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Leo Trotzki 19221011 Die Lage Russlands und die Aufgaben der Arbeiterjugend

Leo Trotzki: Die Lage Russlands und die Aufgaben der Arbeiterjugend

(Rede auf dem V. Allrussischen Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes Russlands, Moskau, Oktober 1922

[Nach Russische Korrespondenz, 3. Jahrgang 1922, Heft VII-X (Juli-Oktober 1922), S. 644-650]

Fünf Kampfjahre.

Die Geschichte der vergangenen fünf Jahre, an der der größte Teil von Euch wahrscheinlich noch nicht aktiv beteiligt war, ist eine Schatzkammer der großartigsten Lehren. Die revolutionären Epochen, die sozialen Umwälzungen, kehren das ganze Innere der Gesellschaft nach außen. Die Klassen greifen einander heftig an. Und der Umwälzung der Grundlage folgt die des Überbaues bis zu den kompliziertesten Gebieten der Philosophie. Am besten werden aus den Erfahrungen der Revolution jene von uns lernen können, die sich an ihr praktisch beteiligt haben. Da aber unser revolutionärer Boden noch nicht erkaltet ist, muss unsere junge Generation die Erfahrungen dieser fünf unvergleichlichen Jahre zur Grundlage ihres Lernens machen. Selbstverständlich kann ich hier nicht alle Lehren unserer Revolution, der größten Revolution der Welt, erschöpfend darstellen. Ich kam hierher mit einer viel bescheideneren Aufgabe: ein Bild von unserer internationalen und inneren Lage zu geben, wie sie sich als Resultat unserer Kämpfe entwickelte.

Die ersten zwei Jahre verliefen in einem unausgesetzten Kampfe und unter einer absoluten Blockade. Das dritte Jahr verging auch im Kampfe, aber es brachte die ersten Versuche der bürgerlichen Regierungen, mit uns in Verbindung zu treten.

In den letzten zwei Jahren hörte der Krieg dank unserer militärischen Siege allmählich auf. Die Verhandlungen nahmen immer größere Ausmaße an. Derselbe Grundcharakter, den die Imperialisten in ihrem bewaffneten Kampfe gegen uns bewiesen, zeigt sich auch in jenen friedlichen Verhandlungen, die sie mit uns führen. Dieser Grundcharakter ist Unentschlossenheit, Inkonsequenz, Hin- und Herschwanken. Es unterliegt keinem Zweifel, dass, wenn der deutsche Imperialismus Ende 1917 und Anfang 1918 sich das Ziel gesetzt hätte, uns zu vernichten, er uns auch hätte vernichten können. Auch darüber besteht kein Zweifel, dass, wenn Clemenceau sich Ende 1918 das Ziel gesetzt hätte, uns durch Kriegsgewalt zu erwürgen, wir heute nicht mehr wären. Im militärischen Sinne waren wir viel schwächer, nicht nur als der vereinigte Imperialismus, sondern auch als jede einzelne der großen imperialistischen Mächte. Sie wandten gegen uns nicht alle ihre Kräfte an, erstens, weil sie sich damals vor der Entwicklung der revolutionären Bewegung als einer Folge des Krieges fürchteten; zweitens, weil sie uns für eine so vergängliche Macht hielten, dass sie gegen uns einen großen Krieg zu führen nicht für notwendig hielten. Darin bestand unsere Rettung. Sie beschränkten sich auf ihre Söldner, die zaristischen Generale, und auf ihre anderen Söldner, die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki. Mit Hilfe der Bourgeoisie unserer Randstaaten, mit Hilfe der emigrierten Bourgeoisie, mit Hilfe unserer sogenanntem Demokraten organisierten sie feindliche Fronten, die das Herz Russlands umgaben.

