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Leo Trotzki 19220521 Der Weg der Roten Armee

Leo Trotzki: Der Weg der Roten Armee

[Leo Trotzki: Die Geburt der Roten Armee. Wien 1924, S. 7-16]

Die Fragen, die mit der Schaffung der bewaffneten Kräfte der Revolution verknüpft sind, sind für die kommunistischen Parteien aller Länder von ungeheurer Bedeutung. Eine Vernachlässigung dieser Fragen oder gar eine negative Stellungnahme, die sich hinter einer humanitär-pazifistischen Phraseologie verbirgt, ist geradezu ein Verbrechen. Solche Betrachtungen, dass jede Gewalt, auch die revolutionäre Gewalt ein Übel sei, die Kommunisten dürften sich nicht der „Verherrlichung" des bewaffneten Kampfes und der revolutionären Armee hingeben, – solche Betrachtungen stellen eine Philosophie dar, die der Quäker, der Sekte der Duchoborzen und der alten Jungfern aus der Heilsarmee würdig ist. Eine derartige Propaganda in einer kommunistischen Partei zulassen, ist dasselbe, als wollte man in der Garnison einer belagerten Festung die Verbreitung der Lehre Tolstois dulden. Das Mittel der Befreiung der Werktätigen ist die revolutionäre Gewalt. Im Moment der Eroberung der Macht nimmt die Gewalt die Form der organisierten Armee an. Der Heldenmut des jungen Proletariers, der auf der ersten Barrikade der beginnenden Revolution stirbt, unterscheidet sich durch nichts vom Heroismus des roten Soldaten, der an einer der Fronten der Revolution stirbt, der Revolution, die bereits, den Staat erobert hat. Nur sentimentale Dummköpfe können glauben, dass das Proletariat der kapitalistischen Staaten Gefahr läuft, die Rolle der revolutionären Gewalt und den Wert der Methoden des revolutionären Terrorismus zu überschätzen. Im Gegenteil, dem Proletariat fehlt gerade das Verständnis für die Wichtigkeit der befreienden Rolle der revolutionären Gewalt. Eben deshalb ist es bis jetzt versklavt geblieben. Die pazifistische Propaganda in der Arbeiterklasse führt lediglich zur Schwächung des Willens des Proletariats und fördert die Erhaltung der konterrevolutionären Gewalt, die bis an die Zähne bewaffnet ist.

* * *

Vor der Revolution hatte unsere Partei eine militärische Organisation. Diese verfolgte zweierlei Ziele: revolutionäre Propaganda in der Armee zu führen und Stützpunkte für den Staatsumsturz in der Armee selbst zu schaffen. Da die revolutionäre Erregung die ganze Armee erfasst hatte, so machte sich die organisatorische Rolle der bolschewistischen Zellen in den Regimentern nicht besonders bemerkbar.

Aber sie war sehr beträchtlich, denn sie ermöglichte es, wenn auch nicht zahlreiche, so doch entschlossene Elemente auszusondern, deren Bedeutung in den kritischsten Stunden der Revolution so groß ist. Im Augenblick des Oktoberumsturzes spielten sie eine Rolle als Kommandanten, Kommissare der Truppenteile usw. Später treffen wir viele von ihnen als Organisatoren der Roten Garde und der Roten Armee an.

Die Revolution erwuchs unmittelbar aus dem Kriege; eine ihrer wichtigsten Losungen war die Kriegsbeendigung, ihre Begleiterscheinungen waren Kriegsmüdigkeit und Kriegsabscheu. Indes erzeugte die Revolution selbst neue militärische Gefahren, die immer mehr stiegen. Daraus ergab sich die außerordentliche äußere Schwäche der Revolution in ihrer ersten Periode. Die fast absolute Wehrlosigkeit der Revolution offenbarte sich besonders während der Verhandlungen von Brest-Litowsk. Krieg führen wollte man nicht, denn man glaubte, der Krieg sei für immer zu Ende: die Bauern bemächtigten sich des Grund und Bodens, die Arbeiter bauten ihre Organisationen aus und erfassten die Industrie.

