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Leo Trotzki 19220302 Lage der Arbeiterbewegung in Frankreich

Leo Trotzki: Lage der Arbeiterbewegung in Frankreich

[Nach Die Taktik der Kommunistischen Internationale gegen die Offensive des Kapitals. Bericht über die Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 24. Februar bis 4. März 1922, S. 136-139)

Die zum Studium der französischen Frage gewählte Kommission ist zu einem einstimmigen Beschluss gelangt. Diese Einstimmigkeit hat eine politische Bedeutung, denn es galt, eine allgemeine Lösung für die gegenwärtige Krise zu finden.

Die französische Partei entwickelte sich in einer ereignisvollen Periode. Der Kongress von Tours brachte die Spaltung mit den Reformisten, die formell die Verantwortung für diese Spaltung tragen, denn sie haben die Partei verlassen. Aber die politische Verantwortung dieser Spaltung tragen wir. Der Kongress von Tours bedeutete, dass das französische Proletariat im Prinzip und in der Organisation seinen Willen zur Revolution kundgibt. Aber es bleibt ein großes Problem, nämlich: ein dieser veränderten Lage gewachsenes Werkzeug zu schaffen.

Der Marseiller Vertrag war eine 2. Etappe der revolutionären Bewegung Frankreichs. Der Marseiller Kongress hat die Fragen im kommunistischen Sinne entschieden, und dennoch tauchte auf diesem selben Kongress eine Organisationsfrage auf, und man debattierte über die Frage, ob die Krise ideeller oder persönlicher Natur sei.

Genosse Soutif wird uns behilflich sein, durch einige seiner auf dem Marseiller Kongress gesprochenen Worte die Lage zu beleuchten. Laut dem Bericht der “Humanité” sagte er wie folgt:

Der Redner behauptet, dass sich seit Tours gewisse Tendenzen gebildet haben, die uns aber nicht zu beunruhigen brauchen, da sie die Lebendigkeit der Partei kundgeben. Übrigens bestehen diese Tendenzen in der Kommunistischen Internationale. Hier wie dort gibt es einen rechten Opportunismus und ein Zentrum.”

Meiner Ansicht nach müsste man diese Behauptung des Genossen Soutif dahin berichtigen, dass die bloße Tatsache des Bestehens der Tendenzen als solche noch nicht die Lebensfähigkeit der Partei beweist. Es liegt in der Natur der Sache, dass nach dem Kongress von Tours die reformistischen Tendenzen und Nuancen keinen genügenden Spielraum innerhalb der KPF finden können. Im Schoß einer revolutionären Partei zeigt sich der Opportunismus immer zuerst als kleine Wolke, als kleiner Fleck. Wenn er keinen Widerstand findet, entwickelt er sich wie ein Ölfleck und kann zur ernsthaften Gefahr werden. Wir können feststellen, dass die Rechte in der KPF nur eine im Entstehen begriffene Tendenz oder, wenn man will, ihr Wiederaufleben bedeutet. Sie gibt sich in einigen Fragen kund, besonders in der Frage des Militarismus. So greift man den Genossen Cachin an, weil er die Bewaffnung des Arbeitervolkes forderte.

Hier ist z. B. ein Artikel, der in der “Internationale” veröffentlicht worden ist:

Ausgezeichnete Genossen wundern sich, dass eine gewisse Anzahl von uns dem alten Antimilitarismus von ehemals treu bleibt und gegen jedes Rüstungssystem absolute und unerbittliche Opposition macht.”

Um welchen Militarismus handelt es sich hier? „Denn es gibt nicht zwei Militarismen,” fährt unser Autor fort, „es gibt nur einen.” So verabscheut ein Mitglied unserer Partei – ich meine den Genossen Raoul Verfeuil – den Militarismus, welches auch die Färbung sei, die man ihm gibt, denn er verneine die Persönlichkeit. Genossen, glauben Sie mir, dass ich hier nicht als Verteidiger der Roten Armee spreche. Wenn es sich darum handelte, diese oder den zurzeit bestehenden „russischen Militarismus” oder den „Roten Militarismus” gegen den Artikel der „Internationale” zu verteidigen, so könnte man wohl behaupten, dass solche Artikel in der „Internationale” in Paris ungefährlich seien, falls das französische Proletariat die Revolution bereits vollzogen und befestigt hätte.

Unglücklicherweise ist das aber nicht der Fall.