Nach den ersten zwei Revolutionsjahren beginnen die Verhandlungen. Sie beginnen schon im Februar-April des Jahres 1919, und um unsere heutige Lage einschätzen zu können, werde ich Euch jene Bedingungen in die Erinnerung rufen, unter denen wir im Frühjahr 1919 bereit waren, auf diese Verhandlungen einzugehen. Das vergessen sehr oft sowohl unsere Freunde, als auch unsere Feinde. Am 4. Februar 1919 wandte sich der Rat der Volkskommissare mit einem Friedensangebot an alle imperialistischen Mächte, indem er sich bereit erklärte, erstens die Schulden der früheren russischen Regierung anzuerkennen; zweitens unser ganzes Rohmaterial zur Sicherung der Zinszahlungen zu verpfänden; drittens Konzessionen zu gewähren; viertens territoriale Zugeständnisse zu machen in der Form der Besetzung gewisser Gebiete durch Ententetruppen. Nach anderthalb Monaten kam aus Amerika als Vertreter bestimmter Regierungskreise der Radikale Bullit zu uns, dem wir folgende Bedingungen eines Friedens mit dem europäischen und amerikanischen Imperialismus vorschlugen: Erstens stellen wir den bewaffneten Kampf gegen die in Russland tatsächlich existierenden Regierungen, d. h. gegen die weißen Regierungen, ein. Zweitens rüsten wir unsere Armee unverzüglich ab. Drittens übernehmen wir die Verpflichtung, für den unseren Gebieten entsprechenden Teil der Staatsschuld. Wir verzichteten auf die Rückgabe jener Goldvorräte, die die Verbündeten uns raubten. Auf solche Bedingungen wollten wir damals eingehen. Die verbündeten Imperialisten nahmen diese Bedingungen nicht an, und sie taten sehr gut daran, dass sie sie nicht annahmen. (Heiterkeit.) Seit jener Zeit hat sich unsere Lage, wie streng wir auch unsere Fehler und Mängel kritisieren mögen, bedeutend gebessert. Niemand, der sich der Konferenz von Genua erinnert, kann das leugnen.

Die Verhandlungen scheiterten zwar, und wir übernahmen Europa und Amerika gegenüber keine einzige Verpflichtung, dennoch gibt es keinen Krieg mehr. Das erklärte sich durch die progressive Lähmung des Klassenwillens des Imperialismus infolge der Zunahme der Widersprüche und infolge des langsamen, aber fortwährenden Wachsens der revolutionären Arbeiterbewegung.

Die drohende Wirtschaftskrise zwingt die europäische Bourgeoisie zu einem Abkommen mit Sowjetrussland als mit einer möglichen Rohmaterialquelle und mit einem möglichen Absatzmarkte der europäischen Industrie. Dürfen wir behaupten, dass ein Übereinkommen mit Sowjetrussland zu einer unmittelbaren Besserung der europäischen Lage führen würde? Nein. Wir sind sowohl als Rohmateriallieferanten als auch als Käufer von Industrieprodukten allzu arm, um innerhalb zwei, drei Jahren zu einem entscheidenden oder sogar zum Hauptfaktor der europäischen Wirtschaft werden zu können. Und das weiß die Bourgeoisie wohl. Selbstverständlich nimmt der Anschluss Russlands an das Wirtschaftsleben Europas mit jedem Jahre mehr an Bedeutung zu. Und in fünf, in acht, in zehn Jahren wird Russland einer der mächtigsten Faktoren der Weltwirtschaft sein. Das steht außer jedem Zweifel, Aber dazu brauchen wir noch 8 bis 10 Jahre. Und um auf Jahrzehnte berechnete Kombinationen zu machen, dazu muss man Perspektiven haben, dazu muss man den Boden fest unter seinen Füßen fühlen.

Die europäische Bourgeoisie weiß aber nicht, was das Morgen und das Übermorgen bringen wird. Sie lebt für den heutigen Tag. Die Krise geht aus einem Krampfzustande in eine zeitweilige Besserung über, die wieder durch einen neuen Krampf abgelöst wird. Die internationalen Beziehungen entbehren jeder Standhaftigkeit. Die gestrigen Verbündeten, England und Frankreich, stehen einander auf allen Gebieten der kapitalistischen Forderungen immer feindlicher gegenüber. Das sind die Gründe, weshalb keine europäische Regierung heute eine auf fünfzehn, zehn oder auch nur auf fünf Jahre im Voraus berechnete Politik führen kann. Alle bürgerlichen Regierungen leben von einer Minute auf die andere und versuchen nur die schreiendsten Widersprüche zu beseitigen. Und so versuchen sie, indem sie von einem diplomatischen Kurort zum anderen reisen, nur die schärfsten Fragen, nur die schärfsten Konflikte beizulegen. Daraus entspringt auch ihre diplomatische Schwäche wie früher ihre militärische Schwäche. Sie haben eine mächtige Armee und können uns nicht zerschlagen. Sie haben eine sich auf hundertjährige Erfahrung stützende Diplomatie und können mit uns keinen einzigen Prozess zu Ende führen.