So entstand das gewaltige pazifistische Experiment aus der Zeit von Brest-Litowsk. Die Sowjetrepublik erklärte, sie könnte einen Gewaltfrieden nicht unterzeichnen, aber sie würde auch nicht Krieg führen, und ordnete die Demobilisierung an. Das war ein sehr gewagter Schritt, aber er ergab sich aus der ganzen Situation. Die Deutschen nahmen den Vormarsch wieder auf, der auch zum Ausgangspunkt des tiefen Umschwunges im Bewusstsein der Massen werden sollte: man begann zu verstehen, dass es galt, sich mit bewaffneter Faust zu verteidigen. Unsere pazifistische Deklaration hatte ein Ferment der Zersetzung in die Hohenzollern-Armee hineingetragen. Die Offensive des Generals Hoffmann half uns, ernsthaft die Arbeit zur Schaffung der Roten Armee in Angriff zu nehmen.

In der ersten Zeit wagen wir es jedoch noch nicht, die Zwangsmobilisierung zu erklären: uns fehlen die politischen und organisatorischen Möglichkeiten, die soeben entlassenen Soldaten zu mobilisieren. Die Armee wird auf dem Prinzip der Freiwilligkeit aufgebaut. Es ist nur natürlich, dass die Armee neben der aufopferungsfreudigen Arbeiterjugend sich mit zahlreichen, zu jener Zeit sich herumtreibenden Vagabunden, nicht von der besten Sorte, anfüllt. Unsere besten Regimenter, die in der Periode des elementar vor sich gehenden Zerfalls der alten Regimenter entstanden waren, waren unstabil und wenig zuverlässig. Dies zeigte sich für Freund und Feind mit völliger Klarheit bei der Rebellion der. Tschechoslowaken an der Wolga, die von den Sozialrevolutionären und anderen Weißen in Szene gesetzt worden war.* Die Widerstandskraft unserer Regimenter war minimal; eine Stadt nach der anderen gerät im Laufe des Sommers 1918 in die Hände der Tschechoslowaken und der russischen Konterrevolutionäre, die zu ihnen gestoßen waren. Ihr Mittelpunkt ist Samara. Sie erobern Simbirsk und Kasan. Nischni-Nowgorod wird bedroht. Nach der Wolga bereitet man den Vormarsch auf Moskau vor. In diesem Moment (August 1918) macht die Sowjetrepublik außerordentliche Anstrengungen zur Bildung und Befestigung einer Armee. Zum ersten Mal wird die Methode der Massenmobilisierung der Kommunisten angewandt, es wird ein zentralisierter Apparat der politischen Leitung und Erziehung bei den Truppen der Wolgafront geschaffen. Daneben wird, in Moskau und im Wolgagebiet, der Versuch der Mobilmachung einiger Jahrgänge von Arbeitern und Bauern vorgenommen. Kleine kommunistische Trupps sichern die Durchführung der Mobilisierung. In den Wolga-Gouvernements wird ein strenges Regime eingeführt, das den Dimensionen und der Größe und Unmittelbarkeit der Gefahr entspricht. Gleichzeitig wird eine intensive mündliche und schriftliche Agitation geführt, – die kommunistischen Gruppen reisen von Dorf zu Dorf. Nach den ersten Schwankungen nimmt die Mobilisierung eine große Ausdehnung an, Sie wird von einem harten Kampf gegen die Fahnenflucht und gegen jene sozialen Gruppen begleitet, die die Deserteure inspirieren und nähren, nämlich gegen das reiche Bauerntum, zum Teil gegen die Geistlichkeit und gegen die Reste der alten Bürokratie.

