Leo Trotzki‎ > ‎1922‎ > ‎

Leo Trotzki 19220826 Die aktuellen Fragen der Weltpolitik

Leo Trotzki: Die aktuellen Fragen der Weltpolitik

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 175 (2. September 1922), S. 1149-1151]

[Die Moskauer Korrespondenten mehrerer ausländischer Zeitungen wandten sich an Genossen Trotzki mit der Bitte, er möge sich über verschiedene ihm mündlich oder schriftlich vorgelegte Fragen äußern. Aus der in der ;,Prawda" veröffentlichten Antwort des Genossen Trotzki geben wir einen ausführlichen Auszug wieder. Die Redaktion.]

Die Möglichkeit der Weltrevolution

Auf die Frage des Korrespondenten des „Giornale d'Italia", ob er an den baldigen Ausbruch der Weltrevolution glaube, antwortete Genosse Trotzki folgendes:

Auf diese große und komplizierte Frage hoffe ich, im Laufe des 4. Kongresses der Kommunistischen Internationale eine Antwort geben zu können. Hier will ich nur eines erwähnen. Die sozialistische Revolution halte ich selbstverständlich für unvermeidlich. Was aber ihren Zeitpunkt und ihre Form betrifft, so hängt sie in bedeutendem Grade von der Haltung der besitzenden Klassen und deren Regierungen ab. Die europäischen Regierungen haben im letzten Jahre altes mögliche getan, um den Ausbruch der Revolution zu beschleunigen und ihren Charakter zu verschärfen. Die Weltlage kann schematisch in folgender Weise dargestellt werden: Der Kapitalismus bewies durch des letzten imperialistischen Krieg seine völlige Unfähigkeit zur Weiterentwicklung der Menschheit. Die Arbeiterklasse aber erwies sich im kritischen Moment als unfähig, die Erbschaft der Bourgeoisie zu übernehmen.

Der Kapitalismus ist schon unfähig, die Arbeiterklasse ist noch nicht fähig – das ist das Merkmal unserer Epoche. Nach dem Versailler Frieden versuchte der reformistisch- pazifistisch gesinnte Flügel der Bourgeoisie, auf Grund der Verständigung der verschiedenen Nationen und Klassen, eine ernste Änderung in der Lage Europas herbeizuführen. Genua war der größte dieser Versuche. Das Resultat ist gleich Null: der imperialistische Flügel behielt die Oberhand. Weil die Imperialisten sahen, dass die Revolution nach dem Kriege ausblieb, glaubten sie, dass sie überhaupt nicht mehr kommen werde. Aus diesem Glauben folgt ihre wilde, unversöhnliche Politik sowohl in der russischen wie in der Reparationsfrage. Aber eben diese Politik, ihre unmittelbaren Folgen beschleunigen durch die Schaffung einer katastrophalen Situation nach der anderen den revolutionären Prozess der Arbeiterklasse.

Auf die Frage, ob die Sowjetregierung nach dem Misserfolge der Konferenzen in Genua und Haag nicht gezwungen sei, entweder eine größere Rechtsschwenkung zu machen oder zu den Prinzipien des reinen Kommunismus zurückzukehren, glaubt Gen. Trotzki mit nein antworten zu können. Genua und Haag gaben einen schlagenden Beweis von der Machtlosigkeit des bürgerlichen Pazifismus und des Reformismus.- In diesem Sinne haben diese Konferenzen eine sehr große pädagogische Bedeutung für die europäische innere Politik. Unsere wirtschaftliche Politik kann aber der Misserfolg beider Konferenzen nicht beeinträchtigen.

Genosse Trotzki fuhr fort:

Der Übergang zur neuen Wirtschaftspolitik war durch zwei tiefliegende Ursachen hervorgerufen: erstens durch die Notwendigkeit der Schaffung richtiger Beziehungen zwischen der Staatsindustrie und der Bauernwirtschaft und zweitens durch die Notwendigkeit der Ausnutzung der Formen und Methoden des Kapitalismus zur Entfaltung der Staatsindustrie selbst. Diese beiden Ursachen haben dauernden Charakter, daher haben wir weder die Absicht noch die Möglichkeit, auf die neue Wirtschaftspolitik zu verzichten.

Andererseits sehe ich keine Gründe, die uns zu einer Rechtsschwenkung bewegen könnten, um die Sympathie des Kapitalismus zu gewinnen. Selbstverständlich würde es der kapitalistischen Welt sehr sympathisch sein, wenn wir zugunsten des Kapitalismus auf den Sozialismus verzichteten. Aber die Lage der kapitalistischen Welt bewegt uns nicht im geringsten zur Revision unseres Programms.

