Die Regierung zahlt aus ihrem Budget einen Zuschuss, um eine Verbilligung des eingeführten Fleisches und Getreides zu bewerkstelligen. Mit anderen Worten: Die Staatsschuld wächst, die Valuta sinkt, die Grundlagen der Wirtschaft werden untergraben; alles zu dem politischen Zweck: den fiktiven Aufschwung im Handel und in der Industrie der Kriegszeit zu verlängern. Dies bietet den Industriespitzen die Möglichkeit, eine Erneuerung des technischen Apparates der Hauptunternehmungen vorzunehmen und sie auf die Friedenswirtschaft umzustellen.

Aber der fiktive Aufschwung findet sehr schnell seine Grenzen in der allgemeinen Verarmung. Die Industrie der Bedarfsgegenstände stößt auf den außerordentlich gesunkenen Absatzmarkt und bildet die erste Barrikade der Überproduktion, die ihrerseits einen Wall für die Entwicklung der Schwerindustrie darstellt. Die Krise nimmt ungeheuren Umfang und ungeheure Formen an. Begonnen jenseits des Ozeans im Frühjahr, wälzt sie sich über Europa zur Mitte des Jahres 1920 und erreicht ihren Höhepunkt im Mai 1921.

Und so sehen wir, dass In dem Augenblick, als die offene Nachkriegs-, Handels- und Industriekrise sich zu entwickeln begann, (nach dem Jahre des Scheinaufschwungs) der erste elementare Ansturm der Arbeiterschaft gegen die bürgerliche Gesellschaft schon seinem Ende zuging. Die Bourgeoisie hat diesen Ansturm bestanden. Teils durch Lavierungen, Zugeständnisse, teils mit Hilfe der bewaffneten Macht. Dieser erste proletarische Ansturm war sehr chaotisch – ohne bestimmte Ziele und Ideen, ohne Plan, ohne Führung. Der Gang und der Ausgang dieses ersten Ansturmes bewiesen der Arbeiterschaft, dass die Änderung ihrer Lage und der bürgerlichen Gesellschaft eine viel schwierigere Sache ist, als es in der ersten Zeit des Nachkriegsprotestes scheinen mochte. Die verhältnismäßig in der Formlosigkeit ihrer revolutionären Stimmung ebenmäßige Arbeiterschaft beginnt schnell ihre „Ebenmäßigkeit" zu verlieren. Sie beginnt, innerlich differenziert zu werden. Der aktivere Teil der Arbeiterschaft, der am wenigsten an die früheren Traditionen gebunden war, schließt sich in der Kommunistischen Partei zusammen, nachdem er durch Erfahrung die Notwendigkeit der Zielklarheit und der organisatorischen Einheitlichkeit erkannte. Die konservativen und die wenig klassenbewussten Elemente rücken zeitweise von den revolutionären Zielen und Methoden ab. Die Arbeiterbürokratie nutzt diese Zersplitterung aus, um ihre Positionen wieder herzustellen

Die Handels- und Industriekrise im Frühjahr und Sommer 1920 brach aus, wie erwähnt, in einem Zeitpunkt, wo die bezeichnete politische und psychologische Reaktion in der Arbeiterschaft schon entstanden war. Die Krise hat zweifellos die Unzufriedenheit großer Arbeitermassen verschärft, hat hier und da stürmische Kundgebungen dieser Unzufriedenheit gezeitigt. Aber nach dem misslungenen Angriff im Jahre 1919 und der als Ergebnis dieser Niederlage entstandenen Differenzierung war die wirtschaftliche Krise an und für sich nicht mehr imstande, der Bewegung die notwendige Einheit zu verleihen und sie zu einem entscheidenden revolutionären Ansturm zu gestalten. Daraus überzeugen wir uns aufs Neue, dass der Einfluss der Krise auf den Gang der Arbeiterbewegung keineswegs ein so gleichmäßiger ist, wie es einigen Leuten erscheinen mag: Die politische Wirkung einer Krise (nicht nur ihre Tiefe, sondern auch ihre Tendenz) wird durch die ganze politische Situation und durch die Ereignisse bestimmt, die der Krise vorangingen und sie begleiteten; besonders aber durch die Kämpfe, die Erfolge und Misserfolge der Arbeiterschaft selbst, die der Krise vorangingen. In manchen Fällen kann die Krise ein mächtiger Ruck für die revolutionäre Aktivität der Arbeiterschaft werden, in anderen die Kampflust des Proletariats vollständig lähmen und bei einer längeren Dauerhaftigkeit nach viel zu viel Opfern, die es die Arbeiterschaft kostete, nicht nur die Angriffs-, sondern sogar die Verteidigungsenergie der Arbeiterschaft außerordentlich schwächen.

