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Leo Trotzki 19210323 Kronstadt und die Börse

Leo Trotzki: Kronstadt und die Börse

[Nach W. I. Lenin, L. Trotzki, V. Serge, Kronstadt, Frankfurt/Main 1981, S. 69-71. Dort übersetzt aus Как вооружалась революция (Kak vooruzhalas revolutsiia, Wie die Revolution sich selbst bewaffnete) Band 3, Buch 1, S. 205/206. zuerst veröffentlicht in der Prawda Nr. 63.]

Wir finden sehr aufschlussreiche Reaktionen auf die Ereignisse in Kronstadt in der Pariser Wirtschaftszeitung L'Information. Dieses Organ spiegelt am ausführlichsten und direktesten die französischen und internationalen Finanzmärkte wider. Hier schlugen sich die Ereignisse in Kronstadt nicht in politischen Artikeln oder irgendwelchen „Parolen" nieder, sondern in trockenen Berichten über die Stimmung an den Börsen und die dort getätigten Geschäfte. In der Ausgabe von L'Information vom 8. März finden wir einen Bericht aus Brüssel, der auf den 5. März datiert ist. Wir zitieren wörtlich:

Die noch unbestätigten Berichte über größere Unruhen in Russland, die sich gegen die Sowjetdiktatur richten, hatten einen bedeutenden Einfluss auf die Verbesserung der Situation auf dem Effektenmarkt. Jeder versteht, welche Konsequenzen der Sturz des Sowjetregimes in Russland in der ganzen Welt haben würde … Man könnte dann hoffen, dass in dem alten Zarenreich in Zukunft eine vernünftige wirtschaftliche Ordnung geschaffen wird, die den Erfordernissen der Nachkriegsära entspricht. Das würde auch bedeuten, dass man hoffen könnte, dass viele der belgischen Industrieunternehmen in Russland zurückgegeben würden. Gleichzeitig würde das einen schweren Schlag für die bolschewistischen Intrigen in Belgien und der ganzen Welt bedeuten.“ Mit anderen Worten: die Brüsseler Börse interessierte sich nicht im Geringsten dafür, wie die Parolen des Sozialrevolutionärs Petrichenko sich von den Zielen eines Generals Koslowski und der Geschichtsphilosophie des Menschewiken Dan unterschieden. Die Börse war intelligent genug zu verstehen, dass diese feinen Schattierungen und rhetorischen Spitzfindigkeiten nicht zur Debatte standen. Die Börse verstand sehr gut, dass in Russland nur eines von zwei Regimen bestehen kann: entweder die Sowjetdiktatur geführt von der Kommunistischen Partei – historisch die einzige Partei, die fähig war, eine Revolution zu führen; oder die Diktatur des französischen, belgischen oder eines anderen ausländischen Kapitalismus vermittelt über die Agentur bestimmter russischer Konterrevolutionäre. Petrichenko, Dan, Kozlowski, Tschernow, Machno – sie sind alle zusammen nur ein kleines Rad im Getriebe, das der proletarischen Diktatur die Macht aus den Händen reißen und sie in die des Imperialismus legen soll.

In der Ausgabe vom 9. März eben dieser L'Information finden wir einen Bericht über die Pariser Börse, der auf den 8. März datiert ist. Zu Beginn wird festgestellt, dass die Börse bis vor kurzem an ihren „üblichen Schmerzen" (Inaktivität, Schwäche, Trägheit) gelitten, sich aber in den letzten Tagen in Bewegung gesetzt hätte – vor allem dank der „günstigen Berichte", dass es in Russland verbreitet Unruhen gebe, die die bolschewistische Herrschaft bedrohten. „Alle Teile der Börse waren mehr oder weniger lebhaft. Aber die russischen Wertpapiere zogen die meiste Aufmerksamkeit auf sich, aus Gründen, denen immer größere Bedeutung zugemessen wird." Dann werden die Zahlen für die russischen Aktien an der Pariser Börse genannt.

Die Sprache dieser Zahlen ist weitaus klarer, präziser, ernsthafter und überzeugender als alle Parolen, die sich die Sozialrevolutionäre in Reval, die Menschewiki (Martow und Abramowits) in Berlin oder ihre Verbündeten – Machnos Anarchisten – ausdenken können. Machno fordert (oder vielmehr forderte) freie Volkssowjets. Martow und Dan fordern unabhängige Gewerkschaften und einen umfassenden Abbau der Diktatur. Petrichenko will Sowjets ohne Kommunisten. Tschernow tritt für die Konstituierende Versammlung ein. General Koslowski spricht nicht von der Monarchie, er bietet nur seine Hilfe bei der Arbeit an, auf die Bolschewiki zu schießen. Zur Zeit ist Miljukow mit seiner Pariser Zeitung auch nicht an den Parolen von Petrichenko und Dan interessiert, sondern wartet ab und sammelt von den emigrierten russischen Kapitalisten und Geldleuten Millionen (doch zu spät) für einen Fonds, um den Aufständischen zu helfen. Zur gleichen Zeit kommentiert die europäische Börse gelassen, mit dem Bleistift in der Hand: „In Petrograd haben die Menschewiki begonnen sich zu regen und die Aktien der Putilow-Werke sind um 10 Francs gestiegen. Tschernow verspricht, die Konstituierende Versammlung einzuberufen – lasst uns noch 5 Francs dazu legen. In Kronstadt hat die Artillerie begonnen im Namen von Sowjets ohne Kommunisten zu sprechen – es scheint, als ob die belgischen Kapitalisten ihre Fabriken und Bergwerke im Donezbecken zurückerhalten werden – lasst uns noch zwanzig, dreißig Francs dazulegen."

Wenn man die Berichte von den europäischen Börsen, insbesondere der französischen, für die Monate Februar und März sammelt und ein Diagramm davon macht, wie es den russischen Aktien ergangen ist, dann kann man mit ziemlicher Genauigkeit nachweisen, dass die Parolen der Weißen Garden, der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre an den Börsen zu exakt dem gleichen Preis notiert (gekauft und verkauft) werden, und dazu noch zu einem sehr niedrigen. Aber sobald sich diese Parolen mit Artillerie verbinden, steigt ihr Preis plötzlich recht hoch.

Das konterrevolutionäre Gesindel, die sozialrevolutionären Prahlhänse und Tröpfe, der menschewistische Abschaum und die lauthals tönenden anarchistischen Teufelskerle – sie alle, ob bewusst oder unbewusst, aus Hinterlist oder Dummheit, haben ein und dieselbe historische Funktion: sie unterstützen jeden Versuch, die unbegrenzte Herrschaft der Banditen des Weltimperialismus über die Arbeiter und alle hiesigen Naturschätze an sich zu reißen. Die wirtschaftliche, politische und nationale Unabhängigkeit Russlands ist nur unter der Sowjetdiktatur möglich. Das Rückgrat dieser Diktatur ist die Kommunistische Partei. Es gibt keine andere Partei, die diese Rolle spielen kann, und es kann sie auch nicht geben.

Ihr wollt dieses Rückgrat brechen, nicht wahr Ihr Herrn Menschewiki und Sozialrevolutionäre? Die Erfahrung von vier Jahren ist Euch also noch nicht genug? Nun, versucht es. Wir sind bereit, Euch noch mehr Erfahrung zu vermitteln.

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