Den neugeschaffenen Truppenteilen werden die kommunistischen Arbeiter von Petrograd, Moskau, Iwanowo-Wosnessensk usw. zugeführt. Die Kommissare erhalten zum ersten Mal in den Truppenteilen die Bedeutung von revolutionären Führern und unmittelbaren Vertretern der Sowjetmacht. Die Revolutionstribunale statuieren durch einige Disziplinarurteile ein Exempel und zeigen aller Welt, dass das sozialistische Vaterland, das sich in Lebensgefahr befindet, von jedermann unbedingten Gehorsam verlangt. Durch eine Kombination von Agitation, Organisation und Repressalien wird im Verlauf von einigen Wochen der notwendige Umschwung erreicht. Aus der schwankenden, labilen Masse wird eine wirkliche Armee geschaffen. Wir erobern Kasan am 10. September 1918; am Tage darauf gewinnen wir Simbirsk wieder. Dieser Augenblick ist ein wichtiges Datum in der Geschichte der Roten Armee. Man fühlt mit einem mal festen Boden unter den Füßen. Das sind nicht mehr die ersten hilflosen Versuche, – von nun ab können und wissen wir zu kämpfen und zu siegen.

Der militärisch administrative Apparat wird indessen im ganzen Lande ausgebaut, in enger Verbindung mit den Gouvernements-, Bezirks- und Gemeindesowjets. Das Territorium der Republik, von den Feinden beschnitten, aber immer noch gewaltig groß, wird in Distrikte geteilt, zu denen mehrere Gouvernements gehören. Dadurch wird die notwendige Zentralisation der Verwaltung erreicht.

Die politischen und organisatorischen Schwierigkeiten waren ungeheuer groß. Der psychologische Umschwung – von der Zerstörung der alten Armee bis zur Schaffung der neuen – wurde um den Preis beständiger innerer Reibungen und Konflikte erkauft. Die alte Armee hatte es zu gewählten Soldatenausschüssen und dem gewählten Kommandopersonal gebracht, das faktisch den Ausschüssen unterstellt war. Diese Maßnahme hatte natürlich keinen militärischen, sondern einen revolutionär-politischen Charakter. Vom Standpunkt der Truppenleitung im Kampfe und der Vorbereitung der Truppen zum Kampfe war sie unzulässig, ungeheuerlich, tödlich. Es war absolut unmöglich, und musste auch unmöglich sein, die Truppen durch gewählte Ausschüsse und durch Kommandeure, die den Ausschüssen unterstanden und in jedem Moment abgesetzt werden konnten, zu verwalten. Aber die Armee wollte auch nicht kämpfen. Sie machte im Inneren die soziale Revolution durch, schied das adlige und bürgerliche Kommandopersonal aus und schuf Organe ihrer revolutionären Selbstverwaltung in Gestalt von Soldatendeputiertenräten. Diese organisatorisch politischen Maßnahmen waren von der Zersetzung der alten Armee aus gesehen richtig und notwendig. Aber aus ihnen ergab sich keineswegs unmittelbar eine neue schlagfähige Armee. Die Regimenter des Zarismus, die die Kerenski-Periode durchgemacht hatten, zerfielen nach dem Oktober und verwandelten sich in nichts. Die Versuche der automatischen Übertragung unserer alten organisatorischen Methoden auf die werdende Rote Armee drohten sie von Anfang an zu zerstören. Die Wählbarkeit des Kommandopersonals in den Truppen des Zarismus war gleichbedeutend mit der Säuberung der Armee von allen möglichen Agenten der Restauration. Aber das System der Wählbarkeit konnte keinesfalls der revolutionären Armee ein kompetentes, brauchbares und autoritatives Kommandopersonal sichern. Die Rote Armee wurde von oben, auf dem Prinzip der Diktatur der Arbeiterklasse aufgebaut. Das Kommandopersonal wurde von den Organen der Sowjetregierung und der Kommunistischen Partei gewählt und kontrolliert. Die Wahl der Kommandeure durch die Truppenteile selbst, die politisch noch wenig geschult waren und aus soeben mobilisierten jungen Bauern bestanden, hätte unvermeidlich zu einem Spiel des Zufalls ausarten müssen und hätte nur zu oft günstige Bedingungen für die Machenschaften einzelner Intriganten und Abenteurer geschaffen. Ebenso war die Revolutionsarmee als Armee der Aktion und nicht als Schauplatz der Propaganda unvereinbar mit dem Regime der gewählten Ausschüsse, das faktisch die zentralisierte Verwaltung beseitigt hätte, indem es dem einzelnen Truppenteil überlassen wurde, zu entscheiden, ob er die Offensive oder die Defensive vorziehe. Die linken Sozialrevolutionäre hatten diesen chaotischen Pseudo-Demokratismus ad absurdum geführt, als sie sich an die einzelnen Regimenter mit der Frage wandten, ob sie den Waffenstillstand mit den Deutschen halten oder zur Offensive übergehen wollten. Dadurch suchten die linken Sozialrevolutionäre nur die Armee gegen die Sowjetregierung aufzubringen, von der diese Armee geschaffen worden war.