Unsere Zugeständnisse.

Natürlich haben wir viele Zugeständnisse gemacht. Aber vergleicht unsere diplomatische Plattform vom Februar und April des Jahres 1919, die ich erwähnte, mit unserer Plattform in Genua, wo wir erklärten: „Russland ergibt sich nicht und verkauft sich nicht. Und Russland ist nicht geneigt, vor dem Ultimatum des Weltimperialismus zu kapitulieren." Und kurze Zeit darauf wendet sich der Vertreter der größten Börsenmänner Englands, Urquhart, der Vertreter einer Menge von Unternehmungen in allen Weltteilen, an uns und unterschreibt einen Vorvertrag mit Genossen Krassin auf neunundneunzig Jahre.

Ihr könntet fragen: Wenn die Bourgeoisie heute unfähig ist, auf fünf oder zehn Jahre vorauszublicken, wie ist es möglich, dass Urquhart auf neunundneunzig Jahre in die Zukunft schaut? Es liegt eben daran, dass die Bourgeoisie als herrschende Klasse, als Staat sich einen Plan vorzeichnen muss, mit wem sie ein Bündnis abschließen soll, wer ein größerer, wer ein kleinerer Feind ist; sie muss es in Betracht ziehen, wie sich die Verhältnisse innerhalb fünf, innerhalb zehn bis fünfzehn Jahren ändern werden. Urquhart handelt aber nur als Unternehmer, und seine Erwägungen sind daher sehr einfach und in ihrer Einfachheit vollkommen richtig, Er sagte sich: „Wenn wir Kapitalisten uns in England, in Frankreich, in der ganzen Welt behaupten können, dann werden wir früher oder später Sowjet-Russland erwürgen. Wenn wir Kapitalisten aber auch in England und in Frankreich gestürzt werden, verlieren wir selbstverständlich unseren Besitz auch im Ural und in Sibirien"; wer aber seinen Kopf verlor, dem ist es nicht mehr um die Haare bange, und wenn das Kapital in der ganzen Welt expropriiert wird, so wird selbstverständlich auch die Konzession des Herrn Urquhart früher als in neunundneunzig Jahren ablaufen. Ich weiß nicht, ob Genosse Krassin mit ihm darüber sprach. Wahrscheinlich sprach er mit ihm darüber im Privatgespräch: Solange Ihr in der ganzen Welt stark seid, werden wir Euch nicht einzeln expropriieren. Wenn aber der englische Arbeiter Euch expropriieren wird, dann werden wir uns mit den englischen Arbeitern bezüglich Eurer Konzession schon irgendwie verständigen können. (Heiterkeit.) Ihr sagt aber, dass die Sowjetregierung auch diesen Vertrag ablehnte. Sie lehnte ihn ab, weil die Politik Englands nicht die minimalsten Garantien zum Abschluss eines so riesigen Vertrages, der die Möglichkeit normaler Beziehungen beider Länder fordert, sichert.

Ist der Wiederaufbau ohne ausländisches Kapital möglich?

Wenn es auf der Erde kein anderes Land als Russland gäbe, so ist es klar, dass ein Hundertfünfzigmillionensvolk ohne das Kapital Urquharts nicht zugrunde ginge, sondern sich allmählich aus der Verwüstung, die es als Erbschaft bekam, emporheben könnte. Das Fernbleiben des ausländischen Kapitals bedeutet nur mehr Leiden, mehr Elend und ein langsameres Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung. Und das im Auge behaltend, führen wir auch die Verhandlungen.

Selbstverständlich hätte der Vertrag mit Urquhart, wenn die englische Regierung ihre Politik geändert, d. h. die Sowjetrepublik anerkannt und dann versucht hätte, mit uns bezüglich der wichtigsten politischen Fragen überein zu kommen, mit manchen kleinen Änderungen oder ohne Änderungen bestätigt werden können. Dieser Vertrag ist ein praktisches Abkommen mit einer kapitalistischen Gruppe, die uns neue technische Mittel zugeführt und uns unwillkürlich geholfen hätte, die Industrie unseres Landes viel schneller wiederaufzurichten. Mit jedem Monat, mit jedem Jahr wird die Zahl der ausländischen Prätendenten größer. Und die Bedingungen, die wir stellen werden, werden sich den normalen Bedingungen immer mehr annähern.

