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Leo Trotzki 19220526 Die Naivität der Schlaumeier

Leo Trotzki: Die Naivität der Schlaumeier.

(Einige Aufklärungen für die Herren Vandervelde, Rosenfeld, Th. Liebknecht u. a.)

[Nach Russische Korrespondenz, 3. Jahrgang 1922, Heft VI (Juni 1922), S. 413-417]

Moskau, 26. Mai 1922.

Schon in Berlin haben die ausländischen Verteidiger der SR den Wunsch geäußert, die „Prawda" möge ihre Kampagne, ihre „Hetzjagd" gegen sie einstellen. Sie kämen doch bloß als Rechtsanwälte nach Moskau, die gerechte Prüfung der Angelegenheit aber erfordere eine ruhige Atmosphäre. Diese Atmosphäre würde aber nicht bestehen, falls die „Prawda" den Verteidigern gegenüber täglich ungünstiger gestimmt wird.

Es muss gesagt werden, dass auf uns dieser Wunsch, als er uns bekannt ward, den Eindruck eines unangebrachten Scherzes machte. Die Tatsache, dass sich die 2. Internationale und ihr Knappe, die Internationale zu Verteidigern der SR erhoben haben, hat uns nicht im Mindesten überrascht: gleiche politische Interessen bestimmen naturnotwendig die Solidarität in der Aktion. Die Tatsache, dass sich Vandervelde persönlich als Verteidiger der SR anbietet, hat politisch ebenso wenig etwas Unverständliches an sich: Vandervelde hat sein Schicksal zu eng mit dem Kampfe gegen den Kommunismus, gegen die proletarische Revolution und Sowjetrussland verknüpft. Seine Rolle als Verteidiger der SR ist ein integrierender Bestandteil seiner politischen Gesamttätigkeit. Aber auf welcher Grundlage, mit welchem Recht, mit welchem, wenn auch nur äußeren Scheine des gesunden Menschenverstandes haben sich Vandervelde und Co. entschlossen, von der Sowjetregierung, von der Kommunistischen Partei und insbesondere von der Redaktion der „Prawda" zu verlangen, dass unsere Publikationen sich jeder ungünstigen Charakteristik des Herrn Vandervelde und der anderen enthalten sollen? Dieses Verlangen überraschte besonders und vor allem durch seine etwas zu unintelligente Art. Denn Herr Vandervelde ist alles eher als ein politischer Neuling. Was aber kann all diesen Dingen zugrunde liegen? Es lohnt sich, bei dieser Frage stehen zu bleiben. Vielleicht lehrt sie uns etwas, was uns nützlich sein kann, und klärt im Übrigen andere Fragen für die Arbeiter Westeuropas und ganz besonders Belgiens auf.

Eine rein juristische, unpolitische Verteidigung.

Wie wir bereits vernommen haben und noch jetzt hören, behauptet Vandervelde, er sei Rechtsanwalt von Beruf und beabsichtige nur als solcher Angeklagte zu verteidigen, nicht aber als Politiker die Verteidigung einer Partei zu übernehmen.

Ein solches Gefühl der Menschlichkeit ist zweifellos lobenswert und sogar beruhigend in unserem so wenig humanitären Zeitalter. Gewisse Umstände bleiben jedoch trotzdem unaufgeklärt. Warum interessiert sich Vandervelde eigentlich für die Kriminalprozesse der Herren Götz, Donskoi usw., wenn er damit keinen politischen Zweck verfolgt? Welche Motive haben ihn dazu bewogen, seine gewiss große Reise zu unternehmen? Und weil Herr Vandervelde nun schon einmal in Moskau ist, könnte ihn doch schließlich der Volkskommissar für Kriminalaffären auch – z. B. auf den Fall der Trinkgelder, der Schatzräuber, der fremden Spione, ohne SR oder menschewistische Färbung, usw. usw. hin lenken. Wie kommt es denn nun, dass Vandervelde seine – unpolitische – Aufmerksamkeit eben dem Prozess der SR widmet?

Wir dürfen freilich auch nicht vergessen, dass diese Wahl Vanderveldes mit der Berliner Konferenz der drei Internationalen zusammenhängt und auf einer formellen Vereinbarung dieser drei Internationalen beruht (wenn auch die Vereinbarung durch die Internationalen Vanderveldes und Rosenfelds bereits verletzt wurde).