Das sich selbst überlassene Bauerntum ist unfähig, eine zentralisierte Armee zustande zu bringen. Es kommt nicht über lokale Freischärlertruppen hinaus, deren primitive „Demokratie" gewöhnlich als Deckmantel für die persönliche Diktatur der Führer dient. Diese Tendenzen des Partisanentums, in dem sich das bäuerliche Naturell in der Revolution widerspiegelt, fanden ihren vollendetsten Ausdruck bei den linken Sozialrevolutionären und Anarchisten, aber sie erfassten auch einen beträchtlichen Teil der Kommunisten, insbesondere aus den Kreisen der Bauern, der gewesenen Soldaten und Unteroffiziere.

In der ersten Zeit war das Freischärlertum eine notwendige und ausreichende Waffe. Der Kampf gegen die Konterrevolution, die noch nicht Zeit gefunden hatte, sich zusammenzuschließen und zu bewaffnen, wurde mittels selbständiger kleiner Trupps geführt. Ein solcher Kampf erforderte Selbstaufopferung, Initiative, Selbständigkeit. Je mehr der Krieg seinen Schauplatz erweiterte, umso mehr erforderte er richtige Organisation und Disziplin. Die Gepflogenheiten des Freischärlerkrieges zeigten der Revolution ihre negativen Seiten. Die Trupps zu Regimentern machen, die Regimenter in Divisionen einteilen, die Divisionschefs den Armee- und Frontchefs unterordnen, – eine solche Aufgabe bot große Schwierigkeiten und es ging nicht immer ohne Opfer ab.

Die Empörung gegen den bürokratischen Zentralismus des zaristischen Russland bildete einen sehr wesentlichen Bestandteil der Revolution. Die Distrikte, Gouvernements, Bezirke, Städte bemühten sich aus Leibeskräften, ihre Selbständigkeit zu dokumentieren. Die Idee der „lokalen Macht" nahm in der ersten Periode einen außerordentlich chaotischen Charakter an. Bei den linken Sozialrevolutionären und Anarchisten war diese Idee mit reaktionären föderalistischen Doktrinen verbunden; bei den breiten Massen bildete sie eine unvermeidliche und ihrem Ursprung nach gesunde Reaktion gegen das jede Initiative erstickende alte Regime. Jedoch von einem gewissen Moment an – mit dem engeren Zusammenschluss der Konterrevolution und dem Anwachsen der äußeren Gefahren – wurden die primitiven autonomistischen Tendenzen immer gefährlicher, sowohl in politischer als auch insbesondere in militärischer Hinsicht. Diese Frage wird unzweifelhaft in Westeuropa einmal eine große Rolle spielen, vor allem in Frankreich, wo die Vorurteile des Autonomismus und Föderalismus stärker sind als irgendwo. Eine baldige Überwindung dieser Vorurteile unter dem Banner des revolutionär-proletarischen Zentralismus ist eine Vorbedingung des kommenden Sieges über die Bourgeoisie.

