Leo Trotzki‎ > ‎1922‎ > ‎

Leo Trotzki 19220508 Das russische Proletariat und die Sowjetmacht

Leo Trotzki: Das russische Proletariat und die Sowjetmacht

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 66 (13. Mai 1922), S. 505 f.]

Nicht nur die Moskauer und die Petrograder, sondern auch die Charkower und die Kiewer Maidemonstrationen waren riesenhaft. Die Veranstalter selber rechneten nicht mit einer solchen Anzahl der Demonstranten. Die Ausländer, darunter auch die uns ganz und gar nicht wohlwollend gegenüberstehenden, waren überrascht. Einer der Vertreter der Amsterdamer Internationale sagte unter dem unmittelbaren Eindruck der Demonstration in Moskau, dass er etwas ähnliches nur beim Begräbnis Victor Hugos gesehen habe. Und er hat viele Massendemonstrationen in verschiedenen Staaten Europas gesehen. Die Stimmung war selbstverständlich nicht bei allen Demonstranten gleich: bei diesem Teil der Enthusiasmus, bei jenem Teil das Mitgefühl, bei einem anderen die Neugierde und einem anderen wiederum die Nachahmung. So sind aber stets die Bewegungen, von denen Hunderttausende ergriffen werden. Im allgemeinen fühlte die Masse, dass sie an einer gemeinsamen Sache teilnimmt. Der enthusiastische Teil war selbstverständlich tonangebend.

Noch einige Tage vor dem 1. Mai sagten die Genossen in den Lokalorganisationen: Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie die Genua-Konferenz das politische Interesse und das revolutionäre Selbstgefühl der Arbeitermassen erhöht hat. Andere fügten hinzu: das Gefühl des revolutionären Stolzes spielt eine große Rolle in der gegenwärtigen Stimmung – wir haben sie gezwungen, mit uns beinahe menschlich zu verhandeln!

Wollte man nach den ausländischen weiß-sozialistischen in Berlin erscheinenden Organen urteilen, so ist die russische Arbeiterklasse durch und durch vom Skeptizismus, von einer dekadenten reaktionären Stimmung und von Hass gegen die Sowjets durchdrungen. Es ist leicht möglich, dass nicht alle diese Berichte in Berlin, dem Zentrum nicht bloß des russischen Monarchismus, sondern auch des weißen Sozialismus, verfasst sind. Jeder beschreibt aber das, was er sieht; die Menschewiki aber betrachten jedes Objekt von rückwärts, und dementsprechend schildern sie es. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in den Arbeitervierteln die Unzufriedenheit über verschiedene Unannehmlichkeiten des gegenwärtigen schweren Daseins vorhanden sind. Man kann auch zugeben, dass das langsame Tempo der Entwicklung der europäischen Revolution und der schwierige, dornenreiche Prozess unseres wirtschaftlichen Wiederaufbaues in einzelnen, ziemlich bedeutenden, nicht rein proletarischen Schichten der Arbeiterklasse die Stimmung der Dekadenz und Unklarheit, die sogar in den Mystizismus übergeht, hervorruft. An Wochentagen (und unsere größte Epoche hat auch ihre Wochentage) ist das Bewusstsein der Arbeiterklasse bei der Beurteilung der Tagesfragen nicht einheitlich; der Unterschied der Interessen und der Anschauungen verschiedener Schichten der Arbeiterklasse tritt zutage. Beim nächsten großen Ereignis aber kommt die tiefe Einheit des Proletariats, das die Feuerprobe der Revolution durchgemacht hat, vollkommen zum Ausdruck. Auf dem langen Wege vom Aufstande der Tschechoslowaken im Wolgagebiete bis zu den Genua-Verhandlungen haben wir dies mehrmals beobachtet. Unsere Feinde behaupteten mehrmals, dass der tschechoslowakische Aufstand der Sowjetmacht genutzt hat. Die Menschewiki, die Sozialistenrevolutionäre und ihre älteren Brüder, die Kadetten der Miljukow-Gruppe, wiederholen stets, dass die Militärinterventionen deshalb so schädlich sind, weil sie die Sowjetmacht nur festigen. Was bedeutet dies aber? Dies bedeutet eben, dass die enge Verbindung der Sowjets mit den werktätigen Massen in den schweren bedeutenden Prüfungen trotz der Unordnung, trotz der Missstände, trotz der Ungeschicklichkeit, trotz der Müdigkeit mancher Schichten, trotz der Unzufriedenheit anderer Schichten zum Ausdruck kommt.

