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Leo Trotzki 19220104 Ein Brief

Leo Trotzki: Ein Brief*

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 6 (14. Januar 1922), S. 50 f.]

[Der Inhalt dieses Briefes des Genossen Trotzki richtet sich an die Deutsche Partei. Weil aber die Angelegenheiten der Deutschen Partei von allgemeinem Interesse sind, veröffentlichen wir den Brief wörtlich an dieser Stelle.]

Lieber Genosse!

Sie schlagen mir vor, mich über die Politik der sogenannten Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG) zu äußern und berufen sich dabei darauf, dass Paul Levi, der Führer der KAG, meinen Namen missbraucht, indem er mich fast für einen ihm Gleichgesinnten ausgibt.

Ich muss aufrichtig beichten, dass ich nach dem 3. Kongress keinen einzigen Artikel von Levi gelesen habe, ebenso wie ich zu meinem größten Bedauern viele wichtigere Dinge nicht gelesen habe. Ich sah freilich in den Nummern von Levis Zeitschrift, insoweit sie mir in die Hände fielen, Auszüge aus meinem Vortrag auf dem Weltkongress Einige Genossen sagten mir auch, dass ich fast in Levis Gruppe eingetragen bin, wobei, wenn es sehr „Linke" und sehr junge Genossen taten, sie dies mit einem heiligen Schrecken berichteten; wenn es aber ernstere Leute waren, begnügten sie sich mit einem Scherz. Da ich mich unmöglich zu den sehr jungen (zu meinem Bedauern) und zu den sehr „Linken" (ohne Bedauern) rechnen kann, nahm ich diese Meldungen nicht sehr tragisch entgegen. Ich gestehe, dass ich auch jetzt keinen Grund für eine andere Einschätzung habe.

Im Grunde genommen schien es mir und scheint es auch jetzt, dass das, was auf dem Kongress in Moskau in Bezug auf Levi beschlossen wurde, genügend klar ist und keiner komplizierten Kommentare bedarf. Durch den Beschluss des Kongresses war Levi außerhalb der Kommunistischen Internationale gestellt. Dieser Beschluss wurde nicht gegen die russische Delegation, sondern im Gegenteil unter ihrer tätigen Mitwirkung gefasst, da es eben die russische Delegation war, die die Resolution zur Taktik formulierte. Die russische Delegation handelte, wie immer, unter der Leitung der Parteizentrale. Als Mitglied der Parteizentrale und ebenso als Mitglied der Delegation habe ich für die Resolution, die Levis Ausschluss aus der Internationale bestätigte, gestimmt. Ebenso wie unsere Parteizentrale sah ich keinen anderen Weg. Levi hat seinem Kampfe gegen die gröbsten theoretischen und praktischen Fehler, die mit den Märzaktionen verbunden waren, infolge seiner egozentristischen Einstellung einen so desorganisatorischen Charakter verliehen, dass den Anschwärzern aus den Reihen der Unabhängigen nur die Mühe blieb, Levi zu stützen, und ihm nachzuleiern. Levi stellte sich nicht nur in Gegensatz zu den Fehlern der Märzaktion, sondern zu der Partei und den Arbeitern, die diese Fehler begangen haben. Levi befürchtete, dass der Zug der Kommunistischen Partei an einer gefährlichen Böschung entgleisen wird und ist vor Furcht und Wut in eine solche Raserei geraten, hat solch eine „Taktik" der Rettung entfaltet, dass er selbst aus dem Fenster heraus flog und die Böschung herunter rollte Der Zug aber passierte, wenn auch nicht ohne schwere Stöße und Beschädigungen, ohne Entgleisung die Böschung.

Nach diesem Ereignis beschloss Levi, dass die Kommunistische Internationale ihres Namens sich unwürdig erweisen wird, wenn sie nicht die deutsche Kommunistische Partei zwingt, Levi wieder als ihren Führer aufzunehmen. Gerade in diesem Sinne war der Brief, den Levi an den Kongress schrieb. Wir konnten nur mit den Achseln zucken. Der Mann, der mit solch einer Empörung über die Diktatur von Moskau sprach, forderte, Moskau soll durch einen formalen Beschluss ihn der deutschen Kommunistischen Partei aufzwingen, aus deren Reihen er sich selbst mit erstaunlicher Energie heraus gedrängt hat.