Das Jahr 1918 und ein großer Teil des Jahres 1919 vergehen in ununterbrochenem und beharrlichem Kampfe um die Schaffung einer zentralisierten, disziplinierten Armee, die von einem einzigen Zentrum aus versorgt und verwaltet wird. Auf militärischem Gebiete spiegelt dieser Kampf – nur in krasseren Formen – den Prozess wider, der sich auf allen Gebieten des Aufbaus der Sowjetrepublik vollzieht.

Die Auswahl und die Bildung des Kommandopersonals boten die größten Schwierigkeiten. Wir hatten zu unserer Verfügung die Reste der alten Stammoffiziere, die große Masse der Offiziere aus der Kriegszeit und endlich die Kommandeure, die von der Revolution in der ersten Freischärlerperiode ausgesondert worden waren.

Von den alten Offizieren blieben bei uns entweder die Leute, die den Sinn der neuen Epoche begriffen oder wenigstens ahnten (solcher Männer gab es natürlich nur ganz wenige) oder die verknöcherten Militärs, starre, prinzipienlose Burschen, denen der Mut fehlte, um zu den Weißen zu gehen; es blieben endlich manche aktive Konterrevolutionäre, die überrumpelt worden waren.

Bei den ersten Schritten des Aufbaus wurde die Frage akut, was mit diesen früheren Offizieren der Zarenarmee werden sollte. Wir brauchten sie als Vertreter ihrer Zunft, als Träger der Kriegsroutine, ohne die wir sonst von vorn hätten anfangen müssen. In diesem Fall hätten uns unsere Feinde kaum die Möglichkeit gegeben, unsere Selbstausbildung bis zur nötigen Höhe zu bringen. Einen zentralisierten militärischen Apparat und eine solche Armee ausbauen ohne Heranziehung der zahlreichen Vertreter des alten Offizierstandes, – das konnten wir nicht. Jetzt gehörten sie der Armee nicht als Vertreter der alten regierenden Klassen an, sondern als Platzhalter der neuen revolutionären Klasse. Freilich, viele von ihnen verrieten uns und schlugen sich zum Feinde, sie nahmen an Aufständen teil, aber im Grunde genommen war der Geist ihres Klassenwiderstandes gebrochen. Dessen ungeachtet war der Hass, den die einfache Masse ihnen gegenüber hegte, noch sehr stark und bildete eine Quelle der Partisanen-Stimmungen; im Rahmen eines kleinen lokalen Trupps brauchte man keine qualifizierten Militärs. Es galt also – um den Widerstand der konterrevolutionären Elemente des alten Offiziersstandes zu brechen –, schrittweise seinen loyalen Elementen die Möglichkeit der Arbeit in der Roten Armee zu sichern.

Die oppositionellen „linken" (in Wirklichkeit – intellektuell-bäuerlichen) Tendenzen im Aufbau der Armee suchten nach einer verallgemeinernden theoretischen Formel für sich. Die zentralisierte Armee wird als Armee des imperialistischen Staates erklärt. Die Revolution müsste ihrem ganzen Charakter entsprechend nicht nur mit dem Positionskrieg, sondern auch mit der zentralisierten Armee brechen. Die Revolution sei allein auf Elastizität, kühnem Stoß und auf der Manövrierfähigkeit aufgebaut. Ihre Schlagkraft bilde der kleine, aus allen Waffengattungen zusammengesetzte selbständige Trupp, der mit der Basis nicht verbunden sei, sich auf die Sympathien der Bevölkerung stütze, den Feind von hinten überfallt, usw. Kurz und gut, die Taktik des Kleinkrieges wurde zur Taktik der Revolution erhoben. Die ernste Erfahrung des Bürgerkrieges hat sehr bald diese Vorurteile widerlegt. Die Vorzüge der zentralisierten Organisation und Strategie gegenüber der lokalen Improvisation, dem militärischen Separatismus und Feudalismus offenbarten sich so rasch und so deutlich, dass die Grundprinzipien des Aufbaus der Roten Armee gegenwärtig außer Diskussion stehen.

