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Leo Trotzki 19220623 Illusion und Wirklichkeit

Leo Trotzki: Illusion und Wirklichkeit

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 121 (29. Juni 1922), S. 791 f.]

Die Altweiber der Advokatur und die verwaisten Parlamentarier versuchen offensichtlich, das Oberste Revolutionstribunal zu einem Provinzparlament zu erniedrigen, in dem sie der öffentlichen Meinung ihre – etwas zwar verschimmelten – Wunder ungestraft zum Besten geben können. Eine parlamentarische Opposition gibt bekanntlich von Zeit zu Zeit ihr Misstrauensvotum gegen die Regierung ab, um jenen den Weg zu bahnen, die an der Reihe sind. Die verwaisten Kadetten unter den Verteidigern (sie sind ja Menschewiki und SR.) haben beschlossen, dass nach der Demonstration des 20. Juni die Zeit gekommen sei, wo sie dem Tribunal ihr Misstrauen ausdrücken können. Der Anlass und die Gründe waren die möglichst geeigneten: Es haben ja Hunderttausende von Proletariern das Tribunal ihres Vertrauens versichert, kann denn so ein Tribunal das Vertrauen jener rechtskundigen Herren genießen, deren Rechtsempfinden von den Motten herangekommener Spitzfindigkeit schon längst zernagt worden ist? Wenn der Vorsitzende Senator während der Verhandlungspause zu Schtscheglowitow und Chwostow um Instruktionen lief, die ihrerseits ihre Instruktionen von Rasputin erhalten hatten, wagten die Herren Advokaten nicht nur nicht, ihrem Misstrauen Ausdruck zu geben, sondern neigten bei jedem Ausrufe des Vorsitzenden ihr Haupt auf das Pult und sagten gehorsam: „Zu Befehl“. Als aber das proletarische Gericht vor den Augen des ganzen Landes und der ganzen Welt offen auf das Podium trat, um durch die strengen und würdevollen Worte die Genossen Pjatakow dem Proletariat Unparteilichkeit den Angeklagten :und Schonungslosigkeit den Feinden gegenüber zu versprechen, erbebten alle juristischen Eingeweide in heiligem Unwillen. Darf man denn keine Frage, keine Interpellation, keine Deklaration, kein Misstrauensvotum vorbringen? Welche Manieriertheit liegt doch in dieser geistigen Schwäche.

Die bürgerliche und opportunistische Agitation um den Prozess ging überall von dem Standpunkte aus, dass über die SR die von dem Volke abgetrennte kommunistische Oligarchie urteilt.

Falls ein Gericht des nationalen Gewissens möglich wäre," – riefen die oktobristischen Kadetten und jene, die bei uns ihren Bauch unter der Sonne der neuen Wirtschaftspolitik behaglich wärmen – „könnten wir ein solches Gericht nur begrüßen,", O, selbstverständlich! – Und die Schuppentiere wedeln melancholisch mit ihren Schweifen.

Über wen urteilt man hier? fragte die Presse der 2. Internationale. Über eine Partei – war die Antwort die die werktätigen Massen vertritt. Und wer ist der Richter? Eine von den Massen getrennte Partei, die die Macht ergriffen hat.

Wir erkennen das Oberste Revolutionstribunal nicht an," waren die ersten Worte der Angeklagten, „da dieses doch ein Parteigericht, nicht aber ein Volksgericht ist", –.und die Scheitel und Kahlköpfe der Advokaten nickten zum Zeichen der Zustimmung. Seht, sie vertrauen nicht dem kommunistischen, nicht demokratischen, oligarchischen, von den Massen getrennten, volksfeindlichen Parteigericht!

O, ewige Altweiber der Demokratie! O, verwaiste Parlamentarier!