Selbstverständlich, kann auch das Staatsregime, das in Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung geraten ist, zuweilen im Augenblicke der Außengefahr sich festigen. Das beobachten wir bei dem Zarismus in der ersten Periode des russisch-japanischen Krieges. Dies gilt aber nur für die erste Periode, d. h. nur solange die Volksmassen die neue Tatsache noch nicht verdaut haben. Später folgt die Abrechnung: das überlebte Regime verliert an Festigkeit viel mehr, als es in der ersten Kriegsperiode an dieser gewonnen hat. Weshalb sehen wir nicht diese Erscheinung, die allgemeingültig ist, in der Geschichte der Sowjetrepublik? Weshalb zwang die dreijährige Erfahrung der Militärinterventionen unsere weitsichtigsten .Feinde, auf den Gedanken der Fortsetzung der Kriegsangriffe zu verzichten? Aus demselben Grunde, aus dem die Genua-Konferenz einen Aufschwung der Stimmung der Arbeitermassen hervorgerufen hat, der den gegen die Erwartung kolossalen Erfolg der Maidemonstrationen zur Folge hatte.

Die Menschewiki und die Sozialistenrevolutionäre waren selbstverständlich gegen die Demonstrationen der Arbeiter und haben sie aufgefordert, diese nicht mitzumachen. Desto deutlicher kam deshalb die Einmütigkeit der Werktätigen den grundlegenden Lebensfragen der Arbeitsrepublik gegenüber zum Ausdruck. Man kann selbstverständlich sagen, dass die Repressalien den Erfolg der Agitation der weißen Sozialisten hinderten und hindern. Man kann dies nicht bestreiten. Der Kampf zwischen ihnen und uns aber besteht darin, dass sie bestrebt sind, die Sowjetmacht zu stürzen, und dass die Sowjetmacht ihnen dies nicht erlauben will. Wir fühlen uns gar nicht verpflichtet, die günstigen Bedingungen für ihren konterrevolutionären Kampf zu schaffen.

Auch die Bourgeoisie ist doch nirgends bestrebt, die Bedingungen der Arbeit der Kommunisten zu erleichtern; die revolutionäre Bewegung entwickelte sich trotzdem und entwickelt sich trotzdem weiter. Der Zarismus verfügte über den mächtigsten Repressalien-Apparat; dies verhinderte aber nicht seinen Sturz. Sogar mehr: die Menschewiki selbst haben mehrmals geschrieben und gesagt, dass die zaristischen Repressalien die revolutionäre Bewegung nur stärken und vertiefen. Und dies war richtig. In der ersten Periode des russisch-japanischen imperialistischen Krieges gelang es dem Zarismus noch, patriotische Demonstrationen, wenn auch sehr kleine, zu veranstalten. Bald aber dominierte die revolutionäre Masse in den Straßen der Städte. Der Hinweis auf die Repressalien also erklärt gar nichts, da er die Frage hervorruft: warum aber haben diese Repressalien Erfolg, während der Kampf gegen die Repressalien jedoch erfolglos ist? Die Antwort lautet: Die Repressalien erreichen nicht ihr Ziel, wenn sie von einer überlebten Staatsmacht gegen die neuen, fortschrittlichen, geschichtlichen Kräfte angewandt werden. In den Händen der geschichtlich fortschrittlichen Macht können die Repressalien sich als ein sehr wirksames Mittel zur Befreiung der Arena der Geschichte von den überlebten Kräften erweisen.

