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Leo Trotzki 19220223 Das fünfte Jahr – ein Lehrjahr …

Leo Trotzki: Das fünfte Jahr – ein Lehrjahr …

[Nach Russische Korrespondenz, 3. Jahrgang 1922, Heft IV-V (April-Mai 1922], S. 300 f.]

Die Rote Armee ist nur um 4 Monate jünger, als die Sowjetrepublik, doch auch das nur den Dokumenten nach gerechnet. Diese wiederum entstanden an einem einzigen Tage. Man kann sogar sagen, dass die Rote Armee als militärische Organisation unserer Partei schon im Entstehen begriffen war, ehe die Arbeiterklasse die Macht In ihre Hände nahm.

Das erste Jahr ihrer Existenz ist charakterisiert als Periode zusammenhangsloser, unfertiger Versuche, unter den denkbar schwierigsten Umständen, dem Zusammenbruch der alten Armee und der Kriegsmüdigkeit der werktätigen Massen, eine bewaffnete, revolutionäre Macht zu schaffen.

Das zweite und dritte Jahr war bereits eine Periode angespannter Kampfestätigkeit in allen Grenzgebieten des Landes. Die Armee entwickelte sich im Kampfe selbst. Verschiedene Methoden wurden erprobt und je nach den Erfolgen angenommen oder abgelehnt Die Armee wuchs ziffernmäßig außerordentlich, ja, man kann sägen, über das Maß hinaus. Das erklärt sich durch die gewaltige Ausdehnung der Fronten, wie auch durch den noch recht unvollkommenen Charakter unserer militärischen Organisation. Neue militärische Aufgaben ließen neue Organe entstehen, die sich neben die alten, zum Teil schon als untauglich erkannten, aber noch nicht beseitigten Organe stellten. Die mangelnde Schulung der Truppen bedingte einen erhöhten Verbrauch an Menschenmaterial. Wo es an Qualität fehlte, musste diese durch Quantität ersetzt werden.

Das vierte Jahr war ein Jahr verhältnismäßiger Kampfesruhe und eifriger Arbeit an der Reduzierung und Reorganisation der Armee. Die Aufgabe bestand darin, möglichst viele Jahresklassen zu entlassen und sich auf das dringend Notwendige zu beschränken, gleichzeitig alle überflüssigen Organe, alle Auswüchse, die doppelt vorhandenen Institutionen, aus dem Organismus der Armee zu entfernen, sowie endlich die übermäßig starken Etappen auf ein normales Maß zurückzuführen. Diese Aufgabe ist jetzt in großen Zügen gelöst. Damit sind die Voraussetzungen für neue Aufgaben der Armee gegeben.

Das fünfte Jahr des Bestehens der Roten Armee wird ein Jahr intensiver Lehrarbeit werden. Die fortschreitende Reorganisation der Armee und ihre teilweise Reduzierung ist nur denkbar auf der Basis einer qualitativen Hebung ihrer Elemente und in Abhängigkeit von diesem Prozess. Man muss die Grundzelle der Armee entwickeln, den Liniensoldaten: dieser muss satt und sauber und warm gekleidet sein. Ein verlauster Soldat ist nur ein halber Soldat.

Der Soldat muss schreiben und lesen können. Dies Ziel haben wir fest ins Auge gefasst. Am 1. Mai darf es in unserer Armee keinen einzigen Soldaten mehr geben, der nicht schreiben und lesen kann. Diese Aufgabe müssen wir erfüllen; und das nicht nur des guten Eindrucks halber, d. h. nicht in der Weise, dass der oberflächlich unterrichtete Soldat nach zwei Monaten in den früheren Zustand der Unkultur zurück sinkt, nein, wir müssen und werden alle Rotarmisten das Schreiben und Lesen lehren, wie es sich gehört.

Am 1. Mai d. J. wird die Sowjet-Republik ihre Armee zur Vereidigung führen. Da soll jeder Rotarmist klar, deutlich und bewusst den Text des „heiligen Gelübdes" lesen können.