Und nun geschah es, dass das Volk, das wahre Volk – nicht jenes, von dem die lyrischen Proklamationen der SR mit großen Buchstaben schreiben, nicht jenes, das zum Aushängeschild der Phrasen und Überschriften der juristisch-demokratischen Lügen der Kadetten dient, sondern das wirkliche Volk – Proletarier und Proletarierfrauen der Fabriken und Betriebe zum Gerichte zogen; das Volk kam und sagte, dass dieses Gericht sein Gericht ist und das Wohl der Sowjetrepublik, des Volkes Wohl, sein höchstes Gesetz ist. Und darauf erklärte der Block der sozialrevolutionär-kadettischen Angeklagten und Verteidiger: Dieses Gericht hätte sich kompromittiert, da es mit den Werktätigen – die es geschaffen und denen es dient – sich in unmittelbare Verbindung gesetzt hatte. „Wir fordern ein anderes Gericht, da dieses durch die Berührung der kollektiven Hand des Proletariats befleckt worden ist."

Wir werden uns über die moralische Frechheit dieser Erklärung hinwegsetzen. Wir bleiben nur innerhalb der Grenzen der Politik, um so mehr, als diese Frechheit keine persönliche, sondern eine Klassenfrechheit darstellt. Sie entspringt der jenen Herren angeborenen Verachtung der Arbeiterklasse Ob diese Verachtung durch das aufrichtige bürgerliche Selbstgefühl, wie bei den Kadetten, oder durch den kleinbürgerlichen Sentimentalismus („Sozialismus"!), wie bei den SR verschönert wird, ändert nichts an der Sache. Die Demonstration des 20. Juni, ein äußerst wichtiges Ereignis, wobei die große Masse an den Schauplatz trat, zerriss das Netz der Konventionen, durch die die ausländischen und vaterländischen Rechtsgelehrten das Proletariergericht zu verwirren versuchten, und brachte ihre realen Kräfte und ihre wirkliche Stellungnahme zutage. Und das erste, was die Demonstration mit einer so großen Anschaulichkeit an den Tag legte, ist die organische tiefe Klassenfeindschaft der SR-menschewistischen Intelligenz zu den werktätigen Massen – eine Feindseligkeit, die zwar nicht selten mit schonen Reden bemäntelt wird, die aber dem Wesen nach immer zwischen Furcht und Verachtung schwankte. Und darauf ist die ganze Partei der SR aufgebaut. Die Philosophie der „kritisch eingestellten Autoritäten" stellte sich die Aufgabe, die Leitung der Geschichte diesen Intelligenzkreisen in die Hände zuspielen; der Terrorismus ist vollkommen begründet mit der Missachtung der revolutionären Kraft und Fähigkeiten der Masse, die sie durch den Heroismus der Bombenwerfer zu ersetzen suchen. Aus all dem folgt dann unmittelbar das Bündnis mit dem Fürsten Lwow, mit Miljukow, das Werben um die Gunst der Tereschtschenskij, da ja doch die Arbeiter unfähig sind, eine eigene Regierung zu stellen. Oder können und dürfen denn die werktätigen Massen wagen, jene Aufgabe zu erfüllen, die sogar (!) den gebildetsten, dazu noch mit den SR und Menschewisten verbündeten Advokaten der Kadetten so viel Mühe machte? Die in philanthropische Phrasen gehüllte Verachtung der Massen ist immer bereit, sich in Furcht vor den Massen umzuwandeln; dies ist auch das Wesen der SR-Partei. Das Benehmen der Angeklagten (selbstverständlich sprechen wir hier immer nur von der Gruppe Goz) ist nichts anderes, als die Fortsetzung der Politik der führenden Parteikreise seit dem ersten Tage der Existenz der Partei. Die Angeklagten sind konsequent, nicht in jenem Sinne des Wortes, als ob sie irgend welche Grundsätze während der Geschichte der letzten Jahrzehnte durchgeführt hätten und mit diesem ideellen Kapital auf dem Podium des Proletariergerichtes aufgetreten wären. Nein, sie sind konsequent, nicht im Gebiete der Ideen – hier können sie bloß Splitter und Scherben aufweisen – sondern im Gebiete der unterbewussten und halbbewussten Klassengefühle und Klassenstimmungen. Sie brachten im Laufe der Ereignisse der größten Jahrzehnte der Geschichte die schwankende Natur der gebildeten oder halbgebildeten Kleinbürger mit, die die Geschichte mit sich selbst verwechseln, der Geschichte Vertrauens- und Misstrauensvoten bringen und deshalb bereit sind, auch dem Proletariat ihr herablassendes Mitgefühl auszudrücken, unter der Bedingung jedoch, dass das Proletariat sie nicht hindere, sich auf dieses zu berufen.