Der Grundcharakter unserer internationalen Wirtschaftslage besteht darin, dass wir den Sozialismus auf einer verwüsteten wirtschaftlichen Grundlage aufzubauen versuchen. Aus den alten marxistischen Büchern lernten und lernen wir, dass die Mission des Kapitalismus darin besteht, die Produktivkräfte eines Landes und der ganzen Welt bis zum höchstmöglichen Grade zu entwickeln. Dann erscheint das Proletariat, das diese entwickelten Produktivkräfte ergreift und sie auf sozialistischer Grundlage im Interesse der gesamten Menschheit umbaut. Hat sich das bewährt? Im Grunde genommen, ganz bestimmt. Der Kapitalismus entwickelte die Produktivkräfte bis zu einem hohen Grade. Aber was machte er? Bevor das Proletariat noch fähig gewesen ist, von diesen Produktivkräften Besitz zu ergreifen, hat der Kapitalismus im wilden Krämpfe des Weltkrieges ungeheure Volksreichtümer, einen großen Teil der Produktivkräfte vernichtet, und je weiter das Land nach dem Osten lag, einen um so größeren Teil.

Österreich-Ungarn ist verwüstet, Deutschland ist verwüstet, Russland ist bis zum höchsten Grade verwüstet. Was sind nun die Voraussetzungen? Einerseits ist die Technik da, die vom Kapitalismus entwickelt wurde; sie ist, sie hat sich erhalten. Sie hat sich erhalten in Amerika, in einem außerordentlich hohen Entwicklungsgrade, in England auf einer großen Höhe, in Frankreich mit einer größeren Bresche und gegen den Osten immer schlechter und schlechter. Bei uns hat sich die Technik in den Büchern, im Kopfe der Ingenieure und in den Arbeitsmethoden erhalten. Was der Kapitalismus auf dem Gebiete der Technik, der Wissenschaft geschaffen hat, das hat sich erhalten, aber die materiellen Werte, die durch Arbeit geschaffen wurden, sind zerstört, sind bis zum letzten Rest vernichtet worden. Und nun schreitet die Arbeiterklasse, der das Schicksal die Macht in dem wirtschaftlich am meisten verwüsteten Lande in die Hände gab, zum Aufbau des Sozialismus. Sie baut den Sozialismus auf, aber gleichzeitig ist sie gezwungen, alle jene materiellen Werte, die früher die Bourgeoisie schuf, wiederherzustellen. Wer von Euch auf dem Gebiete der politischen Ökonomie oder wenigstens in ihren ersten Kapiteln bewandert ist, der weiß, dass die Bourgeoisie als Klasse durch das Stadium der ursprünglichen Akkumulation gehen muss, das durch eine außerordentlich barbarische Ausbeutung und Selbstausbeutung gekennzeichnet ist, da der Kleinbürger, der spätere Bourgeois, sich selbst ausbeuten muss. Er arbeitet Tag und Nacht und beutet seine Frau, seine Kinder aus. Der Kleinbürger verwandelt sich in den mittleren Bourgeois und hebt sich weiter empor. …

Wir bekamen ein verwüstetes Land, und das Proletariat, das in diesem Lande die Herrschaft innehat, muss jenes erste Stadium, das man die Periode der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation nennen kann, durchmachen. Wir können uns nicht jener technischen Mittel bedienen, die man bis zum Jahre 1914 hatte. Sie sind zerstört worden und müssen Schritt für Schritt unter den Voraussetzungen eines Arbeiterstaates, aber im Wege einer kolossalen Anspannung der lebendigen Arbeitskraft wiederhergestellt werden. Das ist unsere Aufgabe. Darin liegen aber auch die Schwierigkeiten und vor allem die Schwierigkeiten der Erziehung.