Jetzt könnte man zur Ergänzung dieses Gedankens folgende nachträgliche Vermutung aussprechen: Wenn die wirtschaftliche Krise mit ihren Erscheinungen der Massenarbeitslosigkeit und der Unsicherheit unmittelbar nach dem Kriegsschluss eingetreten wäre, würde die revolutionäre Krise der bürgerlichen Gesellschaft einen unvergleichlich stärkeren und tieferen Charakter angenommen haben. Gerade um dies zu verhindern, haben die bürgerlichen Regierungen die revolutionäre Krise durch spekulativen finanziellen Aufschwung zu schwächen versucht. Das heißt, sie haben die unvermeidliche Handels- und Industriekrise auf anderthalb Jahre verschoben, auf Kosten der weiteren Zerstörung ihres finanziellen und wirtschaftlichen Apparates. Die Krise ist dadurch eine tiefere und schärfere geworden. Aber sie fiel nicht mehr mit der stürmischen Demobilisationswelle zusammen, sondern mit dem Moment der Niederlage, der Bilanzschließung, wo in einem Lager die Massen umzulernen begannen und im anderen enttäuscht waren, was Grund zu vielen Spaltungen gab. Die revolutionäre Energie der Arbeiterschaft ging nach innen, und hat sich am deutlichsten in dem geschlossenen Aufbau der Kommunistischen Partei offenbart. Diese Partei wird zu einer großen Macht in Deutschland und in Frankreich. Das Kapital, das im Jahre 1921 künstlich den spekulativen Aufschwung verlängerte, benutzte nach der Beseitigung der unmittelbaren Gefahr die entstandene Krise, um die Arbeiterschaft um ihre Positionen zu bringen (Achtstundentag, erhöhten Arbeitslohn), die es ihr zum Selbstschutz in der vergangenen Periode einräumte. Die Arbeiterschaft verteidigte sich, musste aber weichen. Die Ideen der Machteroberung, der Sowjetrepublik, der sozialistischen Revolution, mussten naturgemäß in ihrem Bewusstsein in einer Periode erblassen, wo sie gezwungen war – und bei weitem nicht immer erfolgreich – gegen den Abbau des Arbeitslohnes zu kämpfen.

In den Ländern, wo die wirtschaftliche Krise nicht die Formen der Überproduktion und der stärken Arbeitslosigkeit annahm, sondern noch eine ernstere Form, die des Ausverkaufs des Landes und der Senkung der Lebenshaltung der Arbeiterschaft (in Deutschland), glich die Energie der Arbeiterschaft, die sie zur Erhöhung der Arbeitslöhne aufwandte, im Verhältnis zur Verringerung der Kaufkraft der Mark, der Energie eines Menschen, der seinem eigenen Schatten nachjagt. Das deutsche Kapital ist ebenso wie in anderen Ländern zum Angriff übergegangen. Die Arbeitermassen gingen bei der Verteidigung in ungeordneten Scharen zurück.

Gerade unter diesen Verhältnissen spielten sich in Deutschland die Märzereignisse letzten Jahres ab. Der Kern1 dieser Ereignisse läuft darauf hinaus, dass die junge Kommunistische Partei, erschrocken durch den sichtlichen revolutionären Rückgang der Arbeiterbewegung, einen verzweifelten Versuch unternahm, um die Aktion eines revolutionär gestimmten Proletariertrupps zur „Elektrisierung" der ganzen Arbeiterschaft auszunutzen und möglichst die Sache zum entscheidenden Kampf zu steigern.