Die wichtigste Rolle bei der Schaffung des Kommandoapparats der Armee hat die Institution der Kommissare gespielt. Diese wurden aus revolutionären Arbeitern, aus Kommunisten und zum Teil auch in der ersten Periode – aus linken Sozialrevolutionären (bis zum Juli 1918) gebildet. Die Rolle des Kommandeurs wurde damit gewissermaßen geteilt. In den Händen des Kommandeurs verblieb die rein militärische Leitung. Die politisch-erzieherische Arbeit konzentrierte sich auf die Kommissare. Vor allem aber bildete de Kommissar den direkten Vertreter der Sowjetregierung in der Armee. Die Aufgabe des Kommissars bestand darin – ohne die rein militärische Arbeit des Chefs zu hindern und seine Kommandoautorität zu schmälern –, Bedingungen zu schaffen unter denen diese Autorität sich nicht gegen die Interessen der Revolution richten konnte. Die Arbeiterklasse hat dieser Sache ihre besten Söhne geopfert. Tausende und Abertausende sind auf Kommissarsposten gefallen. Aus den Reihen der Kommissare kamen dann viele revolutionäre Kommandeure.

Von Anfang an nahmen wir die Schaffung eines Netzes von Militärschulanstalten in Angriff. In der ersten Zeit offenbarte sich in ihnen die allgemeine Schwäche der militärischen Organisation. Der kurzfristige Kursus von wenigen Monaten gab eigentlich nicht Kommandeure, sondern mittelmäßige Rotarmisten. Da aber zu jener Zeit in den Kampf nur allzu häufig eine Masse geschickt wurde, die im Eisenbahnwagen zum ersten Mal im Leben ein Gewehr in die Hand bekam, so wurden die Rotarmisten, die einen viermonatlichen Kursus durchgemacht hatten, mitunter auf die Posten von Abteilungsführern, Zugführern, ja sogar von Kompanieführern gestellt. Wir warben eifrig die gewesenen Unteroffiziere der Zarenarmee an. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass sie in ihrer überwiegenden Masse seinerzeit den begüterten Schichten der Stadt- und Landbevölkerung entstammten: sie waren hauptsächlich die lesekundigen Sohne der reicheren Bauernfamilien. Der Hass gegen die „goldenen Achselklappen", d. h. die adligen und intellektuellen Offiziere, war ihnen von jeher eigen, daher die Spaltung in dieser Gruppe. Sie gab uns viele hervorragende Kommandeure und Heerführer, deren glänzendster Vertreter Budjonny ist; sie, diese Gruppe, gab aber auch den gegenrevolutionären Aufständen und der weißen Armee viele Kommandeure, Die Schaffung des revolutionären Kommandopersonals gehört zu den schwierigsten Aufgaben. Wenn das höhere Kommandopersonal schon in den ersten 3-4 Jahren des Bestehens der Roten Armee vorhanden war, so kann man das in bezug auf das untere Kommandopersonal in vollem Maße auch heute noch nicht sagen. Unsere Hauptbemühungen sind gegenwärtig darauf gerichtet, der Armee Kommandeure zu sichern, die ihrer verantwortlichen Aufgabe ganz entsprechen. Das Militärschulwesen kann auf die größten Erfolge zurückblicken. Die Ausbildung und Schulung des roten Kommandopersonals bessern sich in einem fort.

Die Rolle der Propaganda in der Roten Armee ist allbekannt. Die politische Arbeit, die bei uns jedem Schritt auf dem Wege des Aufbaues, auch dem des militärischen Aufbaues voranging, führte zu der Notwendigkeit, einen weitverzweigten Apparat der Armee zu schaffen. Die wichtigsten Organe dieser Armee bilden die uns bereits bekannten Kommissare. Jedoch wird die Sache von der bürgerlichen Presse Westeuropas offenbar entstellt, wenn die Propaganda gewissermaßen als teuflische Erfindung der Bolschewiki hingestellt wird. Die Propaganda spielt in allen Armeen der Welt eine gewaltige Rolle. Der politische Apparat der bürgerlichen Armee ist viel mächtiger und reicher als der unsere. Der Vorzug unserer Propaganda liegt in ihrem Inhalt. Unsere Propaganda schließt die Rote Armee zusammen und zersetzt die Armee des Gegners, nicht infolge irgendwelcher besonderen technischen Methoden und Kniffe, sondern durch die kommunistische Idee, die ihren Inhalt ausmacht. Dieses militärische Geheimnis verkünden wir offen und überall, ohne irgendein Plagiat unserer Gegner zu befürchten.

