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Leo Trotzki 19220426 Jewgraf Alexandrowitsch Litkens

Leo Trotzki: Jewgraf Alexandrowitsch Litkens

Ein Nachruf

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 61 (6. Mai 1922), S. 477 f.]

Noch vor drei Tagen sprach ich mit A. A. Litkens, dem Vater des jetzt toten Jewgraf Alexandrowitsch, ob noch eine Hoffnung vorhanden sei, dass sein Sohn noch lebe und sich bloß bei einer Räuberbande in Gefangenschaft befinde. Eine solche Hoffnung war anscheinend vorhanden: Es hatte keinen Sinn, ihn auszurauben und zu ermorden, da er niemals etwas Wertvolles trug bzw. bei sich hatte. Man glaubte, dass die Banditen ihn gefangengenommen hatten, um ein Lösegeld zu bekommen. A. A. Litkens bereitete sich für eine Erkundigungsreise nach der Krim vor. Ich erkundigte mich mehrmals bei dem Genossen Frunse. Von Stunde zu Stunde erwarteten wir irgendeine tröstende Nachricht oder mindestens ein Zeichen … Statt dessen aber kam die Nachricht, dass Jewgraf Alexandrowitsch ermordet und sein Körper gefunden worden sei. Wir sind um einen wertvollen Arbeiter und herrlichen Genossen ärmer geworden.

Am Anfang des Jahres 1905, als ich illegal in Petersburg arbeitete, kam ich in nahe Beziehungen zu Jewgraf Alexandrowitsch, damals Granja genannt. Durch L. B. Krassin lernte ich die Familie Weras Alexandrowna Arestowa und A. A. Litkens, damals Oberarzt der Konstantinowskij Artillerieschule, kennen und kam in nahe Beziehungen zu ihr. In ihrer Wohnung in der Sabalkanskijgasse, im Schulgebäude, hielt ich mich in den unruhigen Tagen und Nächten des Jahres 1905 mehrmals versteckt. Mir und Krassin diente diese Wohnung auch für Parteizwecke. In die Wohnung des Oberarztes kamen manchmal Typen, die der Hof der Konstantinowskijschule und ihre Treppen wohl niemals gesehen haben. Nur der Portier sah diese. Da aber das untere Dienstpersonal den Oberarzt sehr gerne hatte, kamen keine Denunziationen vor, und alles lief gut ab. Ich lernte die beiden Brüder Sanja und Granja kennen und kam in nahe Beziehungen zu ihnen, obgleich ich um 8 bzw. 10 Jahre älter war als sie. Sanja, damals 18-jähriger Student, gehörte schon formell der Bolschewikipartei an, arbeitete viel, brannte ganz und verbrannte schnell. Am Jahresende kam er in das Gouvernement Orjel, entwickelte dort eine ungemein breite und kühne Agitation unter der Bauernschaft, gewann ungeheure Popularität in einigen Kreisen und wurde in einigen Wochen zu einem legendären Helden. Er wurde später verhaftet und erkrankte schwer im Gefängnis. Der junge Organismus hielt die ungeheuer großen Erschütterungen nicht aus, und Sanja starb mit 19 Jahren.

Granja war um 1 oder 1½ Jahre jünger. Damals war er noch Gymnasiast, Er war vorsichtiger, kritischer, aber nicht minder selbstaufopfernd als sein Bruder. Soweit ich mich erinnere, gehörte er damals der Parteiorganisation noch nicht an, aber er widmete seine gesamten jungen Kräfte der Revolution. In der Illegalität wird jede Handlung, sogar die geringste, nur um den Preis größter Bemühungen und der Überwindung unzähliger Reibungen und Hindernisse vollbracht. Für solche Aufgaben bedarf man der selbstaufopfernden, namenlos heldenhaften Jugend. Granja war ihr bester Vertreter. Er machte alles Notwendige ohne Fragen, ohne Ansprüche, fest und klar.

Ich erinnere mich noch, dass dieser Jüngling, kaum den Kinderschuhen entwachsen, mit eckigen Manieren des Pubertätsalters und noch nicht entwickelter Männerstimme, zärtlich und rührend kleine Kinder liebte: in freier Zeit pflegte er sie wie eine gute Amme. Diese Kombination der schüchternen und treuen Zärtlichkeit mit einer gewissen äußeren Strenge und kalter Klarheit der Gedanken und der Handlungen blieb durch sein ganzes, leider so kurzes Leben einer seiner wesentlichsten Zuge.

Im Jahre 1907, nach der Flucht aus Sibirien, auf der Durchreise, besuchte ich sie in der Sabalkanskijgasse. Sanja war damals schon tot. Granja war Student, arbeitete viel, blieb aber seiner revolutionären Vergangenheit treu. In jener Zeit aber war dies bei vielen nicht der Fall.