Unter den frischen Eindrücken der Märzereignisse in Deutschland fand der 3. Kongress der Kommunistischen Internationale statt. Nach genauer Prüfung hat der Kongress richtig die Gefahr erkannt, die daraus entstehen kann, wenn die „Offensivtaktik" und die Taktik der revolutionären „Elektrisierung" und jene tieferen Prozesse, die sich unter der Arbeiterschaft abspielten, im Zusammenhang mit den Schwankungen und Änderungen in der wirtschaftlichen und politischen Situation nicht in Einklang stehen.

Hätte Deutschland im Jahre 1918 und 1919 über eine so starke Kommunistische Partei wie im März 1921 verfügt, so ist es sehr wahrscheinlich, dass das Proletariat schon im Januar oder März 1919 die Macht erobert hätte. Aber eine solche Partei bestand nicht. Das Proletariat erlitt eine Niederlage. Aus der Erfahrung dieser Niederlage wuchs die Kommunistische Partei. Wenn sie im Jahre 1921 so handeln wollte wie eine Kommunistische Partei im Jahre 1919 handeln musste, wäre sie zugrunde gegangen.

Das gerade hatte der letzte Kongress festgestellt.

Die Erörterungen der Offensivtheorie stehen in fester Verbindung mit der Frage der Bewertung der wirtschaftlichen Konjunktur und deren weitere Entwicklung. Die konsequenten Vertreter der Offensivtheorie entwickelten folgende Ansicht:

Die ganze Welt ist von einer Krise beherrscht, die die Krise des Verfalls der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet; diese Krise muss sich unbedingt verschärfen und dadurch die Arbeiterklasse revolutionieren; deshalb hat die Kommunistische Partei keine Veranlassung, zurück auf die Reserven zu blicken; ihre Aufgabe ist es, die kapitalistische Gesellschaft anzugreifen. Früher oder später muss das Proletariat, getrieben von dem wirtschaftlichen Verfall, diese Aufgabe erfüllen.

In so vollendeter Form ist dieser Standpunkt bis zum Kongress nicht erhalten geblieben: Seine krassesten Stellen wurden in der Kommission für Stellungnahme zur Wirtschaftlichen Lage fallen gelassen. Schon der Gedanke, dass eine Handels- und Industriekrise von einem verhältnismäßigen wirtschaftlichen Aufschwung abgelöst werden kann, schien den bewussten und halb bewussten Anhängern der Offensivtheorie fast – Zentrismus. Was den Standpunkt anbetrifft, dass eine neue Handels- und Industriebelebung nicht nur keine Bremse für die Revolution bedeutet, sondern ihr im Gegenteil neue Kraft verleihen kann, so schien er ganz menschewistisch. Der schlecht angebrachte Radikalismus der „Linken" fand eine unschuldige Widerspiegelung auf dem letzten Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands, dessen Resolution unter anderem mich einer persönlichen Polemik würdigt. Trotzdem ich nur die Ansichten des Zentralkomitees unserer Partei äußerte. Ich söhne mich um so lieber mit dieser kleinen und für die Sache unschädlichen Revanche der „Linken" aus, als die Lehre des 3. Kongresses an niemand spurlos vorüberging und am wenigsten au unseren deutschen Genossen.

II.

Jetzt sind die Erscheinungen des Umschwungs der wirtschaftlichen Konjunktur zweifellos zutage getreten. Die allgemeinen Phrasen darüber, dass die gegenwärtige Krise die letzte Krise des Zerfalls sei, dass sie die Grundlage einer revolutionären Epoche bildet, dass sie nur mit dem Siege des Proletariats enden kann, sind selbstverständlich nicht imstande, eine konkrete Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung mit allen daraus folgenden taktischen Schlussfolgerungen zu ersetzen. Wie gesagt, ist die Weltkrise im Mai vorigen Jahres tatsächlich zum Stillstand gekommen. Die Industrie für Bedarfsgegenstände hat zuerst Anzeichen der Konjunktursteigerung aufgewiesen. Ihr folgte auch die Schwerindustrie. Augenblicklich sind es unbestreitbare Tatsachen, die durch Zahlen bekräftigt werden. Wir wollen die Zahlen nicht anführen, um dem Leser die Erfassung unserer Gedanken nicht zu erschweren.*

Will das besagen, dass der Zerfall der Wirtschaft beendet ist? Dass sie ihr Gleichgewicht wiederhergestellt hat? Dass die revolutionäre Epoche zu Ende sei? Auf keinen Fall. Der Umschwung der Industriekonjunktur bedeutet, dass der Zerfall der kapitalistischen Wirtschaft und der Gang der revolutionären Epoche viel kompliziertere Erscheinungen sind, als es manchen Leuten, die alles vereinfachen möchten, scheinen mag.

