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Leo Trotzki 19220303 An die Verleumder Sowjet-Russlands!

Leo Trotzki: An die Verleumder Sowjet-Russlands!

[Nach Russische Korrespondenz, 3. Jahrgang 1922, Heft IV-V (April-Mai 1922], S. 328-330]

Teurer Genosse Moriset,

Ich habe mich aufrichtig gefreut anlässlich der Mitteilung, dass Sie ein Buch über Sowjet-Russland zum Druck vorbereiten. Sie haben Russland als Freund besucht. Sie haben die Möglichkeit gehabt, alles zu sehen, was Ihrer Aufmerksamkeit wert war. Sie dienen der Sache des französischen und des Weltproletariats. Infolgedessen können Sie nur von dem Wunsche geleitet sein, den werktätigen Massen die Wahrheit über die erste Republik der Arbeit zu sagen.

Dieser Wunsch aber ist das Wichtigste und Wertvollste.

Sie wissen, noch besser als ich, wie viel man über uns gelogen hat. Man kann die kapitalistischen und sozialdemokratischen Lügen über Sowjet-Russland in zwei Kategorien einteilen. Zur ersten gehören die Produkte der boshaften und eigennützigen Phantasie: Mitteilungen über die Gastmahle der Sowjetwürdenträger, über ihre gegenseitigen Verhaftungen, darüber, wie Artilleristen die Frauen der Bourgeoisie „nationalisieren" usw. usw. usw. Diese Lügen enthalten einen inneren Widerspruch, sind monoton und dumm. Nur die rückschrittlichsten Portierfrauen und einige Minister glauben an sie. Zur zweiten Lügenkategorie gehören die aus einzelnen wahren Elementen zusammengestellten Bilder. Es sind Lügen höherer Ordnung. Ihr Gebiet ist größer, ihre Quellen sind reicher. Der böse Wille, mit fotografischem Apparat bewaffnet, kann mehrere Aufnahmen aus dem Leben des gegenwärtigen Sowjet-Russland machen, die in ihrer Gesamtheit jedem reaktionären Bourgeois ein großes Vergnügen gewähren werden. Die Revolution ist Vernichtung im Namen eines neuen Schaffens. Nur der kann die Revolution in ihren erhabenen und in ihren düsteren Zügen begreifen, der sie in ihrer inneren Unvermeidlichkeit, im Kampfe ihrer lebendigen Kräfte, in der logischen Reihenfolge ihrer Etappen verfolgt. Damit will ich nicht sagen, dass die Revolution unfehlbar ist. Aber man muss einen großen historischen Maßstab anlegen, um ihr Schaffen und ihre Fehler zu verstehen.

Als wir an die Aufgabe der Schaffung eines Heeres herantraten, befand sich in Russland noch eine bedeutende Gruppe französischer Offiziere. Sie waren Zeugen der ersten Bemühungen der Sowjetrepublik auf militärischem Gebiet. Sie brachten diesen Bemühungen den höchsten Skeptizismus entgegen. Ich zweifle nicht daran, dass ihre Berichte an Paris stets mit dem unvermeidlichen Schluss endeten: Es wird nichts dabei herauskommen. Die uniformierten Kleinbürger haben in der Revolution nur die Zerstörung, die Grausamkeit, die Unordnung und das Chaos gesehen. Dies alles ist in der Revolution enthalten. Gleichzeitig ist aber die Revolution etwas Höheres: Sie erweckt die rückschrittlichen Millionenmassen des Volkes zum Leben, sie gibt ihnen große politische Ziele zu eigen, sie eröffnet ihnen neue Wege, sie erweckt ihre schlafende Energie. Deshalb vollzieht sie Wunder. Es sollte eigentlich nicht notwendig sein, dies dem Volke zu beweisen, das selbst in seiner Vergangenheit die Große Revolution aufzuweisen hat.