Als der jugendliche Arbeiter, sagen wir im Jahre 1912/1913, in die Fabrik oder in die Werkstatt kam, fand er dort ein festes Regime. Seine Ausbeutung, seine Existenz trieb ihn zum Widerstande. Er streikte. Dieser Streik war noch ziemlich dunkel, elementar, blind geführt. Aber er trieb ihn auf den Weg des Klassenkampfes. Dort in der Werkstatt erhielt er die erste gesellschaftliche Erziehung, die ihn zum Sozialismus, zur Revolution führte. Der heutige jugendliche Arbeiter findet in der Werkstatt manchmal noch schlechtere materielle Verhältnisse als unter dem Kapitalismus. Warum? Weil das Proletariat sich bei uns im Stadium der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation befindet. Wir können (selbstverständlich nur mit Einschränkungen) die Arbeiterklasse mit jener Handwerkerfamilie vergleichen, die heute noch kaum vorwärts kommt, morgen aber schon ein kleiner, übermorgen ein mittlerer, vielleicht auch großer Bourgeois wird. Wenn dieser Handwerker seine eigene Arbeit ausbeutet, d. h. wenn er Tag und Nacht arbeitet und seine Frau und seinen Sohn arbeiten lässt, dann ist das keine Klassenausbeutung, das ist nur eine äußerste Anspannung der eigenen Kräfte und der Kräfte seiner Familie, um seinen Wohlstand zu erhöhen, was in der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Ziele einer möglichen Ausbeutung der Arbeiterklasse verbunden ist. Und wenn bei uns jetzt nach den ungeheuren Verwüstungen des imperialistischen und des Bürgerkrieges die Arbeiterklasse gezwungen ist, all ihre Kräfte anzuspannen und nicht einmal die elementarsten Bedingungen der materiellen Existenz genießen kann, so ist da selbstverständlich von keiner Klassenausbeutung die Rede, insofern es sich um die der Arbeiterklasse gehörigen Unternehmungen, d. h. um unsere größten Unternehmungen handelt. Die Arbeiterklasse und die Arbeiterjugend spannen ihre Kräfte an, um sich auf eine höhere Stufe emporzuheben.

Die revolutionäre Erziehung der Jugend.

An diese Situation knüpft die kritischste Frage der Erziehung unserer Jugend an. Als der junge Arbeiter vor dem Kriege in die Werkstatt eintrat, sagte ihm sein fortgeschrittener Kollege: Siehe, das ist dein Meister, dein Feind, dein Ausbeuter. Wie kannst du dich wehren? Durch Streik. Und der junge Arbeiter, der sich noch keine Rechenschaft darüber gab, was die bürgerliche Gesellschaft ist, was Frankreich, England, die Börse, der Imperialismus, der Militarismus ist, erhielt in dieser kleinen Zelle schon alle Antriebe, um ein revolutionärer Kämpfer, ein bewusster Proletarier zu werden. Heute aber führen die Voraussetzungen der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation in dieser Übergangsperiode dazu, dass ein Menschewik oder ein SR durch die Wiederholung dessen, was wir ihm früher sagten, ihn zum Widerstand gegen den proletarischen Staat bewegen kann. Diese Frage ist sehr einfach, wenn man sich darüber klar ist, was ein Staat ist und was die Worte „Klasse" und „Ausbeutung" bedeuten. Aber der junge Arbeiter, der eben erst in die Werkstatt eintrat, weiß das nicht, und dennoch war sein erster Schritt in einer bürgerlich-kapitalistischen Fabrik richtig. Heute muss er die Natur des Sowjetstaates kennen, um sich in der Fabrik, in der Werkstatt zurechtfinden zu können. Heute muss er sich über den ganzen Aufbau seiner Sowjetgesellschaft Rechenschaft geben, um nicht auf Irrwege zu geraten. Mit anderen Worten: er schritt früher auf dem Wege der Erfahrung vom Einzelnen zum Allgemeinen, heute aber taugt dieser Weg nicht einmal dazu, seinen ersten Schritt zu leiten. Das bedeutet, dass die Aufgaben der Erziehung der Arbeiterjugend viel komplizierter und schwieriger geworden sind, und das erklärt uns auch, weshalb die Menschewiki das größte Gewicht auf die Gewinnung der Arbeiterjugend legen. Die neue Deklaration der Menschewiki über die Rückkehr zum Kapitalismus erleichtert aber unsere Erziehungsarbeit diesem Feinde gegenüber in bedeutendem Maße.