Die Abrüstungsfrage

Der Korrespondent der „New York World" fragte, welche Vorschläge Russland in der Frage der Abrüstung oder wenigstens der Einschränkung der Rüstungen machen könnte.

Genosse Trotzki erwiderte: Unsere Delegation in Genua hielt einige ausgearbeitete Vorschläge im Geiste des entschiedenen Pazifismus bereit. Wir waren geneigt, sofort auf die völlige Auflösung aller Armeen oder auch auf ihre Herabsetzung auf ein Minimum einzugehen. In der Abrüstungsfrage hätten wir alle ähnlichen Vorschläge angenommen, die die Möglichkeit des militärischen Angriffs eines Landes auf das andere hätte ausschließen können. Wir sind auch jetzt noch ständig bereit, einen jeden Vorschlag in diesem Sinne als Gegenstand der Verhandlung aufzunehmen. Es hat keinen Sinn, hier, jetzt ausführlich auf die Darlegung der verschiedenen pazifistischen Systeme einzugehen. Die Schwierigkeiten liegen nicht im Plane, in der technischen Durchführung, sondern im politischen Willen. Das kapitalistische Europa, wie es aus dem Versailler Höllenfeuer herauskam, ist mit der Abrüstung unvereinbar. Das gegenwärtige Europa will die Abrüstung nicht und kann sie auch nicht wollen. Und das trat in Genua besonders klar zum Vorschein, wo sich unsere Gegner unverhüllt weigerten, die Abrüstungsfrage auf die Tagesordnung zu setzen.

Auf die Frage des Korrespondenten der „United Press of America", eine wie starke Armee unter den jetzigen Verhältnissen Sowjetrussland brauche, antwortete Genosse Trotzki:

Wir setzten des Stand unserer Armee von 5.300.000 auf 800.000 Mann herab. Zu einer weiteren Herabsetzung ist eine ernste Änderung der internationalen Lage notwendig. Die Weigerung unserer Nachbarn, unserem Anfrage gemäß eine Abrüstungskonferenz tatsächlich zu ermöglichen, erleichtert selbstverständlich nicht die Lösung dieser Frage.

Sowjetrusslands Wirtschaftskräfte.

Die nächste Frage ist, ob wir mit unseren Mitteln ohne einen großen Auslandskredit auskommen können? Ja, ich hoffe, dass ein Hundertfünfzigmillionen-Volk auch ohne einen ausländischen Kredit nicht zugrunde gehen wird. Selbstverständlich wird die Entwicklung Russlands bei der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Blockade langsamer vor sich gehen. Trotzdem werden wir aber vorwärts schreiten. Die riesigen produktiven Kräfte des durch die Revolution aufgerüttelten Volkes befinden sich gegenwärtig im Prozess der Gruppierung und der Kristallisation, sie machen eine unentbehrlichliche Schule durch und werden ihre Aufgaben erfolgreich durchführen.

Genua und Haag.

In Bezug auf Genua und Haag möchte ich viel lieber selbst Fragen stellen als antworten, da ich darüber – ich muss es gestehen – bis heute noch nicht im Klaren bin, wozu eigentlich diese Konferenzen einberufen wurden. Die Konferenz von Genua bezeichnete Lloyd George „als das größte Ereignis auf diesem Gebiete". Und es waren tatsächlich vierzig Staaten vertreten. Wozu? War es denn den Initiatoren der Konferenz vollkommen ernst mit der Hoffnung, dass Sowjetrussland – von der Feierlichkeit der Konferenz verblendet – auf solche Verpflichtungen eingehen werde, die es bis zur Konferenz nicht übernehmen wollte? Es ist schwer, anzunehmen, dass erwachsene Leute solche kindische Vorstellungen über Sowjetrussland und seine Politik hätten. Es ist wahr, wie ich hörte, dass die Berufsparlamentarier und Berufsdiplomaten geneigt sind, „Verhandlungen", „Konferenzen" eine mystische Macht zuzuschreiben, da sie die schwarze und weiße Magie der diplomatischen Kunstreden am höchsten schätzen. Es versteht sich von selbst, man darf es nicht leugnen, dass die Sowjetdiplomaten auch Menschen sind und für alles Menschliche, daher auch für die Vorzüge einer Kunstrede Verständnis haben. Aber wir sind vor allem Realisten. Die Sowjetrepublik ist eine reelle Tatsache; das Programm der Kommunistischen Partei ebenfalls. Die führende Rolle dieses Programms in der Sowjetrepublik war, ist und – mit Erlaubnis der parlamentarischen und diplomatischen Magier – bleibt auch das Grundprinzip der Sowjetpolitik. Nach dem Misserfolg in Genua folgte Haag. Wozu? Wurde auch diese Konferenz nur einberufen, um die Blamage „des größten Kongresse« der Welt" zu verhüllen? Oder glaubten einige Politiker, dass die Sowjetvertreter, die in Genua „Prinzipienreiterei betrieben haben", im Haag vor dem Ultimatum des Kapitalismus kapitulieren werden? Eine solche Politik ist das Zeichen eines völligen Unverständnisses der Dinge. Haag milderte das Scheitern von Genua nicht, im Gegenteil, es betonte es noch lauter. Und nicht durch unsere Schuld.