Ich will nicht sagen, dass ich schon während des Kongresses Levi als unwiderruflich für die Kommunistische Internationale verloren rechnete. Ich kannte ihn zu wenig, um kategorisch meine Meinung in dieser oder jener Richtung zu äußern. Ich wollte aber hoffen, dass die grausame Lehre nicht spurlos an Levi vorübergehen und dass er früher oder später den Weg zur Partei zurückfinden würde. Als zwei Tage nach dem Kongress einer von den Genossen, die nach dem Ausland fuhren, mich fragte, was jetzt Levi und seinen Freunden zu tun bleibe, habe ich ungefähr folgendes geantwortet:

Ich fühle mich nicht berufen, Levi diese oder jene Ratschläge zu geben. Wenn er sich aber um Rat an mich gewandt hätte, hätte ich ihm vorgeschlagen, zu begreifen, dass der Ausschluss eines Vorsitzenden der Partei, der von einem Weltkongress bestätigt wurde, keine Tatsache ist, die durch hysterische Raserei gutzumachen wäre. Wenn Levi nicht die Absicht hat, sich in dem unabhängigen Sumpf zu ersäufen, muss er sich schweigend dem schweren, aber von ihm selber heraufbeschworenen Beschluss fügen und außerhalb der Partei als einfacher Soldat für die Partei solange arbeiten, bis sie ihm ihre Türe wieder öffnet."

Ich hatte um so weniger Gründe, mit irgend welchen besonderen Erklärungen in Bezug auf Levi hervorzutreten, da in dem Brief des Genossen Lenin an den Jenaer Parteitag der KPD voll und ganz der Standpunkt zum Ausdruck kam, den ich zusammen mit dem Genossen Lenin auf dem Weltkongress und nicht nur in seinen Plenarsitzungen, sondern besonders in den Kommissionen und Beratungen mit den einzelnen Delegationen verfochten habe. Der deutschen Delegation ist dies genügend bekannt. Als ich aber erfuhr – und dies geschah schon zwei bis drei Wochen nach dem Kongress – dass Levi, anstatt geduldig die Böschung heraufzuklettern, vorlaut zu erklären begann, dass man das Geleise der Partei und der ganzen Internationale gerade auf den Platz umlegen soll, wohin er, Paul Levi, gefallen ist, und als er begann, auf dieser egozentristischen Geschichtsphilosophie eine ganze „Partei" aufzubauen, war ich gezwungen, mir zu sagen, dass für die kommunistische Bewegung – so schade es auch sei – Levi endgültig erledigt ist.