Das Proletariat aber gewährte es nicht. Tag um Tag erklären immer wieder die Angeklagten, und ihre Presse wiederholt dies überall, dass die Sowjetrevolution aus der Vergewaltigung der Massen geboren wurde und mittels ihrer Vergewaltigung aufrecht erhalten wird. Die Masse sollen sie, die SR, sein. Die machtvolle, organische, werktätige, unverletzliche Demokratie der SR wurde durch den Oktoberbesen in kaum vierundzwanzig Stunden weggefegt. Wodurch? Durch nichts anderes, als durch eine organisierte Gewalttat der Minderheit! Die Mehrheit, müsst Ihr wissen, ist immer hinter den „kritisch eingestellten Autoritäten" der schwankenden Kleinbürgerschaft, die sich mit dem historischen Namen der revolutionären Intelligenz schmückt. Während einiger Jahre hat der wild gewordene Kleinbürger im Verein mit seinem ständigen Beschützer, mit der ausländischen und russischen Großbourgeoisie einen erbitterten, blutigen Kampf gegen die Sowjetrepublik geführt. Er, der Kleinbürger, nahm sich vor, die Massen aus mit ausländischem Golde gekauften Dynamit „von ihren Feinden zu befreien" Die Geschichte hat ihn mit dieser Mission betraut. Er hat hierzu ein ständiges und unbestreitbares Mandat. Wieso konnte die Sowjetmacht doch mit dieser Brüderschaft der Intelligenz und Börse abrechnen? Sehr einfach: Organisierte Vergewaltigung, Oligarchie, Terror. In den Tagen der Oktober-Revolution war die Arbeitermasse zweifelsohne ,,gegen die Bolschewiki" Und dann? Und dann zwangen die Bolschewiki die Arbeitermasse mittels Terror die Bolschewiki zu unterstützen. Was nennen denn die SR eine Arbeitermasse? Ein formloses Etwas, das aus sich alles beliebige machen lässt. Die Bolschewiki formen sie auf bolschewistische Art. Und falls die Macht die SR inne haben würden, würde sie SRistische Formen annehmen. Nun, die Macht war ja doch in ihren Händen …?

Und. wie sieht es mit den Demonstrationen am 1. Mai in Moskau, Petrograd, Kiew, Charkow, in ganz Russland, mit diesem beispiellosen Aufzug von werktätigen Millionen unter den roten Flaggen? In der Presse der SR und der Kadetten könnt ihr die Erklärung linden, die ihr im Gerichtssaale nicht selten gehört habt ,sie wurden gezwungen"! Die Bolschewiki zwangen mittels Terror Millionen von Proletariern und Bauern, für die Sowjetmacht zu demonstrieren. Wenn die Rotgardisten „Hurra" schreien, so tun sie es unter Terror. Wenn die Arbeiter unter den roten Fahnen revolutionäre Lieder singen, so werden sie hierzu mit Schlägen getrieben. Als Millionen von Arbeitern und Bauern die Sowjetrepublik vor den SR-bürgerlichen Feinden schützten und wenn Zehntausende von ihnen auf dem Schlachtfelde fielen, wenn in der Mitte des Landes die Bevölkerung durch Hungerqualen heimgesucht wird, duldet und erträgt, – so geschieht dies alles aus Furcht vor den Bolschewiki. Was ist denn die Arbeitermasse in den Augen der hin und her schwankenden Altweiber der Demokratie und der Vermähltendes Parlamentarismus? Eine dunkle willenlose Herde. Wer die Rute in der Hand, hat, der kann ihr auch befehlen. So schätzen sie das Proletariat ein. Dies ist keine theoretische, sondern eine organische, unterbewusste Klasseneinstellung. Sie forderten in ihren Proklamationen das Proletariat auf, an der Demonstration nicht teilzunehmen, doch es nahm teil. Weshalb? Aus Furcht. Dasselbe Proletariat, das Romanow, Miljukow und Tschernow stürzte! Ihr lügt, meine Herren! sagten die Werktätigen von Moskau und Petrograd am 20. Juni. – Wir sind hier und wir waren es, die die Oktoberrevolution vollbracht haben; wir waren es, die gegen Euch und Eure Zuhälter an den Fronten gekämpft haben; wir und unsere Kinder mussten die Qualen ertragen, die Ihr uns auferlegt hattet; und dieses Land ist unser Land, da wir es für uns erkämpft haben; und dieses Gericht ist unser Gericht, da wir es geschaffen haben; und da Ihr unsere Feinde seid, wird dieses Gericht über Euch urteilen und Euch bestrafen!