Am 1. Mai kam die innigste enge Verbindung der Werktätigen mit dem Sowjetregime und die vollkommene Ohnmacht der Partei des weißen Sozialismus zum Ausdruck. Kann man nicht daraus den Schluss ziehen, dass die Repressalien unnötig sind? Kann man nicht die Ohnmacht, obgleich sie ein Todesfeind der Arbeiter-Revolution ist, legalisieren?

Auch diese Frage muss vollständig klar beantwortet werden. Hätte die Maifeier in der ganzen Welt denselben Charakter gehabt, so wäre in Russland die Frage der Repressalien überhaupt nicht entstanden. Dasselbe wäre der Fall, wenn Russland allein auf der Welt vorhanden wäre. Die Werktätigen demonstrierten aber eben deshalb so einmütig am 1. Mai in Moskau, in Petrograd, in Charkow, in Kiew und in anderen Städten, weil sie dank der Genua-Konferenz ihre Liebe für ihr Arbeiter- und Bauernrussland, das ungefähr 40 bürgerlichen Staaten entgegensteht, noch tiefer und unmittelbarer empfunden haben. Im nationalen Maßstabe Russlands sind die Menschewiki und die SR eine verschwindende Größe. Im internationalen Maßstabe ist das Kräfteverhältnis anders, da die Bourgeoisie überall in Europa und in der ganzen Welt an der Macht ist, und der Menschewismus ihre politische Transmission ist.

Der russische Menschewismus ist sehr schwach, er ist aber ein Hebel des noch mächtigen Systems, dessen treibende Kraft die Pariser, die Londoner und die New Yorker Börsen sind. Das zeigte sich vollkommen deutlich in der georgischen Frage, Die von Vandervelde geführten Menschewiki verlangten nicht mehr und nicht weniger als die Wiederherstellung des menschewistischen Georgiens. Herr Barthou, reaktionärster politischer Händler Frankreichs, verlangte die Zulassung der ehemaligen Menschewiki-Regierung Georgiens zur Genua-Konferenz, Derselbe Barthou hält die Wrangeltruppen in der Reserve für den Fall, dass man Truppen zwecks Landung an der Kaukasusküste benötigen würde. Allen diesen Dingen liegt der Drang der Börse nach dem kaukasischen Petroleum zugrunde.

Vom innerpolitischen Standpunkte aus ist die Bedeutung der Menschewiki und der SR gering. Mit Rücksicht auf die kapitalistische Umzinglung waren sie aber die halb politische, halb militärische Agentur des bis an die Zähne bewaffneten Imperialismus, und sind sie es noch.

Nach langen Wochentagen mit ihrer stillen beiderseitigen Unterminierungsarbeit zeigte die Genua-Konferenz in dramatischer, klarer Form von neuem den Gegensatz zwischen Sowjetrussland und der ganzen übrigen Welt. Deshalb stellten sich die Werktätigen unseres Landes so einmütig unter das Banner der Sowjets. Diese großartige Bewegung der Massen zeigte die revolutionärer Kraft der Republik, aber auch die Größe der ihr drohenden Gefahren. Es gibt gegenwärtig keine Fronten und keine Kriegshandlungen; wir sind aber immer noch eine belagerte Festung Die Feinde haben mit uns einen Waffenstillstand abgeschlossen und uns aufgefordert, die Parlamentäre zu entsenden. Die Feinde haben sich informiert und überzeugt, dass wir gegenwärtig weniger als jemals Grund haben, zu kapitulieren. Die Feinde sind aber noch stark. Deshalb ist auch die Gefahr groß. Die Lehren der Maifeier lauten: Unsere Stärke wohl wissend, sollen wir trotzdem unsere Wachsamkeit nicht um ein Jota reduzieren.

Kommentare