Die Technik der Roten Armee spiegelte und spiegelt die allgemeine Wirtschaftslage des Landes wider. In der ersten Periode der Revolution verfügte sie über das materielle Erbe des imperialistischen Krieges. Dieses war in gewissem Sinne kolossal, aber auch äußerst chaotisch. Vom einen gab es zu viel, vom anderen allzu wenig, und dazu wussten wir nicht, was wir hatten. Die Hauptverwaltungsämter verheimlichten das wenige, das sie selbst wussten. Die „lokale Macht" legte ihre Hand auf das, was sich auf ihrem Territorium befand. Die revolutionären Freischärlerführer versorgten sich mit allem, was ihnen zwischen die Finger kam, Stationsvorsteher verschoben ganze Waggons mit Munition, und ganze Züge gelangten nicht an ihren Bestimmungsort. Die erste Periode war also eine Zeit der entsetzlichen Vergeudung der Vorräte des imperialistischen Krieges. Einzelne Bataillone oder Regimenter schleppten Panzerteile und Flugapparate mit sich, während sie für die Gewehre keine Bajonette und mitunter auch keine Patronen hatten. Die Kriegsindustrie stand bereits Ende 1917 still. Erst 1919, als die alten Vorräte zur Neige gingen, begann die Arbeit zur Wiederherstellung der Kriegsindustrie. 1920 arbeitete bereits fast die ganze Industrie für Kriegszwecke. Wir hatten gar keine Vorräte. Jedes Gewehr, jede Patrone, jedes Paar Stiefel ging unmittelbar von der Maschine, von der Drehbank nach der Front. Es gab Situationen – und sie hielten wochenlang an –, wo mit jeder Patrone gerechnet wurde und das verspätete Eintreffen eines Extrazuges mit Munition den Rückzug von ganzen Divisionen an der Front um mehrere Dutzend Werst zur Folge hatte.

Trotzdem die Weiterentwicklung des Bürgerkrieges zu einem Niedergang der Wirtschaft führte, wurde die Versorgung der Armee immer besser – einerseits dank der angespannten Arbeit der Industrie, andererseits und hauptsächlich infolge der besseren Organisation der Kriegswirtschaft selbst.

Eine besondere Stellung in der Entwicklung der Roten Armee nimmt die Entstehung der Reiterei ein. Ohne sich hier auf Betrachtungen über die Rolle der Reiterei im allgemeinen einzulassen, kann man konstatieren, dass in der Vergangenheit die rückständigen Länder die beste Reiterei hatten: Russland, Polen, Ungarn und noch früher Schweden. Die Kavallerie erfordert Steppen, große, freie Flachen. Sie entsteht natürlicherweise im Kubangebiet und am Don und nicht bei Petrograd oder Moskau. Im Bürgerkrieg der Vereinigten Staaten waren die Vorzüge der Reiterei ganz und gar auf selten der südlichen Farmer. Erst in der zweiten Hälfte des Krieges benutzten auch die Nordstaaten diese Waffengattung. Dasselbe wiederholte sich auch bei uns. Die Konterrevolution bildete sich in den rückständigeren Randgebieten und suchte von dort aus gegen das Moskauer Zentrum vorzudringen. Die wichtigste Waffengattung eines Denikin und Wrangel war das Kosakentum und die Reiterei überhaupt. Ihre kühnen Vorstöße und Ritte bereiteten uns in der ersten Zeit mitunter die größten Schwierigkeiten; jedoch dieser Vorzug, der der Konterrevolution zugute kam, der Vorzug der Rückständigkeit kam auch der Revolution zugute, als sie die Bedeutung der Reiterei im Manövrieren des Bürgerkrieges erfasst und sich die Aufgabe gestellt hatte, um jeden Preis eine Reiterei zu schaffen.So wurde es 1919 zur Losung der Roten Armee: „Proletarier, aufs Pferd!“ Schon einige Monate nachher konnte es unsere Reiterei mit der des Feindes aufnehmen und nahm dann endgültig die Initiative in ihre Hand.