Für die Einberufung des Arbeiterweltkongresses stellten Vandervelde und seine Parteigänger folgende Bedingungen: Einstellung der Verfolgungen der „sozialistischen" Parteien durch die Sowjetregierung und Rückgabe Georgiens an die Menschewiki. Dass diese Forderungen einen rein politischen Charakter haben, kann unmöglich geleugnet werden.

Der Prozess der SR, zu dieser Zeit bereits angekündigt, wurde von Herrn Vandervelde und seinen Parteigenossen für einen Racheakt einer politischen Partei gegen eine andere erklärt. „Wenn diese Konferenz (der Internationalen) zusammentritt, werden sie die zulassen, die, nachdem sie früher die zaristischen Zuchthäuser kennen gelernt hatten, nun noch unter der Herrschaft der 3. Internationale in Zuchthäusern schmachten?"* Also deklamierte in Berlin Herr Vandervelde, der unpolitische Rechtsanwalt der SR. Die Zeugenaussagen von Semjonow und der Konoplowa wurden von denselben Personen, Parteien und Organisationen als – Verrat und Renegatentum erklärt.

Daher kommt das Verlangen, den Internationalen, die dem Kommunismus feindlich gegenüberstehen, die Möglichkeit zu geben, im Prozess der SR-Partei in der Eigenschaft als Verteidiger Partei zu ergreifen; die Angeklagten sollen sogar von Anfang an sicher sein, nicht erschossen zu werden. Angesichts dieser Umstände ist es nicht mehr möglich, zu behaupten, dass das von vornherein an uns gestellte Verlangen, die SR nicht erschießen zu lassen, sowie die bedingte Zustimmung der Sowjetregierung hierzu einen „rein juridischen" Charakter gehabt habe. Im Gegenteil; auf die juridische Frage wurde nicht einmal eine Anspielung gemacht.

Die Vereinbarung trug einen rein politischen Charakter. Der Versuch, die ganze Angelegenheit nunmehr als eine bloß juridische Funktion der Rechtsanwälte hinzustellen, statt ihr den Charakter einer politischen Manifestation der Führer der 2. und 2½ Internationale zu belassen, deckt ihre ganze Unbeständigkeit auf: es genügt, diesen Versuch der kurzen und soeben erlebten Geschichte gegenüberzustellen der Frage der Teilnahme Vanderveldes und Konsorten am Prozess der SR.

Nein, meine Herren, die Frage ist viel umfassender und viel tiefgehender.

Denn, Sie müssen schon gestatten, die Affäre ist nicht durch den Rahmen des gegenwärtigen Prozesses begrenzt. Wir wissen, was ihr voranging, was sie begleitet, und es ist leicht vorauszusehen, was ihr folgen wird. Vandervelde bekämpfte die russische Revolution, noch bevor sie selbst ausbrach; er forderte die russischen Sozialisten auf, die Kriegsregierung zu unterstützen. Sodann unterstützte Vandervelde die Kerenski-Regierung gegen die Bolschewiki. Vandervelde führte als Minister des Versailler Friedens und Agent der Blockade gegen die russische Republik der Arbeiter und Bauern mit unverminderter Kraft den Kampf gegen uns weiter.

Vandervelde unterstützte alle unsere Feinde. Vandervelde ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um die erste Arbeiterrepublik der Welt zu schädigen, anzuschwärzen, um ihre Autorität zu schwächen, um gegen sie Gefühle der Feindseligkeit zu erwecken. „Le Peuple", Vanderveldes Organ, das weder das best informierte, noch das talentvollste Blatt genannt werden kann, ist eines der uns am feindlichsten gesinnten Blätter. Seine Feindschaft, gepaart mit der stupiden Beschränktheit eines Provinzialen, gestattet ihm, in allen seinen Nummern unzählige und blödeste Verleumdungen gegen Sowjetrussland skrupellos abzudrücken. Auf ihren Parteiversammlungen, Konferenzen und Kongressen taten und tun Vandervelde und seine Parteigenossen das nämliche. Wir konnten uns davon auf der Berliner Konferenz wieder einmal überzeugen. Hat vielleicht Herr Vandervelde, als er nach Moskau abreiste, seinem Blatt, dem „Peuple", die Weisung hinterlassen, den Kampf gegen die Bolschewiki einzustellen? Oder hat er vielleicht seiner Partei vorgeschlagen, in Bezug auf den Prozess der SR eine „neutrale „unparteiische" Haltung einzunehmen, um die Ausübung seiner geheiligten Funktion als „unpolitischer" Verkünder der Gerechtigkeit nicht zu stören?