Der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung wird durch zweierlei Kurven charakterisiert: Die eine – die grundlegende – bestimmt das allgemeine Wachstum der Produktivkräfte, des Warenumsatzes, des Außenhandels, Bankoperationen und dgl. Diese Kurve bewegt sich durch die ganze kapitalistische Entwicklung im großen Ganzen nach oben. Sie drückt die Tatsache aus, dass die Produktivkräfte und der gesellschaftliche Reichtum unter dem Kapitalismus gestiegen sind. Aber diese grundlegende Kurve steigt nicht gleichmäßig an. Es kommen Jahrzehnte vor, wo sie kaum eine Steigerung aufweist, dann andere, in denen sie steil aufsteigt, um dann im Laufe einer neuen Epoche lange Zeit auf demselben Niveau zu bleiben. Mit anderen Worten: die Geschichte verzeichnet Epochen mit rascher und langsamer Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Kapitalismus. So werden wir z. B. bei der Betrachtung der Kurve des englischen Außenhandels ohne Mühe feststellen, dass sie sich seit Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts sehr langsam entwickelte. Dann stieg sie im Laufe von über 20 Jahren (1851-1873) sehr rasch nach oben. In der darauffolgenden Epoche (1873-1894) blieb sie fast unverändert, um sich dann bis zum Kriegsausbruch wieder aufwärts zu schwingen.

Wir wissen aber, dass die kapitalistische Entwicklung sich in Industriezirkeln bewegt, die aus einigen konsequenten Phasen der wirtschaftlichen Konjunktur bestehen: Aufschwung, Stillstand, Krise, Stillstand der Krise, Verbesserung, Aufschwung, Stillstand usw. Die geschichtliche Betrachtung zeigt, dass dieser Zirkel sich alle acht bis zehn Jahre ablöst. Wenn man sie graphisch auf Papier wiedergibt, werden wir eine grundlegende Kurve bekommen, die die allgemeine Richtung der kapitalistischen Entwicklung charakterisiert – die periodischen Wellen des Wachstums und Niedergangs. Die Schwankungen der Konjunktur sind der kapitalistischen Wirtschaft ebenso eigen, wie der Herzschlag einem lebendigen Organismus.

Der Krise folgt ein Aufschwung, der Aufschwung wird von einer Krise abgelöst. Aber im allgemeinen hat sich die Kurve des Kapitalismus im Laufe der Jahrhunderte aufwärts bewegt. Es ist klar, dass die Summe der Steigerung größer war als die Summe der Krisen. Die Entwicklungskurve hat jedoch in verschiedenen Epochen verschieden ausgesehen. Es gab Stillstandsepochen. Die Schwankungen dauerten fort. Aber da die kapitalistische Entwicklung im allgemeinen langsam nach oben ging, haben die Krisen folglich ungefähr den Aufschwung ausgeglichen. In den Epochen, wo die Produktivkräfte schnell wuchsen, dauerten auch die Schwankungen trotzdem an. Aber jeder Aufschwung hat zweifellos die Wirtschaft mehr vorwärts gebracht, als die folgende Krise imstande war, sie zu zerstören. Die Wellen der Industriezirkel könnten mit den Schwingungen der Saiten verglichen werden, wenn man sich die Linien der wirtschaftlichen Entwicklung gespannt vorstellt; tatsächlich stellen sie aber eine komplizierte geschwungene Linie dar.