Die Geschlossenheit der Armee und ihre Sicherheit wuchsen beständig. In der ersten Periode wollten nicht nur die Bauern, sondern auch die Arbeiter nicht in die Armee eintreten Nur eine ganz dünne Schicht selbstloser Proletarier nahm bewusst die Schaffung der bewaffneten Macht der Sowjetrepublik in Angriff, und dieser Schicht allein ist die Arbeit in der allerschwierigsten Periode zu verdanken. Die Stimmung der Bauernschaft war immer schwankend. Ganze Bauernregimenter, die freilich in den meisten Fällen politisch und technisch ganz unvorbereitet waren, ergaben sich in der ersten Zeit kampflos, und wenn die Weißen sie unter ihr Banner stellten, gingen sie wieder auf unsere Seite über. Manchmal versuchten die Bauernmassen eine gewisse Selbständigkeit an den Tag zu legen und verkrochen sich vor den Weißen und Roten in die Wälder, wo sie ihre „grünen" Trupps schufen. Aber ihre Zersplitterung und politische Hilflosigkeit verdammte sie von vornherein zur Niederlage. Auf diese Weise zeigte sich an den Fronten des Bürgerkrieges das Wechselverhältnis der grundlegenden Klassenkräfte der Revolution: die Bauernmasse, die die feudal-bürgerlich-intellektuelle Konterrevolution der Arbeiterklasse streitig macht, schwankt bald nach der einen, bald nach der andern Seite, unterstützt aber letzten Endes die Arbeiterklasse. In den rückständigen Gouvernements, wie in Kursk und Woronesh, wo es Tausende und Abertausende von Fahnenflüchtigen gab, erzeugte das Auftauchen der Truppen an der Grenze des Gouvernements einen entschiedenen Umschwung in der Gesinnung und trieb die Deserteure von gestern haufenweise in die Rote Armee. Der Bauer unterstützte den Arbeiter gegen den Gutsbesitzer und Kapitalisten. In dieser sozialen Tatsache wurzelt auch die letzte Ursache unserer Siege.

Die Rote Armee wurde im Feuer aufgebaut, d. h. nicht nach einem vorgezeichneten Plan und mitunter infolge ziemlich ungeordneter Improvisationen. Ihr Apparat war eigentlich kompliziert und in vielen Fällen schwerfällig. Wir benutzten jede Atempause, um unsere militärischen Organisationen zu vereinfachen, zusammenzupressen, zu verfeinern. In dieser Hinsicht haben wir in den letzten zwei Jahren entschieden Fortschritte zu verzeichnen. In der Periode unseres Kampfes gegen Wrangel und Polen zählte die Rote Armee über fünf Millionen. Momentan zählt sie zusammen mit der Flotte zirka anderthalb Millionen und wird immer noch abgebaut. Der Abbau wurde vollzogen und vollzieht sich langsamer, als man wünschen möchte, denn er geht mit der Verbesserung der Qualität parallel. Der Abbau der Etappe vollzog sich rascher als derjenige der Front. Die Armee wird jedoch nicht schwächer, sondern erstarkt im Gegenteil, Ihre Entfaltungsmöglichkeit im Kriegsfalle nimmt immer mehr zu. Ihre Treue für die Sache der sozialen Revolution ist erwiesen.

21. Mai 1922.

* Das tschechoslowakische Korps war im zaristischen Russland aus den kriegsgefangenen Tschechen gebildet worden; nach der Oktoberrevolution strebte das Korps „nach Hause“; es wählte den Weg durch Sibirien über Wladiwostok.

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