Wir werden arbeiten und warten.

Ihr fragt mich, was in Anbetracht des Scheiterns von Genua und Haag unsere Absichten seien? Wir wollen arbeiten und warten. Europa und die ganze Welt ist wenigstens ebenso sehr auf Russland angewiesen, als Russland auf Europa. Die Abenteuerjagd einiger Staatsmänner wird neue Opfer und neues Elend fordern, aber die unausweichlichen wirtschaftlichen Notwendigkeiten werden sich den Weg bahnen. Wenn uns diese Staatsmänner nicht „anerkennen", so werden uns andere anerkennen, die jene ablösen werden.

Die unmöglichste Forderung aber war die Forderung der Anerkennung des Privat-Eigentums der ausländischen Kapitalisten. Die Oktoberrevolution war der politische Sieg der Arbeit über das Kapital. Als Resultat dieses Sieges entnahm die Arbeiterklasse den Kapitalisten den durch die Arbeiterklasse selbst geschaffenen Reichtum. Ihn wieder den Kapitalisten zurückzugeben, vermag nur eine erfolgreiche Gegenrevolution, d. h. der Sieg des Kapitals über die Arbeit. Und diesen Weg einzuschlagen, haben unsere Feinde bereits oft genug versucht. Und nun glauben sie, diese schlauen Köpfe, dass es ihnen gelingen wird, die Arbeiterevolution, die sie mittels militärischer Interventionen nicht stürzen konnten, durch juristische und diplomatische Argumente zu Fall zu bringen.

Die Eisenbahnen, die Fabriken, der Grund und Boden gehört bei uns dem Staate. Das kann manchen wohl nicht gefallen, aber es ist eine Tatsache, die man nicht umgehen kann.

In diesem Jahre ging bei uns ein bedeutender Umschwung auf dem Gebiete der Landwirtschaft vor sich. Wir werden nicht nur die Städte und die Industrie mit Lebensmitteln versorgen, sondern – vorläufig natürlich nur in sehr bescheidenem Maße – auch den Getreideexport wieder aufnehmen können. Das Jahr 1923 wird bedeutend günstiger sein als 1922. Der parallele Zufluss des ausländischen Kapitals würde diesen Prozess selbstverständlich beschleunigen. Auch ohne dies werden wir aber unsere Wirtschaft konsolidieren können.

Der Aufschwung des Wirtschaftslebens in Sowjetrussland bedeutet einerseits die Bereicherung des Arbeiterstaates, andererseits das Wachsen kapitalistischer Beziehungen im Lande. Aber innerhalb des Warensystems, innerhalb des Freihandels behält der Staat die wirtschaftliche Kontrolle in seinen Händen, indem die wichtigsten Produktivkräfte sein Eigentum bilden und der Außenhandel sein Monopol ist. Mit diesen Tatsachen müssen die ausländischen Kapitalisten und ihre Regierungen rechnen.

Noch einmal über die Abrüstung.

Vor 1½ Jahren standen noch 16 Jahrgänge unter Waffen. Heute ist bloß ein Jahrgang mobilisiert.

In Genua schlugen wir die allgemeine Abrüstung vor. Europa lehnte selbst die Behandlung der Frage ab. Wir wandten uns mit demselben Vorschlag an unsere Nachbarn. Das Resultat war dasselbe. Deshalb sind wir gezwungen, die auf 800.000 Mann herabgesetzte Armee vorläufig noch unter Waffen zu halten. Wir sind bereit, auch diese Armee aufzulösen, sogar die mit großem Erfolg arbeitenden Militäranstalten zu liquidieren, wenn auch unsere Nachbarn unser Abrüstungsprogramm annehmen. Wenn Amerika in dieser Frage die Initiative ergreift, werden wir es mit allen Kräften unterstützen.