Allein diese innere Mechanik der kapitalistischen Entwicklung beweist durch ihren beständigen Wechsel von Krisen und Aufschwung, wie sehr der Gedanke, dass die gegenwärtige Krise durch ununterbrochene Verschärfung bis zur Diktatur des Proletariats anhalten muss, abgesehen davon, ob diese Diktatur in einem, drei, oder noch mehr Jahren eintreten würde – falsch, unwissenschaftlich und einseitig ist. Die Zirkel-Schwankungen, führten wir im Bericht und in der Resolution des 3. Kongresses aus, begleiten die kapitalistische Entwicklung in ihrer Jugend, Reife und Verfallszeit, wie der Herzschlag einen Menschen auch während der Agonie. Wie die allgemeinen Bedingungen, wie stark der wirtschaftliche Zerfall auch sein möge – eine Handels- und Industriekrise beseitigt die Überproduktion, schafft mehr Einklang zwischen Produktion und Absatz, und ermöglicht schon dadurch allein eine Belebung der Industrie.

Das Tempo, der Umfang, die Hartnäckigkeit und Dauerhaftigkeit der Wiederbelebung hängen von den gesamten Bedingungen ab, die die Lebensfähigkeit des Kapitalismus charakterisieren. Jetzt kann man mit Bestimmtheit sagen (das wurde schon während des 3. Kongresses gesagt), dass, sobald die Krise den ersten Wall durchbrechen wird, die ungeheuren Preissteigerungen, wird die Industriebelebung in dem gegenwärtigen Rahmen der Weltordnung schnell auf andere Hindernisse stoßen: Die weitgehende Zerstörung des wirtschaftlichen Gleichgewichts zwischen Amerika und Europa, die Verarmung Zentral- und Osteuropas, die dauerhafte und tiefe Zerrüttung des Finanzapparates usw. Mit anderen Worten: der nächste Industrieaufschwung wird nicht imstande sein, in seiner Weiterentwicklung auch nur annähernd die Verhältnisse der Vorkriegszeit wiederherzustellen; im Gegenteil, ist es höchst wahrscheinlich, dass dieser Aufschwung nach den ersten Eroberungen sich in eine wirtschaftliche Sackgasse verrennen wird.

Aber ein Aufschwung bleibt ein Aufschwung. Er bedeutet eine Steigerung der Nachfrage nach Waren, die Erweiterung der Produktion, die Verminderung der Arbeitslosigkeit, die Steigerung der Warenpreise und die Möglichkeit der Erhöhung der Arbeitslöhne. Und in den gegebenen historischen Verhältnissen wird er den revolutionären Kampf der Arbeiterschaft nicht schwächen, sondern stärken. Das geht aus dem ganzen früheren Hergang hervor. Die Arbeiterbewegung hat nach dem Kriege in allen Ländern ihren Gipfelpunkt erreicht, der, wie wir sehen, zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Niederlage, zum Rückzug, zur Zersplitterung innerhalb der Arbeiterschaft selbst geführt hat. Unter solchen, politischen und psychologischen Bedingungen würde eine anhaltende Krise zwar die Erbitterung der Arbeitermassen (besonders der Arbeitslosen und Kurzarbeiter) steigern, aber gleichzeitig unvermeidlich ihre Aktivität schwächen, denn diese ist unlösbar mit. dem Bewusstsein ihrer Unentbehrlichkeit für den Produktionsprozess verbunden. Eine anhaltende Arbeitslosigkeit ist nach der Epoche eines revolutionären politischen Ansturms und Rückzuges keineswegs für die Kommunistische Partei günstig. Im Gegenteil, die Krise droht, je länger desto mehr, auf einer Seite anarchistische Stimmungen großzuziehen, auf der anderen reformistische. Diese Tatsache drückte sich aus in der Absplitterung der anarcho-syndikalistischen Gruppen von der 3. Internationale, einem gewissen Zusammengehen von Amsterdam mit der 2½ Internationale, einem zeitweiligen Zusammenschluss der Seratianer, der Abspaltung der Levi-Gruppe usw. Im Gegenteil: eine Belebung der Industrie ist dazu geeignet, vor allen Dingen das Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft zu stärken, die durch die Niederlagen und Auflösung ihrer Reihen geschwächt wurde, sie in den Fabriken und Betrieben zusammenzuschweißen und ihre Bestrebungen zu einheitlichen Aktionen zu heben. Wir sehen bereits die ersten Anzeichen dieses Prozesses, die Arbeiterschaft fühlt festeren Boden unter den Füßen. Sie strebt, ihre Reihen zusammenzuschließen Sie empfindet die Spaltungen als Hindernis für die Aktion. Sie versucht nicht nur, eine einheitliche Front dem aus der Krise entstandenen Angriff des Kapitals entgegenzustellen, sondern bereitet sich, gestützt auf die Bedingungen, die der Industrieaufschwung schuf, zu einem Gegenangriff vor. Die Krise war eine Periode der getäuschten Hoffnungen und der Erbitterung und zum Teil der eigenen Machtlosigkeit. Der Aufschwung, soweit er sich ausdehnt, wird diesem Gefühl einen Ausgang in der Aktion bieten. Eben das besagt die von uns unterstützte Resolution des 3. Kongresses:

Wenn das Entwicklungstempo sich verlangsamen sollte und wenn der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in einer größeren oder kleineren Zahl von Ländern eine Periode des Aufschwungs folgen würde, so würde diese Tatsache keinesfalls den Beginn der „organischen" Epoche bedeuten. Solange der Kapitalismus existiert sind zyklische Schwankungen unvermeidlich. Sie werden ihn auch in der Agonie begleiten, wie sie ihn in der Jugend und in der Reifezeit begleiteten …

Gesetzt den Fall, dass das Proletariat im Laufe der jetzigen Krise durch den Ansturm des Kapitals zurückgeworfen würde, wird es bei Eintritt einer besseren Konjunktur sofort zum Angriff übergehen. Sein ökonomischer Angriffskampf, der in solchem Falle unvermeidlich unter der Losung der Revanche für alle Betrügereien der Kriegsepoche, für allen Raub und alle Demütigungen der Krisenepoche geführt würde, würde hierdurch ebenso die Tendenz zeigen, sich in einen offenen Bürgerkrieg zu verwandeln, wie der gegenwärtige Verteidigungskrieg."

III.

Die kapitalistische Presse frohlockt über die wirtschaftliche „Gesundung" und die Perspektive einer neuen Epoche der kapitalistischen Festigkeit. Diese Begeisterung ist ebenso grundlos, wie die sie ergänzenden Befürchtungen der „Linken", die annahmen, dass die Revolution aus einer ununterbrochenen Krisenverschärfung erwachsen würde. Wenn der nächste Handels- und Industrieaufschwung neue Reichtümer für die Spitzen der Bourgeoisie bedeutet, so würde in der Praxis dieses politisch für uns nur günstig sein. Die Einigungstendenz der Arbeiterschaft ist nur ein Ausdruck des gesteigerten Willens zur Aktion. Wenn die Arbeiterschaft im Namen des Kampfes gegen die Bourgeoisie heute fordert, dass die Kommunisten sich mit den Unabhängigen und Sozialdemokraten in Verbindung setzen, so werden sie sich im Laufe der Entwicklung bald davon überzeugen, dass nur die Kommunistische Partei imstande ist, die Führung im revolutionären Kampf zu übernehmen. Die erste Welle des Kampfes wird alle Arbeiterorganisationen mitreißen und sie zur Einigung drängen. Die Sozialdemokraten sowie die Unabhängigen erwartet dasselbe Schicksal. Sie werden nacheinander in den Wellen der revolutionären Flut ertrinken.