Oder wurde vielleicht der gesamten Presse der 2. und 2½ Internationale diese Weisung erteilt? Man sieht nichts von alledem. Im Gegenteil: eine neue gewaltige Welle böswilliger Lügen rollt durch die Presse der Bourgeoisie und der Koalitionssozialisten. Insbesondere verkünden Telegramme und Radios aus allen Weltteilen, Georgien wäre von einer neuen menschewistischen Erhebung erschüttert. In Wirklichkeit herrscht in Georgien die vollkommenste Ruhe. Nicht die mindeste Spur von einer Auflehnung in irgendeinem Winkel des Landes besteht. Wir wissen aber durch die im Laufe dieser fünf Jahre gemachten unzähligen Erfahrungen, dass die Propagierung von Gerüchten dieser Art zwangsläufig ausländische Vorbereitungen konterrevolutionärer Aktionen ankündigt.

Bevor die imperialistischen Generalstäbe ihre mit allen notwendigen technischen Mitteln ausgerüsteten Agenten in den Gebieten des Schwarzen Meeres oder in unseren westlichen Provinzen oder in Karelien vorstoßen ließen, beauftragten sie die imperialistische Presse, Wochen hindurch mit lautem Trompetenschall den Beginn von Aufständen anzukündigen. Dieser Lärm bildete unfehlbar die politische Bemäntelung des sich vorbereitenden imperialistischen Attentats. Die „sozialistische" Presse versäumte es kein einziges Mal, diese Gerüchte zu übernehmen, und war demnach der bloße Widerhall der gegen die Arbeitermassen gerichteten Bourgeoisiepresse. Es versteht sich von selbst, dass diese sogenannte „sozialistische" Presse unsere beharrlichen, bloß auf den reinen Tatsachen beruhenden Dementis fast nie abgedruckt hat. Havas und Reuter verdienten und verdienen in ihren Augen stets ein viel größeres Vertrauen, als die Telegraphenagentur Sowjetrusslands. Wir sind daran gewöhnt. Wir wissen auch, dass diese Verteilung von Vertrauen und Misstrauen kein Werk des Zufalls, ist, sondern durch die sozialen Interessen diktiert wird.

Die Führer der 2. Internationale stehen den von Havas und Reuter bedienten Klassen unvergleichlich näher, als den russischen Arbeitern und Bauern. MacDonald, Crispien und andere fahren noch heute fort, ihrer Unruhe in Bezug auf nicht existierende Aufstände in Georgien Ausdruck zu verleihen. Hierdurch schaffen sie für die Sowjetrepublik zum hundertsten Male künstliche Schwierigkeiten, die nur auf Fiktionen und Lügen beruhen. Sie bereiten für die Sowjetrepublik noch größere Schwierigkeiten in der Form wirklicher, durch die Kriegsschiffe der Entente in unseren Grenzgebiete geschürte, Aufstände vor.**

Hat diese Tätigkeit nachgelassen oder wurde sie wenigstens für die Dauer des Prozesses der SR suspendiert? Oder meint Vandervelde, dass bloß die Artikel der „Prawda" die Tätigkeit der nach unserem Lande importierten belgischen Gerechtigkeit stören, dieser Gerechtigkeit mit ihren einwandfreien Manieren und ihrem fast ebenso makellosen Ruf, wie der Cléo de Mérodes (die letzte Mätresse des Königs Leopold von Belgien), die, wie bekannt, auch ihrem König zur Verfügung stand? Darüber können wir mit ihm nicht übereinstimmen. Wir denken an die Art Hunderter und Tausender europäischer Publikationen, die jeden Morgen die Bevölkerung mit einer Flut von gegen uns gerichteten Lügen und Verleumdungen überschütten, um abends neue Reserven zu sammeln und sie von neuem in die Sprache ihrer Verlagserzeugnisse, Drahtberichte, Radios, Korrespondenzen, in Vers und Prosa, zu übersetzen …