Das politische und allgemeine geistige Niveau eines jeden Kämpfers muss gehoben werden. Er muss über unsere Nachbarn Bescheid wissen, die möglicherweise unsere Gegner sein werden. Er muss das Wesen der Sowjetkonstitution und die Aufgaben des Arbeiter- und Bauernstaates kennen. Er muss begreifen lernen, dass das Wesen der gesamten Welt mit- ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen in der Materie beruht, die ihren eigenen, inneren Gesetzen folgt Man muss hartnäckig daran arbeiten, sein Bewusstsein von Vorurteilen und vom Aberglauben zu befreien. Der Aberglaube ist das Ungeziefer im Innern des Menschen, welches ihn noch mehr schwächt als dasjenige, welches ihn von außen angreift.

Wir werden die rein militärische Ausbildung unermüdlich verbessern. Der Regiments-Kommandeur muss sich die Aufgabe stellen, einen jeden Rotarmisten soweit zu bringen, dass dieser im Falle der Not selbst das Kommando über die Abteilung übernehmen kann.

Jede bedeutende Sache birgt zwei große Feinde in sich: die Routine und die Oberflächlichkeit. Und das zumal in einer so komplizierten und wechselvollen Epoche, wie es die unsere ist. Die Routine bewegt sich in alten Schablonen, sie trägt nicht den neuen Verhältnissen Rechnung, es fehlt ihr die Initiative, die Kühnheit des Gedankens und die Entschlossenheit der Ausführung. Das sind in militärischen Dingen – Todsünden.

Die Oberflächlichkeit ist gewissermaßen der Gegenpol der Routine. Sie trägt in unseren Tagen nicht selten „revolutionären" Stempel. Haben wir die Mängel der Routine richtig erkannt, so sehen wir, dass die Oberflächlichkeit überhaupt keine ernste Arbeit, kein gewissenhaftes und sorgfältiges Studium der früheren Erfahrungen aufkommen lässt, sie prahlt vielmehr mit leeren Allgemeinplätzen und hält sich an ein willkürliches Schema. So ist auch die Oberflächlichkeit in militärischen Dingen – eine Todsünde.

Wir müssen uns völlig klar darüber sein, dass sich die Hebung des Qualitätsniveaus der Armee durch keine Zauberformel herbeiführen lässt. Nein, diese Aufgabe erfordert harte Mühen, hartnäckige Klein-, ja, Mosaikarbeit. Etwas Neues – mag es mehr oder weniger bedeutend sein – kann nur der hervorbringen, welcher aufmerksam alles verfolgt, was ihm entgegentritt, welcher alles aufgreift, alles in Betracht zieht und bei allen in die Lehre geht. Wer sich aber anmaßt, mit einem Schlage etwas Neues zu erfinden und dabei in die Wolken guckt, der bricht sich sicherlich den Hals. Weder Routine noch Oberflächlichkeit, sondern hartnäckige, zielbewusste und gewissenhafte Arbeit!

Diese Arbeit wird jetzt durch die stetig wachsende Beachtung, welche die werktätigen Massen in der ganzen Sowjetföderation der Armee schenken, wesentlich erleichtert. Noch vor gar nicht langer Zeit führten wir versuchsweise das Sowjet-Armeekommando ein, und wie schnell hat sich das.eingebürgert und entwickelt! Welche segensreichen Wirkungen zeigt es heute schon! War bis heute die Rote Armee unzertrennlich mit dem Russland der Bauern und Arbeiter verknüpft, so verbindet sie jetzt ein noch alltäglicheres, engeres Band. Die Verbrüderung der einzelnen Divisionen mit den Sowjets, der einzelnen Regimenter mit den Fabriken und Gewerkschaftsverbänden hebt die Armee moralisch und schafft noch günstigere materielle Bedingungen für ihr Lebenswerk.

Die Rote Armee blickt ruhig und sicher in die Zukunft: das fünfte Jahr ihres Bestehens wird für sie ein Jahr unermüdlichen Lernens sein.

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