Es muss aber gesagt werden, dass es einen Moment gab, wo ich die Absicht hatte, einige „Missverständnisse" über meine Position, die nicht nur von den Leviten, sondern auch von einigen „Linken" fabriziert worden sind, richtigzustellen. Dies war zur Zeit des Jenaer Parteitages. Ich erfuhr nicht ohne Überraschung, dass der Parteitag sich von irgendwelchen meiner Anschauungen, wenn auch in recht nebelhafter Weise, trennte, wobei er sich gleichzeitig voll und ganz mit den Resolutionen des 3. Kongresses solidarisierte, mit denen ich aber keine Meinungsverschiedenheiten hatte. Aber nach Überlegung hielt ich es nicht für notwendig. Schon auf dem Kongress selber versuchte eine Gruppe der „Linken", die die Internationale energisch zurecht gewiesen hatte, das Ausmaß ihres Rückzuges zu maskieren, indem sie sagte: „Wenn wir auch nach rechts gehen, so doch, Gott behüte, nicht bis zu der Stelle, wo Trotzki steht." Um dieses Ziel zu erreichen, haben die „linken" Strategen, die ich laut Pflicht des Parteidienstes auf dem Kongress einige Male betrübt habe, den Versuch gemacht, dass meine Stellung in irgend etwas, was sie allein erfassen können, „rechter" ist als die Stellung des 3. Kongresses, wie sie u. a. sich in meiner und des Genossen Varga Resolution über die ökonomische und internationale Lage äußerte. Dies war nicht leicht zu beweisen und niemand versuchte auch ernstlich, es zu tun. Die Zentrale unserer Partei korrigierte noch vor Eröffnung des Kongresses einige Linksschwenkungen** in unseren eigenen Reihen. Die Resolution zur internationalen Lage und zur Taktik war sorgfältig von unserer Zentrale redigiert worden. Unsere Moskauer Parteiorganisation, politisch und organisatorisch die stärkste, in der ich in zwei Vorträgen vor und nach dem Weltkongress die Stellungnahme unserer Zentrale in den Streitfragen des Kongresses verteidigt habe, billigte voll und ganz unseren Standpunkt. Meine beiden Moskauer Vorträge sind jetzt in deutscher Sprache in Form des Buches „Die neue Etappe" erschienen. Wenn einige „Linke" davon plappern, dass ich anerkenne oder zur Anerkennung dessen neige, dass der Kapitalismus sein Gleichgewicht hergestellt hat und dass deshalb die proletarische Revolution in eine nebelhafte Ferne rückt, kann ich wiederum nur mit den Achseln zucken: Man muss doch verständlicher denken und sich verständlicher äußern Unter diesen Umständen sah ich in der erwähnten Jenaer Resolution nur die letzten Spuren der Märzverwirrung und eine unschuldige Revanche der „Linken" für die strenge Lehre, die ihnen der 3. Weltkongress erteilte.

Zwei oder dreimal hatte ich in dieser Zeit Gelegenheit, mich, wenn auch flüchtig, mit den Artikeln des Genossen Maslow und seiner nächsten Gesinnungsgenossin zu beschäftigen. Ich weiß nicht, ob man auch über die den Stab brechen soll, d. h. ob man die Hoffnung aufgeben soll, dass diese Genossen irgend wann irgend etwas lernen. Es muss aber festgestellt werden, dass auf dem Kongress sie jedenfalls nichts gelernt haben. Es ist unmöglich, mit ihnen als Marxisten zu rechnen. Sie fassen die geschichtliche Theorie von Marx automatisch auf und ergänzen sie durch einen zügellosen revolutionären Subjektivismus. Solche Elemente schlagen bei der ersten Wendung der Ereignisse leicht ins Gegenteil um. Heute bekunden sie, dass die ökonomische Krise sich unvermeidlich und ohne Unterbrechung bis zur Diktatur des Proletariats vertiefen wird. Und morgen, wenn eine gewisse Besserung der ökonomischen Konjunktur ihnen einen Klapps versetzt, werden viele von ihnen zu Reformisten werden. Die Kommunistische Partei Deutschlands hat viel zu teuer die Lehren des März bezahlt, um, wenn auch in geschwächter Form, seine Wiederholung zuzulassen. Man muss aber stark bezweifeln, ob die „Linken" die Stimmungen bewahrt haben, mit denen sie selber zu den Märzkämpfen gingen und andere riefen. Sie haben hauptsächlich Vorurteile bewahrt und halten es für ihre Gewissenspflicht, die Phrasen vom März und den theoretischen Wirrwarr zu verteidigen. Durch ihre Beharrlichkeit hindern sie die deutschen Arbeiter, politisch zu lernen und dies darf nicht gestattet werden.