Morgen werden zu alledem noch die Berichte über den Moskauer Prozess der SR kommen. Von jetzt an findet man bereits in jeder Nummer der „Golos Rossii", dem Berliner Organ Tschernows, mehr Lügen, als in allen vorangegangenen Werken ihres Chefredakteurs. So ist besonders der freiwillige Verzicht der drei russischen Sozialrevolutionäre auf ihre Reise nach Russland – ein Verzicht, der durch den unerwarteten Entschluss Vanderveldes, seiner Mission einen juristischen und nicht politischen Charakter zu verleihen, herbeigeführt wurde – in der „Golos Rossii'4 mit einem Wust von Lügen und Verleumdungen aufgemacht, die wir an dieser Stelle nicht wiedergeben, die jedoch Herrn Vandervelde, da er ja Übersetzer zu seiner Verfügung hat, vollkommen zugänglich sind. Dazu muss noch bemerkt werden, dass es selbst Tschernow nicht einfallen würde, die Rolle Vanderveldes in dem neutralen Lichte der Jurisprudenz zu betrachten, als ob es sich um einen beliebigen Prozess von Spekulanten handelte, die beim Diebstahl auf frischer Tat ertappt worden sind. Tschernow, der geistige Urheber von Mordanschlägen und von Aufständen während der ganzen fünf Jahre der Existenz der Sowjetmacht, spricht täglich von seiner Solidarität mit Vandervelde, Rosenfeld und Th. Liebknecht, und er spricht von der Solidarität Th. Liebknechts, Rosenfelds und Vanderveldes mit ihm, Tschernow, wie von einer Selbstverständlichkeit.

Das Organ Tschernows, des Verbündeten Vanderveldes, ist eine der trüben Informationsquellen der gesamten antikommunistischen Presse. Vandervelde wird seinerseits nach seiner Rückkehr nach Belgien – und, was noch wahrscheinlicher scheint, noch vor seiner Rückkehr – seine Kampagne gegen die Arbeiterrepublik, die ununterbrochen unter dem Druck des Weltkapitals zu leiden hat, mit doppelter Energie fortsetzen, indem er sich auf seine Autorität als neuester „Augenzeuge" stützt.

Auf diese Weise ist der „Waffenstillstand", der von Vandervelde und Konsorten gefordert wird, höchst begrenzter und einseitiger Natur: es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als darum, dass die „Prawda" Vandervelde nicht angreife, während die gesamte Weltpresse der Bourgeoisie und der Koalitionssozialisten, Vandervelde unterstützend, Sowjetrussland angreifen darf. Die „Times", „Le Temps", „Golos Rossii", der „Vorwärts", die „Freiheit", „Le Peuple" und die übrigen großen und kleinen Lügenpressen werden mit Volldampf arbeiten, indem sie versuchen werden, die Arbeiterrevolution wehrlos zu machen und zu entwaffnen, während sich ihre Feinde bis an die Zähne bewaffnen. Was aber die Sowjetpresse und besonders die „Prawda" anbelangt … sst! Ruhe! … stört nicht Vanderveldes reinste Gerechtigkeitsvisionen!

Wie soll man das altes, nun erklären?

Wir konstatierten bereits zu Anfang, dass der Wunsch der ausländischen Verteidiger in Bezug auf die Sowjetpresse überraschend unintelligent – wir wollen nicht sagen dumm – ist. Wir können nicht umhin, hinzuzufügen, dass diese Plumpheit auf keine Weise gemildert ist. Diese Plumpheit ist unverschämt und es fällt einem schwer, zu sagen, was darin das vorherrschende Element ist: ob Dummheit oder Unverschämtheit.