Ich will Euch zwei Zitate aus dem Buche des deutsch-österreichischen menschewistischen Theoretikers Otto Bauer über den neuen Kurs der Sowjetrepublik vorlesen:

Nach langen Schwankungen beschloss endlich die Sowjetregierung, die ausländischen Schulden des Zarismus zu bezahlen." Ihr werdet es selbst beurteilen können, mit welcher frechen Blödsinnigkeit der internationale Menschewismus von Sowjetrussland spricht, da ich eben erst erwähnte, dass wir im Jahre 1919 ohne Schwankungen in der klarsten Weise nicht sagten, sondern schrien: Wenn Ihr, internationale Mörder, uns in Ruhe lasst, werden wir Euch alle zaristischen Schulden bezahlen." Um aber die deutschen Arbeiter zu täuschen, schreibt Otto Bauer, dass wir uns nach großen Schwankungen jetzt entschlossen hätten, die zaristischen Schulden zu bezahlen, weil es uns immer schlechter gehe. Aber damals haben wir doch direkt vorgeschlagen, dass wir die Schulden bezahlen werden. Heute verpflichten wir uns jedoch nicht dazu, sondern erklärten, dass wir unter der Bedingung der Gewährung einer Anleihe, die uns einen großen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht, geneigt sind, über die Schulden zu verhandeln.

Auf der 34. Seite seines Buches sagt unser Theoretiker folgendes:

Der Wiederaufbau der kapitalistischen Wirtschaft kann nicht unter der Diktatur der Kommunistischen Partei vollzogen werden. Deshalb fordert der neue Kurs in der Wirtschaft auch einen neuen politischen Kurs." Der neue politische Kurs soll, wie Ihr wisst, die Demokratie, der Parlamentarismus sein. Wer hat ihm aber gesagt, dass das Ziel des neuen Kurses der Wiederaufbau der kapitalistischen Wirtschaft sei? Wir können Herrn Otto Bauer, seinen Gesinnungsgenossen und Auftraggebern versichern, dass, solange sich die Macht in den Händen der Kommunistischen Partei befindet, der Wiederaufbau des Kapitalismus in Russland unmöglich ist. (Beifall). Die Menschewiki sagen uns, dass wir der Staatsmacht eine zu große Bedeutung beimessen. Einfach nur mit Hilfe der Staatsmacht sei es unmöglich, durch Gewalt eine neue Ordnung aufzubauen. Warum legt aber die Bourgeoisie einen so großen Wert auf die Staatsmacht, wenn die Staatsmacht in den Fragen der Wirtschaft keine entscheidende Rolle spielt? Bei uns ist die Arbeiterklasse an der Macht, die der Bourgeoisie Zugeständnisse macht: Konzessionen, Freihandel, Recht auf Profit und das Recht, auf den Straßen von Moskau ihre bürgerliche Seele und ihr bürgerliches Antlitz zu zeigen. Das sind gewiss große Zugeständnisse. Aber sie kamen aus den Händen der herrschenden Arbeiterklasse, die das Steuer ihres Staates führt und sagt: Bis zu diesem Punkte könnt ihr kommen, weiter aber nicht. Und nun sagt uns Otto Bauer: unter solchen Umständen kann kein Kapitalismus entstehen. Eben deshalb haben wir ja die Grenzen gezogen, damit er nicht entstehen könne! (Beifall.)

Diese Fragen sind ganz einfach und dennoch äußerst kompliziert. Der Kampf um diese Frage wird noch viele junge Zähne kosten, und dieser Kampf wird ein langwieriger Kampf sein. Deshalb ist die Erziehung der Jugend, die theoretische Erziehung ihrer bewussten Elemente unter dem Einfluse der Avantgarde und die Erziehung der jugendlichen Massen eine Lebensfrage unserer Republik. Wir müssen das Land kennen, in dem wir leben, die Länder, die uns umgeben, und wir müssen die Geschichte unseres Landes, wenn auch nur in den letzten 10-15 Jahren, kennen, den gestrigen Tag, die Voroktoberzeit, die Koalitionsperiode, die Kerenskizeit, die Grundmomente der Geschichte der russischen kleinbürgerlichen Parteien. Das muss jeder bewusste jugendliche Arbeiter kennen, da wir noch viele Kämpfe ausfechten müssen, weil die Entwicklung der Revolution im Westen langsamer vor sich geht, als wir hofften. Schaut nur um Euch, wie viele Schwankungen innerhalb der Arbeiterklasse selbst vorkommen. In Italien: nach dem Aufschwung der Niedergang, der Verrat und dann der Zerfall der sozialistischen Parteien. In Deutschland zerfallen die Sozialisten in drei Gruppen: Sozialdemokraten, Unabhängige und Kommunisten. Dann vereinigen sich die Unabhängigen mit den Sozialdemokraten und stärken anscheinend das feindliche Lager. Ungeachtet dieser Schwankungen schreitet aber die Arbeiterklasse des Westens unaufhaltsam vorwärts und stärkt ihre revolutionäre Partei. Die Revolution breitet sich sowohl in Europa als auch in Amerika systematisch, Schritt für Schritt, hartnäckig vor.