In diesem letzten Jahre habe ich mich oft mit dem Gedanken getragen, die englische Presse zur Zeit der großen französischen Revolution, die Reden der damaligen Minister und ihrer politischen Lakaien, der damaligen Clemenceaus und der damaligen Hervés zu studieren, nur um eine trockene Gegenüberstellung zu machen der reaktionären Verleumdungen des regierenden England am Ende des 18. Jahrhunderts und der Verleumdungen, die der „Temps" und seine Nachplapperer in diesen Jahren über Sowjet-Russland verbreitet haben. Leider mangelte es mir bisher an Zeit für diese Arbeit. Ich bin aber sicher, dass sich merkwürdige Übereinstimmungen herausstellen würden. Die radikalen englischen Zeitgenossen von Robespierre suchten zweifellos die damals vollkommen berechtigten Analogien mit der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts. Und dies musste unvermeidlich die Proteste der ehrsamen englischen reaktionären Geschichtsschreiber hervorrufen: „Die englische Revolution war trotz ihrer „Ausschweifungen" eine große Erscheinung; der französische Terror aber ist bloß eine Meuterei des unwissenden und blutrünstigen Pöbels …" Übrigens ist die Reaktion, möge sie noch so boshaft sein, nicht erfinderisch. Die offiziöse französische Verleumdung der Sowjetrevolution ist, abgesehen von allem übrigen, ein literarischer Diebstahl, ein erbärmliches Plagiat an den literarischen Tagelöhnern von Pitt.

Merrheim und ihre Chefs berufen sich mit besonderer Schadenfreude auf unsere Schwierigkeiten auf wirtschaftlichem Gebiete. Gegenwärtig erklären sie frohlockend, dass wir zum Kapitalismus zurückgekehrt sind. Ihre Schadenfreude und ihr Frohlocken kommen zu früh. Die Sowjetrepublik hat die Banken, die Industrieunternehmungen und den Grund und Boden sozialisiert. Um dies alles den früheren Besitzern zurückzugeben, müsste man die Revolution umstürzen und töten. Wir sind gegenwärtig davon weiter entfernt als jemals. Sie können dies mit voller Bestimmtheit dem französischen Proletariat sagen. Aber es ist richtig, dass wir unsere Methoden des sozialistischen Aufbaues geändert haben. Wir erhalten die Unternehmungen in den Händen de Arbeiterklasse, wir wenden aber Methoden der kapitalistischen Kalkulation und des Marktverkehrs an, um ihre Rentabilität zu prüfen. Nur auf einer unvergleichlich höheren Stufe der sozialistischen Entwicklung wird es möglich sein, alle Unternehmungen von einem Zentrum aus zu leiten und die notwendigen Kräfte und Mittel auf Grund des vorher festgestellten Staatsplanes richtig auf sie zu verteilen. Die gegenwärtige Periode hat einen Vorbereitungscharakter, der Markt bleibt. Die industriellen staatlichen Unternehmungen bewegen sich in gewissen Grenzen selbständig, kaufen und verkaufen, und schaffen auf diese Weise die Lebensgrundlagen für den künftigen einheitlichen, sozialistischen Wirtschaftsplan. Freilich erteilen wir gleichzeitig den Kapitalisten Konzessionen auf einzelne Unternehmungen. Die wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands und seine unerschöpflichen Naturreichtümer lassen ein breites Feld für die Anwendung des Konzessionskapitals übrig. Der Staat behält in seinen Händen die Verkehrsmittel und wichtigsten Industrieunternehmungen. Wir lassen also den Wettbewerb zwischen den rein kapitalistischen Konzessionsunternehmungen und den homogenen Unternehmungen des sozialistischen Staates zu, wobei diese letzteren das unbestrittene Übergewicht besitzen. Die ganze Frage liegt in dem Kräfteverhältnis. Die Reformisten hofften seinerzeit dass die Genossenschaften allmählich den Kapitalismus aufsaugen würden. Solange die Bourgeoisie, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln verteidigt, im Besitze der Macht verbleibt, ist diese Hoffnung eine reine Utopie. Was Russland betrifft, so können wir sagen, dass, solange die Arbeiterklasse die Macht behält, und solange der Staat die grundlegenden Industriezweige in seinen Händen hat, die „unmerkliche und störungslose" Wiederherstellung des Kapitalismus mit Hilfe der Konzessionen kaum mehr verwirklichbar ist, als die Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaftsordnung mit Hilfe der Genossenschaften. Wir haben keinen Grund, von der Rückkehr zum Kapitalismus zu sprechen. Wir haben nur die Methoden des sozialistischen Aufbaues geändert. Unsere Erfahrung und unsere Ergebnisse auf diesem Wege werden von größtem Nutzen für die Arbeiterklasse aller Länder sein.

Wir haben vieles in diesen fünf Revolutionsjahren gelernt. Wir haben aber auf nichts verzichtet. Ich denke, dass die kapitalistische Welt, so wie sie aus der Kriegshölle herauskam, und wie sie gegenwärtig lebt, uns keinen Anlass gibt, unsere Grundanschauungen zu revidieren. Der Kapitalismus ist von der Geschichte verurteilt. Die Zukunft gehört dem Kommunismus. Mit brüderlichen kommunistischen Grüßen

L Trotzki.

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