Bedeutet dies im Gegensatz zu der Theorie der Offensivanhänger, dass nicht die Krise, sondern die wirtschaftliche Wiederbelebung unmittelbar zum Siege des Proletariats führen muss? Eine solche kategorische Behauptung wäre unbegründet. Wir haben schon oben gezeigt, dass zwischen der wirtschaftlichen Konjunktur und dem Charakter des Klassenkampfes kein mechanischer, sondern ein komplizierter dialektischer Zusammenhang besteht. Um die Aufgaben der nächsten Zukunft zu begreifen, genügt es uns, dass wir für die Aufschwungsperiode besser gerüstet dastehen als früher für die Krisenperiode. In den wichtigsten Ländern des europäischen Kontinents existieren starke kommunistische Parteien. Der Umschwung der Konjunktur erweckt in ihnen zweifellos die Möglichkeit, eine Offensive nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer Art. Es wäre fruchtlos, jetzt erraten zu wollen, wie weit diese Offensive gehen kann: Sie hat eben erst begonnen, vielmehr, es sind nur die ersten Anzeichen ihres Beginns in die Erscheinung getreten. Aber wenn wir annehmen – wird mancher Dialektiker forschen – dass die nächste Industriebelebung uns nicht zum unmittelbaren Sieg verhilft, so wird doch wahrscheinlich ein neuer Industriezirkel eintreten, der einen neuen Schritt in der Wiederherstellung des kapitalistischen Gleichgewichts bedeuten würde. Bedeutet das nicht eine Gefahr einer neuen Epoche der kapitalistischen Restauration? Darauf kann man folgendes erwidern: Würde die Kommunistische Partei nicht wachsen und würde das Proletariat nicht immer mehr Erfahrung sammeln und würde es der Bourgeoisie nicht immer ernstere und unversöhnlichere Schlachten liefern, würde es nicht versuchen, die erste Möglichkeit zu ergreifen, um aus der Verteidigung zum Angriff überzugehen, so könnte die Mechanik der kapitalistischen Entwicklung mit Hilfe der Manöver der bürgerlichen Regierungen zweifellos zu ihrem Ziel gelangen. Ganze Länder würden in die wirtschaftliche Barbarei zurückgestoßen werden, Dutzende von Millionen Menschen würden vernichtet werden durch Hunger und Verzweiflung und auf ihren Knochen würde irgendein neues Gleichgewicht der kapitalistischen Welt aufgebaut werden. Aber eine solche Perspektive ist eine reine Abstraktion. Der Weg zu diesem verstandesmäßigen Gleichgewicht des Kapitalismus würde auf viele große Hindernisse stoben: Chaos des Weltmarktes, Zerstörung der Valuta, Militarismus, Kriegsgefahr, Unsicherheit der nächsten Zukunft. Die elementaren Kräfte des Kapitalismus suchen einen Ausweg aus den vielen Hindernissen. Aber dieselbe elementare Kraft trifft die Arbeiterschaft und treibt sie vorwärts. Die Arbeiterschaft selbst ist eine Bedingung der Entwicklung, ihr Faktor, und ihr wichtigster Faktor, denn in ihr ist die Zukunft verkörpert.

Die Grundkurve der Industrieentwicklung sucht nach oben zu gelangen. Ihre Bewegung wird durch die Zirkelschwankungen erschwert, die nach der Kriegszeit krampfartige Formen annimmt. In welchem Entwicklungsstadium wird sich der Zusammenschluss von objektiven und subjektiven Bedingungen vollziehen, der einen revolutionären Umschwung ergeben muss? Ob dieses im Laufe des Aufschwungs stattfindet, im Anfang oder am Ende oder mit dem Beginn eines neuen Zirkels, ist freilich unmöglich vorauszusehen. Wir wollen uns damit begnügen, dass das Tempo der Entwicklung im großen Maße von uns abhängig ist, von unserer Partei, von ihrer Taktik. Es ist außerordentlich wichtig, sich in dem neuen wirtschaftlichen Umschwung Klarheit zu schaffen, der vielleicht eine neue Etappe in dem Zusammenschluss unserer Reihen und in einem siegreichen Angriff bedeutet. Für eine revolutionäre Partei ist die Erkenntnis der Verhältnisse schon an und für sich eine Abkürzung des Leidensweges und ein Näherkommen zum Ziele.

1Wort sinngemäß ergänzt, in der Vorlage nicht lesbar

* Die interessierten Leser können entsprechende Angaben in dem Artikel des Genossen Pawlowski in der Nummer 19 der Kommunistischen Internationale und in dem Artikel des Genossen S. A, Falckner in der „Ekonomitscheskaja Schisn" (Nr. 281/282, 285, 286) finden. – (Diese Anzeichen scheinen vereinzelt geblieben zu sein, denn bis heute ist eine allgemeine Besserung der Wirtschaftslage nicht eingetreten. Die Redaktion [der Internationalen Pressekorrespondenz].)

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