Nach dem, was sich nach der Tagung des Weltkongresses ereignet hat, hatte ich keinen Grund, mich über die Haltung Levis in der Frage der „Vorwärts"-Enthüllungen zu wundern. Die falschen taktischen Anschauungen, die in der Märzaktion "zutage traten, zogen natürlich bestimmte praktische Folgen nach sich. Die Falschheit der Taktik äußerte sich darin, dass eine ganze Reihe von ausgezeichneten Parteigenossen Fehler und Dummheiten machten. Der Kongress verurteilte die Fehler und zeichnete den richtigen Weg. Die Mehrheit und dabei die wertvollste Mehrheit der Genossen, die seinerzeit die Fehler machten oder sie billigten, fügte sich den Beschlüssen des Kongresses, und zwar nicht nur aus Zwang, sondern aus innerer Überzeugung Nachdem diese Gesundungs- und Erziehungsarbeit vollbracht ist, können nur diejenigen Dokumente (aus eigenen oder fremden Taschen, das ist gleich) heraus schleppen – Dokumente, die schon nichts Neues lehren können, die aber dafür die größte moralische Genugtuung den bürgerlichen und sozialdemokratischen Halunken verschaffen können –, die nicht nur politisch, sondern auch persönlich gesunken sind. Denselben Charakter der blinden Rache hat die verspätete Herausgabe durch Paul Levi der kritischen Broschüre Rosa Luxemburgs gegen den Bolschewismus. Wir alle hatten Gelegenheit, in diesen Jahren vieles zu klären und vieles zu lernen unter den unmittelbaren Schlägen der Ereignisse. Rosa Luxemburg machte diese geistige Arbeit langsamer durch, weil sie die Ereignisse von der Seite, aus der Tiefe der deutschen Gefängnisse beobachtete. Das heute veröffentlichte Manuskript charakterisiert nur eine bestimmte Etappe in ihrer geistigen Entwicklung und hat in diesem Sinne eine biographische und nicht theoretische Bedeutung. Seinerzeit bestand Levi darauf, dass diese Broschüre nicht publiziert wurde. Während der vier Jahre der russischen Revolution blieb das Manuskript unveröffentlicht. Aber als Levi die Kräfte und Bewegungen falsch bemessen hatte und aus dem Fenster des Parteiwagens die Böschung hinunterfiel, beschloss er, das alte Manuskript ebenso auszunützen, wie er „Enthüllungs"-Dokumente aus fremden Taschen ausgenützt hat. Damit hat er nur ein übriges Mal bestätigt, dass alle Dinge, positive wie negative, für ihn davon abhängig Bedeutung erhalten, in welcher Beziehung sie zu ihm, zu Paul Levi, stehen. Er selbst ist das Maß aller Dinge. Der furchtbare intellektuelle Egozentrismus von Levi ist die psychologische Voraussetzung zu seiner politischen Stellung zur KPD und zur gesamten Internationale.

Die von Levi geschaffene Organisation muss schon laut der Logik der Lage in ihre Reihen diejenigen locken, die zufällig in die Reihen der Kommunistischen Partei geraten sind, und die besonders nach der Märzaktion nur des ersten Vorwandes bedurften, um ihrer Wege zu gehen. Levi schafft auf dem Wege dieser müden Pilger eine Art kritischen Sanatoriums oder Erholungsheims. Das ist die KAG. Das deutsche Proletariat hat mit dieser Einrichtung nichts zu tun. Es hat seine revolutionäre Partei. Sie hat noch lange nicht alle ihre Wachstumskrankheiten überwunden. Ihr stehen noch schwere, nicht nur äußerliche, sondern auch innerliche Prüfungen bevor. Aber sie ist die wahre Partei der deutschen Arbeiterschaft. Sie wird wachsen und sich entwickeln. Sie wird siegen.

Moskau, 4. Januar 1922.

* Dieser Brief ist eine Antwort auf einen Brief, den ich über Levis Gruppe von Spaltern und Opportunisten von einem der ältesten Parteigenossen aus Deutschland erhalten habe.

** Die Linksschwenkungen bestanden darin, dass einige unserer Genossen sich nicht rechtzeitig darüber Rechenschaft gaben, welche Gefahr für die Entwicklung der proletarischen Revolution die avanturistisch-putschistischen Strömungen in der Kommunistischen Internationale selber bilden. L. T.

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