Damit beantwortete ich auch die Frage, ob wir durch Frankreich, Polen und Rumänien neue militärische Interventionen erwarten. Wir glauben nicht an eine unmittelbare Gefahr, und deshalb haben wir den Stand unserer Armee so stark herabgesetzt. Vollständig ausgeschlossen ist die Gefahr natürlich nicht, und deshalb sind wir gezwungen, den Rahmen und die Technik unserer Armee ständig zu verbessern.

Der SR.-Prozess.

Der Prozess der Sozialrevolutionäre, worüber Sie meine Meinung wissen möchten, bereitete dieser Partei innerhalb des Landes einen unheilbaren politischen Schlag. Unser Kleinbürgertum, unsere Scheindemokratie war in der Wirklichkeit nichts anderes als die Agentur der ausländischen Regierungen. Im Auslande führte die bürgerliche und die sozialdemokratische Presse anlässlich des Prozesses eine wilde Hetze gegen die Sowjetrepublik und täuschte betreffs des tatsächlichen Inhalts des Prozesses systematisch ihre Leser. Die niederschmetternden Enthüllungen des Prozesses blieben vor den europäischen und amerikanischen Lesern beinahe vollkommen verborgen. Aber die Lügen schwinden, die Tatsachen bleiben.

Die Empörung über die Verfügung des Präsidiums des Allrussischen Zentralexekutivkomitees in Bezug auf die zum Tode verurteilten SR. darf nicht höher eingeschätzt werden, als sie es verdient. Die SR-„Partei" hat sich das „Recht" vorbehalten, außer anderen auch gegen Mitglieder der Sowjetregierung terroristische Akte durchzuführen, wenn ihr die Politik der Sowjetregierung nicht gefällt, Gestattet uns, dass wir uns auch das Recht vorbehalten, die Führer der SR-„Partei" zu erschießen, wenn sich diese dem bestehenden Regime in Russland nicht unterordnen. Unsere Partei ist sich dessen bewusst, dass sie eine große historische Mission erfüllt, und heute ist sie ebenso wenig geneigt, in den Fragen der revolutionären Macht nachzugeben wie vor fünf Jahren.

Die Ausweisungen.

Ihr fragt mich, womit wir die Ausweisung der sowjetfeindlichen Elemente aus Russland rechtfertigen, und ob es nicht so auszulegen sei, .dass wir vor ihnen eine größere Furcht haben, wenn sie sich innerhalb des Landes anstatt jenseits der Grenzen befinden?

Die Antwort darauf ist sehr einfach. Ihr seid Zeugen des Prozesses gegen die SR gewesen, die das Tribunal zum Tode verurteilt hat. Die Mehrheit Eurer Presse hat gegen unsere „Grausamkeit" eine verzweifelte Hetze eingeleitet. Wenn wir die Herren SR nach der Oktoberrevolution aus dem Lande verwiesen hätten, hätten wir Euch diese Empörung ersparen können.

Jene Elemente, die wir ausweisen, haben keine politische Bedeutung. Aber sie sind eine potentielle Waffe in den Händen unserer möglichen Feinde. Im Falle neuer militärischer Komplikationen würden sich alle diese Elemente als militärische und politische Agenten des Feindes erweisen. Und dann würden wir gezwungen sein, sie auf Grund unseres Kriegsgesetzes zu erschießen. Deshalb ziehen wir es vor, sie heute in der Friedensperiode rechtzeitig auszuweisen, und ich hoffe, dass Ihr unsere vorsichtige Humanität anerkennen und vor der öffentlichen Meinung verteidigen werdet.

Die Beziehungen zu Amerika.

Auf die Frage, wie lange sich nach meiner Meinung das amerikanische Kapital vom russischen Handel fernhalten wird, möchte ich selbst mit größtem Interesse die Antwort hören.

Das amerikanische Kapital ist in einer unvergleichlich besseren Lage als das europäische. Die Amerikaner sind Empiriker: sie trachten alles mit ihren eigenen Augen zu prüfen.

Die ARA hat den hungernden Russen Russlands eine unvergessliche Hilfe geleistet und war gleichzeitig das Auge der regierenden Kreise Amerikas im innersten Herzen Russlands. Amerika konnte es besser sehen, wie wir in Wirklichkeit sind, als irgendein europäisches Land. Es bleibt uns nichts übrig, als zu warten, bis die öffentliche Meinung der besitzenden Klassen Amerikas das gesammelte Material verwendet und aus ihm die entsprechenden Konsequenzen zieht.

Kommentare