Dies war der Inhalt der Demonstration vom 20. Juni. Und mit diesen Worten trat sie auch in der Tat an jene schwankenden und redseligen Herren heran, die sich Illusionen hingaben und meinten, dass durch ihre Sophismen die Tatsachen geändert und ungeschehen gemacht werden könnten und dass der Westenausschnitt von Vandervelde schon an sich ein vollartiges Argument sein würde. Aber Vandervelde kam und Vandervelde ging. Das Proletariat aber blieb. Und dieses Proletariat war es, das diesen Staat gründete und dieser Staat, der sie auf die Angeklagtenbank setzte, ist nichts anderes als das Proletariat selbst.

Sie wiegten sich – sagten wir – in kindische Illusionen ein. Das Wort „sie wiegten sich ein" ruft uns ein Bild ihres Verhaltens vor dem „exterritorialen" Gerichte in die Erinnerung. Über die Schulter der Justiz war ein Brett geworfen: an dem einen Ende steht der Ankläger, am anderen die Verteidigung und sie bringen mit ihren nacheinander folgenden Argumenten das Brett in Schwung, wiegen und schaukeln sich im Nebel ihrer eigenen Argumente ein. Es kam aber der „Zauberer" und berührte mit seinem Finger jenes Ende des Brettes, wo die Anklage stand. Und auf einmal verlor die Verteidigung das Gleichgewicht machte hoch in der Luft unästhetische Purzelbäume, und als ob sie am Ende des Brettes hängen geblieben wäre, dachte sie lange nach, bevor sie sich zu erklären entschloss, dass der schwerwiegende Finger des Proletariats nicht auf das Konto ihrer Rechnung kam.

Ja, ihre ganze Rechnung war doch vom Anfang bis zum Ende falsch. Sie wollten die Rechnung ohne den Wirt machen, indem sie an seiner – des Schreibunkundigen – Stelle unterzeichnen wollten. Der Wirt ist aber ein strenger Wirt, er ließ von sich am 20. Juni sprechen. War es vielleicht unangenehm, in seine Augen zu schauen? Forschet nicht! Ihr hättet Euch nicht an Noulens verkaufen sollen! Ihr hättet nicht die Junker auf die Arbeiter hetzen sollen! Ihr hättet Wolodarski und Uritzki nicht ermorden sollen Da wäre es weniger unangenehm gewesen, dem Proletariat in die Augen zu schauen. Habt Ihr gestohlen, so versteht auch, Euren Rücken herzuhalten.

Und die Altweiber-Advokaten, die, sich auf die durch ihre bürgerliche Praxis erworbenen Erfahrungen stützend, nun dem revolutionären Gerichte die Marschroute vorschreiben wollen, bewiesen nun, dass ihnen unter anderem auch das Verständnis für das Komische fehlt. Ja, auch das Proletariat hat jetzt keine Zeit zum Lachen und wir sind auch nicht zum Lachen aufgelegt. Aber es muss angenommen werden, dass die Erschütterung des 20. Juni das richtige Verhältnis wieder herstellen wird. Die Anklage wird im Namen des auf seinem Posten stehenden Proletariats sprechen. Die Angeklagten werden auf der Bank der Angeklagten sitzen und für ihre Taten Rechenschaft geben. Und die liberalen Advokaten werden in ihrem Register dieselben Töne finden, mit denen sie dem zaristischen Kraschtschenikow geantwortet haben: „Zu Befehl!"

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