Nun, wir haben von der einwandfreien Art des Herrn Vandervelde bereits gesprochen. Man kann ihm ebenso wenig eine gewisse Begabung für formelle Analyse wie eine gewisse politische Erfahrung absprechen. Wie ist es also erklärlich, dass er sich entschlossen hat, uns – gewiss „nicht in der Form eines Ultimatums" – ein derart einfältiges, derart ungeheuerlich unbegründetes Verlangen zu stellen? Es kommt eben daher, dass diese Forderung im Grunde genommen weder eine einfache Erscheinung der persönlichen Strategie des Herrn Vandervelde, noch eine Frucht seiner juridischen Syllogismen darstellt. Nein, diese Forderung ist inspiriert durch die unverschämte Zuversicht der öffentlichen bürgerlichen Meinung, durch ihre unermüdlichen Anstrengungen und ihre triumphierende Unverfrorenheit. Wie oft ist es den herrschenden Klassen in kritischen Augenblicken ihrer Geschichte nicht schon gelungen, die sogenannten Arbeiterführer mit Hilfe der überwältigenden Wucht ihres Druckes, des keinen Widerspruch duldenden Hochmuts ihrer Forderungen, mit Hilfe des Terrors ihrer Lügen und Verleumdungen zu hypnotisieren, zu paralysieren und zu unterwerfen! Wir haben es anlässlich der beiden schwerwiegendsten Fragen der menschlichen Geschichte mit besonderer Deutlichkeit gesehen: des Krieges und der Revolution. Die betäubten koalitionssozialistischen „Führer" endeten nach einigen Augenblicken des Schwankens unfehlbar damit, dass sie sich auf ihre Hinterpfoten setzten und mit ihren Abgeordneten-, Rechtsanwalts- oder Ministerschwänzen wedelten. Die bürgerliche Öffentliche Meinung, dieser ungemein mächtige Hebel des Kapitals, kennt nur ein einziges Gesetz: alles bezwingen unterwerfen, jeden Widerstand brechen. Sie bemächtigt sich jeder ungeschützten oder schlecht verteidigten Position – einzig mit dem Ziele, unmittelbar nach ihrer Eroberung ihren Vormarsch fortzusetzen. Die Vandervelde, die Rosenfeld und Theodor Liebknecht sind bloß mehr oder minder wirkungsvolle Instrumente dieser ungemein mächtigen Gewalt. Sie ist es, diese bürgerliche öffentliche Meinung, die sie hierher sandte; und sie ist es, die ihnen diese neue und unverschämte Forderung zuflüsterte.

Warum haben wir aber im Allgemeinen Vandervelde und Konsorten zugelassen? Wir wissen doch ganz genau, dass Vandervelde in seiner Eigenschaft als Ex- und zukünftiger Justizminister nie daran denken würde, russische Kommunisten zur Verteidigung belgischer Arbeiter zuzulassen. Es leuchtet also ein, dass auch in dieser Frage weder von Gegenseitigkeit, noch von Gleichheit die Rede sein kann. Noch weniger haben wir Vandervelde aus Sympathie für seine Person zugelassen. Falls er darüber eventuell noch im Zweifel war, hat er die Gelegenheit gehabt, sich davon zu überzeugen. Uns bewogen politische Motive. Die antikommunistischen Internationalen stellen noch eine mächtige Tatsache dar. Ein bedeutender Teil der Arbeiter steht noch hinter ihnen. Diese Arbeiter werden Tag für Tag durch bürgerliche Lügen vergiftet, die sich in der „sozialistischen" Agitation widerspiegeln. Indem wir Vandervelde zulassen, machen wir der rückständigen Gesinnung dieser betrogenen Massen eine Konzession. Wir hoffen auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit auf gewisse wichtige Fragen der proletarischen Revolution zu lenken. Wir hoffen aus der Teilnahme Vanderveldes den Nutzen ziehen zu können, im Kampfe gegen Vandervelde wenigstens einem Teil der Massen, die ihm noch Vertrauen schenkend die Augen zu öffnen. Gleichzeitig aber – unabhängig von unseren taktischen Zielen und dem Grade ihrer künftigen Erfolge – ist die bürgerliche öffentliche Meinung berechtigt, die nackte Tatsache der Zulassung Vanderveldes zu dem Prozess als ihren Aktivposten zu verbuchen, weil die Zulassung zweifellos das Ergebnis der mit Hochdruck betriebenen Agitation ist, die vorher gegen Sowjetrussland geführt wurde. Wie ich aber soeben sagte, begnügt sich die bürgerliche öffentliche Meinung nie mit den erreichten Resultaten. Ihr feiner Klasseninstinkt sagt der Bourgeoisie, dass ihr Heil – besonders in der gegenwärtigen Zeit – einzig und allein in dem unaufhörlichen Druck liegt, der keine Grenzen kennt.