Die Armee und die Flotte — ein bewaffneter Jugendverband

Nebst unserer wirtschaftlichen und kulturellen Tätigkeit hat für uns die Frage unserer Armee und unserer Flotte eine ungeheure Bedeutung. Unsere Armee und unsere Flotte sind nichts anderes als ein militärischer Jugendverband, da ja bei uns der Jahrgang 1901 unter den Waffen steht. Das Bündnis der Armee mit der Arbeiter- und Bauernjugend ist eine unmittelbare Blutsverwandtschaft Bei der Einberufung des Jahrgangs 1901 auf der Krim und in der Ukraine erschien die Arbeiter- und Bauernjugend freiwillig und freudevoll. Das ist aber eine Stimmung, die man noch mehr stärken und in bestimmte Bahnen lenken muss, und darin besteht die größte Aufgabe aller unserer Organe und Behörden und in erster Linie des Jugendverbandes.

Kampf gegen die Religion.

Die Religion ist ein besonders schädliches Gift in der Periode der Revolution oder in der Periode außerordentlicher Schwierigkeiten, die die Eroberung der Macht mit sich bringt. Deshalb müssen wir die revolutionäre Weltanschauung vertiefen und auch an jenen Teil der Jugend, der noch religiöse Vorurteile hat, herantreten. Und wir müssen an sie mit der größten pädagogischen Aufmerksamkeit, wir müssen an sie mit, der Propaganda des Atheismus herantreten, da nur diese Propaganda den Platz des Menschen im Weltall bestimmt und ihm den Kreis der bewussten Tätigkeit hier auf der Erde vorzeichnet. Das beste Beispiel hierfür ist das Buch des amerikanischen Bischofs Brown über Kommunismus und Christentum. Auf dem Titelblatt dieses Buches sehen wir die Sichel und den Hammer und die aufgehende Sonne. Der Bischof Brown schreibt augenscheinlich einem anderen Bischof oder jedenfalls einer anderen geistlichen Person folgendes: „Der Gott, der im englisch-deutschen Kriege, beim Versailler Friedensschlusse, oder in der Blockade Russlands die kleinste Rolle gespielt hat, ist für mich kein Gott, sondern ein Teufel. Wenn Ihr behauptet, dass der christliche Gott an dem Kriege nicht beteiligt war – und das bezieht sich auch auf die anderen Götter –, so antworte ich Euch, dass diese Erscheinungen die größten Leiden nach sich zogen, die die Menschheit überhaupt in den letzten Jahren gelitten hat, und wenn er ein solcher Gott ist, der sie nicht abwehren konnte oder wollte, wozu wenden wir uns dann an ihn?" Das sind tragische Worte! Ferner schreibt der Bischof: „Wenn über dem Weltall ein einfacher, ehrlicher, humaner und kluger Mensch stehen würde, so wäre die Weltordnung bedeutend besser und weniger grausam und blutig als heute."

Und diese Frage ist auch die Frage der Erziehung unserer Arbeiterjugend.