Später begann für mich die Emigration, und ich habe den Granja aus dem Gesichtsfelde verloren. In erster Zeit korrespondierte ich noch mit seiner Familie, später schlief auch die Korrespondenz ein ... .

Wir begegneten uns von neuem im Jahre 1917. Ei war damals schon Advokaturskandidat. Im ersten Augenblick habe ich ihn nicht erkannt. Als ich aber ihn genauer anschaute, habe ich Granja, der einst mich, als ich in der Wohnung seiner Familie krank lag, wie einen jungen Bruder pflegte, an seinen hellen klaren Augen und seinem Lächeln erkannt. Wir haben viel über die Jahre, die uns getrennt haben, miteinander gesprochen, obgleich wir nur in Pausen zwischen den Kongress- und Fraktionssitzungen bzw. den Meetings sprechen konnten. Jewgraf Alexandrowitsch behandelte damals vorsichtig die Grundfrage der Revolution: ob sie eine bürgerliche oder eine sozialistische Revolution sei. Obgleich Jewgraf Alexandrowitsch die Mitarbeit der Menschewiki mit der Bourgeoisie und ihr Lakaientum dieser gegenüber verachtete, obgleich alles ihn zu den Bolschewiki zog, mit denen er durch seine ganze Vergangenheit verbunden war, schwankte er in der Frage der Beurteilung der Aussichten auf den wirklichen sozialen Umsturz mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Rückschrittlichkeit und auf den wirtschaftlichen Ruin Russlands. Dafür aber ist er in jener Periode über eine andere Frage sich vollkommen klar geworden, nämlich über die Notwendigkeit des Verlassens der höllischen Kriegssphäre zur Revolutionsrettung, sei es auch um den Preis eines Separatfriedens mit Deutschland. Und damals, im Mai-Juni 1917 wurde der Gedanke des Separatfriedens überall, sogar auf dem äußersten linken revolutionären Flügel, entrüstet abgelehnt.

Die Arbeit von Litkens verlief im Jahre 1917 außerhalb Petrograds. Später, als das Partei- und Regierungszentrum nach Moskau verlegt wurde, war Litkens, glaube ich, nicht mehr in Moskau. Auf diese Weise sahen wir uns bis zu den Jahren 1920-21 bloß zufällig und nur auf eine kurze Zeit, aber jede Begegnung war für uns eine große Freude. Die Arbeit Litkens in der Armee, der, wie stets, sehr energisch und, soweit ich weiß, erfolgreich arbeitete, konnte ich nur von ferne und auf Grund der Akten verfolgen. Nachdem Litkens zur zentralen Arbeit in Moskau übergegangen war, begegneten wir uns öfter. Die ihm übertragene große administrativ-organisatorische Aufgabe, deren objektive und subjektive Schwierigkeiten er deutlich erkannte, behandelte er mit höchstem Ernst. In seinem abgetragenen Soldatenmantel, in seiner alten Militärkappe kam er öfter in der ersten Periode seiner Tätigkeit mit Zeichnungen, Schemas und Vorschlägen zu mir. Da ich diesen Sachen fern stehe, kann ich nicht beurteilen, ob diese Schemas und Pläne richtig waren oder nicht. Ich denke, dass vieles, und zwar das Wesentlichste, richtig war. Sein bestechendster und anziehendster Zug war das Bestreben, dass die Arbeit klar und genau gemacht wird. Das sind eben Eigenschaften, die unserer Arbeit fehlen. Als leidenschaftlichster Revolutionär bekämpfte er trotzdem aufs Heftigste das Bestreben, die klaren, systematischen Arbeitsmethoden durch die revolutionäre Improvisation, vor allem aber durch das unverantwortlichste Dilettantentum zu ersetzen. Solche Arbeiter benötigen wir vor allem. Nur sie können das Chaos auf allen Gebieten überwinden. Solche Arbeiter handeln nicht planlos in der Hoffnung, dass doch etwas dabei herauskommt, sondern suchen nach einem System und arbeiten es heraus, schaffen eine Schule und erziehen nach den Methoden derselben. Ohne Schulung, ohne ein System, ohne die Gewohnheiten, ohne die Traditionen der genauen Arbeit kann man nicht eine sozialistische Organisation der Aufklärung und noch weniger eine sozialistische Gesellschaft mit hoher Kultur schaffen.

Und Jewgraf Litkens ist nicht mehr da: er brach zusammen, erkrankte, fuhr nach Jalta zur Erholung, wurde von einer Banditenkugel getroffen und starb. Er war wahrscheinlich nur 34 Jahre alt. Wir haben in diesen Jahren vieles zu ertragen gelernt. Darunter auch den Verlust von Freunden. Trotzdem will man nicht glauben, dass Jewgraf Alexandrowitsch ermordet ist, dass unser lieber Genosse Granja nicht mehr unter uns weilt.

Am 26. April 1922.

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