Und siehe da: weil wir, geleitet von unseren politischen Motiven, uns damit einverstanden erklärten, dass die uns feindlich gesinnten ausländischen Rechtsanwälte, die Verbündeten und Parteigenossen Tschernows, Götz' und anderer, an dem Prozess teilnähmen, beginnt die bürgerliche Presse, indem sie diesen Erfolg mit Genugtuung, zugleich aber mit dem Gefühl der Unruhe verbucht, das Ross der 2. Internationale mit verdreifachten Kräften zu peitschen: Sie haben gezögert, sie haben nachgegeben – treibt sie an, stellt eure Forderungen, nicht stehen bleiben, vorwärts …

Genua und Berlin – es sind bloß die beiden Flügel ein und derselben Front. Weil sie sahen, dass wir gewillt sind zu verhandeln und Konzessionen zu machen, versuchten sie in Genua, uns mit Gewalt unterzukriegen.

Dort war es Barthou, der dieser Taktik den extremsten Ausdruck verlieh. Aber der Versuch misslang Wir hielten uns gut —- und sogar ohne große Anstrengung.

Was Barthou in der Kampflinie der schweren Artillerie des kapitalistischen Imperialismus repräsentierte, dasselbe stellt Herr Vandervelde 'in der vordersten Linie der sozialpatriotischen Aufklärungstruppen dar. Der Rechtsanwalt Vandervelde ist ein Politiker, der seine politische Rolle zu verdecken sucht. Der Politiker Vandervelde ist bloß ein durchsichtiger Schatten Barthous. Wenn uns aber der wirkliche Drachen des Imperialismus nicht erschreckt hat, werden wir uns etwa vor einem Papierdrachen fürchten?

Da steckt der eigentliche Kern der Frage: die Strategie in Genua, wie die in Berlin war auf der Psychologie der „Sozialisten" aufgebaut, die vor der bürgerlichen öffentlichen Meinung in tödlicher Angst zittern. Die Bourgeoisie inspirierte Vanderveldes Methoden gegen uns, mit deren Hilfe sie sich Vandervelde selbst dienstbar machte. Sie hat nur vergessen, dass die russischen Kommunisten aus anderem Holz geschnitzt sind. Das ist überhaupt in all ihren Kombinationen in Bezug auf Sowjetrussland der Irrtum der Bourgeoisie, und darin irrt sich eben auch Herr Vandervelde. Wir sind aus anderem Holz. Man hat versucht, uns mit 150-Millimeter-Kanonen der englischen Kriegsschiffe, dann wieder mit der Kampagne der „empörten" öffentlichen Meinung der zivilisierten Menschheit und durch finanzielle Erpressungskünste zu terrorisieren; jetzt endlich ist man auf die kleinen juristischen Erpressungen gekommen. Das alles sind nur Glieder derselben Kette. Ihre allgemeine Richtung führt von der blutigen Tragödie zur Farce. Wir wissen, dass die Farce neue blutige Tragödien gebären kann … Doch das gilt für morgen. Der heutige Versuch aber, den Mund der russischen Kommunisten mit der zierlichen, mit Handschuhen bedeckten Faust der belgischen Justiz zu stopfen, ist nicht nur unangebracht, sondern auch im höchsten Maße lächerlich. Und wir lächeln darüber.

Setzen Sie Ihr Werk fort, Herr Vandervelde, zu dem man Sie hierher geschickt hat!

Und wir setzen unser Werk fort – das Werk, für das jetzt in Europa und in der ganzen Welt die Blüte der Arbeiterklasse kämpft und stirbt.

*Protokoll, S. 19

**„Sie werden sehen" – drohte uns Vandervelde in Berlin – „wie sich die Vertreter des Sozialismus in allen Grenzgebieten Russlands auflehnen werden, die Vertreter aus der Ukraine, aus Armenien, wo das Volk, seit zwanzig Jahren gemartert, nun in die Zange der Kemalistischen und der Roten Armee eingepresst ist; und wie schließlich die Vertreter Georgiens, die sozusagen eine Sektion der Internationale, unserer Internationale bilden, sich darüber, was sie – meiner Ansicht nach mit Recht – den bolschewistischen Imperialismus nennen, beklagen."

So ist Herr Vandervelde der unpolitische Rechtsanwalt nicht nur der SR, sondern auch der georgischen Menschewiki, der Daschnaken und der Petljura-Leute. Er unterstützt alle Feinde des russischen Proletariats, wo und wie er nur kann.

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