Ja, der jugendliche Arbeiter muss den gestrigen Tag seiner Klasse kennen, er muss viel lernen. Der bekannte menschewistische Führer Dan schreibt in seinem Buche über die Unwissenheit, die bei uns herrscht. Es ist sehr schwer, sich eine ausgesprochenere, kleinbürgerlichere, philisterhaftere, hochmütigere Überhebung vorzustellen, als die Dans, als er der russischen Emigration und der europäischen Bourgeoisie darüber berichtet, was für Anschriften er in unseren Kerkern gesehen hat. Natürlich kennen auch wir sehr gut unsere russische Unwissenheit. Sei sie auf ewig verflucht! Und gegen diese Unwissenheit unserer herrschenden Arbeiterklasse kämpfen wir schonungslos mit allen Mitteln. Aber der Herr Sozialist läuft von der Arbeiterklasse zur europäischen Bourgeoisie und sagt: Schau, welche

Unwissenheit, welcher Analphabetismus! Sein ganzes Buch ist voll solcher Klagen, solcher Verleumdungen und solcher mit halben Wahrheiten gemischter Lügen. Aber interessanter ist, was er über den Klassenstolz, über das Gerechtigkeitsgefühl unserer Rotarmisten und Arbeiter schreibt. Unter anderem erzählte ihm ein roter Soldat, der unter Wrangel besser verpflegt war und von Wrangel mobilisiert wurde:

Man lebte dort besser als in Sowjetrussland Aber das Verhältnis der Offiziere zu den Arbeitern und Soldaten war unerträglich, und deshalb bin ich bereit, den Bolschewiki alles andere zu verzeihen. Da gibt es keine Herren!" Das sagte dem Dan ein von Wrangel geflüchteter Soldat, der unter Wrangel besser verpflegt war und doch zu uns flüchtete. Und nun ließ er sich im Gefängnis als Wächter mit Dan in ein Gespräch ein, und Dan beginnt, ihn auszuforschen und in Versuchung zu führen. Seine eigenen Reden führt Dan nicht an, aber wir können ihren Inhalt auch ohne dies erraten: er sprach mit ihm über die schlechte Verpflegung usw. und führt nur die Antwort des Soldaten an: Ja, ich war unter Wrangel, dort gab es besseres Essen, aber dort sind noch Herren, und hier nicht.

Nagt mit Euren jungen Zähnen am Granit der Wissenschaft.

Dieses Bewusstsein der gestern noch unterdrückten, heute noch leidenden, aber herrschenden Arbeiterklasse unter der Arbeiterjugend zu pflegen, zu stärken und zu entwickeln – darin liegt unsere erste und wichtigste Aufgabe.

Vor allem müssen wir lernen, und da der Kampf bis zum Siege der internationalen Arbeiterklasse sehr lange dauern kann, dürfen wir nicht flüchtig, sondern wir müssen ernst und konsequent lernen. Die Wissenschaft ist keine einfache Sache, und die Gesellschaftswissenschaft ist jener Granit, auf den die jungen Zähne besonders scharf los beißen müssen. Wenn die Zustände heute in unserem Lande schwierig sind, und wenn die Übergangsperiode das Verständnis der Klassennatur unseres Staates erschwert, dann muss uns diese Wissenschaft zu Hilfe kommen. Das nächste Jahr und die nächsten Jahre müssen zu Jahren des Lernens und zu Jahren der angestrengten Arbeit der Arbeiterjugend, als Vortrupp der Arbeiterklasse auf dem Gebiete der Erziehung und Selbsterziehung, werden. Der Kampf, der noch vor uns steht, wird die Kräfte der alten Generation überleben. Wir altern alle, wir erstes Aufgebot.

Das zweite Aufgebot wuchs auf in den Jahren des heftigsten Bürgerkrieges. Es konnte theoretisch nur sehr wenig lernen. Das dritte Aufgebot, das ist Eure Generation, tritt in das bewusste Leben in einem viel günstigeren Zustande der Sowjetrepublik, und nicht in einer so fieberhaften Atmosphäre wie das zweite. Ihr müsst lernen, um die ältere Generation abzulösen, deren Mitglieder allmählich vom Kampfplatze verschwinden.

Deshalb ist, Genossen, die Frage des Jugendverbandes eine Lebensfrage unserer Revolution, die Schicksalsfrage der ganzen revolutionären Bewegung. Ich wende mich an Euch und durch Euch an die besten, ehrlichsten, bewusstesten Elemente des Proletariats und des fortgeschrittenen Bauerntums mit der Aufforderung: Lernt, zernagt mit Euren jungen Zähnen den Granit der Wissenschaft, rüstet Euch und bereitet Euch vor, uns abzulösen!

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