Und dann noch ein entscheidendes Argument: „Man wirft uns vor, dass wir, um Revolution zu machen, der Armee bedürfen. Die Revolution wäre noch viel leichter zu machen, wenn keine Armee bestände.” (Andauernde Heiterkeit.)

Dadurch ist der Gegner entwaffnet. Dieses Argument lähmt den Widerstand! Wir sagen und wiederholen, dass die einzige Möglichkeit der Beteiligung des Proletariats darin liegt, der Bourgeoisie die Macht zu entreißen, indem man die Bourgeoisie entwaffnet und sich selbst bewaffnet. Unzweifelhaft besteht die von der Partei zu leistende Erziehung in dieser Vorbereitungsarbeit darin, dem Proletariat begreiflich zu machen, dass es die Bourgeoisie nur durch revolutionäre Gewalt besiegen kann. Glauben denn unsere Genossen Méric und Verfeuil, dass das französische Proletariat eine Ausnahme von dieser revolutionären Gewaltanwendung gegen die Bourgeoisie bildet? Wir müssen dem Proletariat beweisen, dass die Gewalt der Bourgeoisie nur durch die Gewalt – durch unsere Gewalt – bezwungen werden kann, dass wir Vorbereitungen treffen müssen, wenn wir den Sieg wünschen. Man muss die Mittel wollen, und die Mittel sind die revolutionäre Gewalt.

Als ich diese Artikel las, sah ich zufällig die Beschlüsse des Anarchistenkongresses, worin es wörtlich heißt:

Die Anarchisten wollen nicht die Macht, sie bleiben die Feinde jeglicher Diktatur, welcher Art sie auch sei, ob sie von rechts oder von links, von der Bourgeoisie oder vom Proletariat ausgehe; sie bleiben die Feinde des Militarismus, in welchem Gewande er sich auch zeige, in dem der Bourgeoisie, oder in dem des Proletariats.” Das ist ganz dieselbe Ideologie.

Ich möchte noch unsern Genossen Georges Pioch zitieren. Auf dem Kongress der Partei führte er folgendes aus:

Die Völker bekämpfen sich nicht nur im eigenen Interesse. Sie erklären sich den Krieg, und dessen entfesselte Leidenschaften bewirken dessen Dauer. Wenn sie diese Wahrheiten verkennen, werden sie eine Gesellschaft schaffen, aus der der Krieg nicht verbannt sein wird.”

Somit ist der Krieg nicht ein Ergebnis des gesellschaftlichen Aufbaus, sondern ein psychologisches Phänomen. Er entfesselt die Leidenschaften, der Mensch muss so erzogen werden, dass die Gesellschaft keine Kriege erzeugen kann.

Um zum Schluss zu kommen, – und dieser Satz ist der fürchterlichste: „Was das Desertieren anbelangt, so kann der Redner weder dazu raten, noch davon abraten. Das ist eine Gewissenssache. Was die Zellenbildung in der Armee betrifft, so hält er sie für einen gefährlichen Sophismus.”

Diese Rede wurde auf dem Kongress der Kommunistischen Partei gehalten.

Genosse Pioch ist ein vorzüglicher Dichter und Schriftsteller, den wir achten. Aber er ist Sekretär der Seine-Föderation, der bedeutendsten Föderation der Partei. Ich frage mich: Welchen Widerhall werden diese Reden in den Hirnen unserer kommunistischen oder halb kommunistischen Arbeiterjugend finden, wenn man ihr sagt, dass die Gewalt, der Aufstand, das Blutvergießen, keine kommunistischen Prinzipien sind?!

Auffassungen, wie die soeben betrachtete, sind nur geeignet. die völligste Verwirrung in den Köpfen der Jugendorganisation zu stiften, und das wurde schon von allen Genossen der französischen Delegation anerkannt. Unser Genosse Pioch meint sogar, dass das Wort „Disziplin” als militärischer Ausdruck für immer aus der kommunistischen Welt ausgemerzt werden müsse.

Die Kommission hat konstatiert, dass keine stark fühlbaren Differenzen zwischen der Majorität der Partei, wie sie sich nach dem Marseiller Kongress gebildet hatte, und der Gruppe, die wir – um dem Kind einen Namen zu geben – die „mehr nach links neigende Tendenz” benennen wollen, bestehen.

Wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, so waren es eher Schattierungen. Die Spaltung ist immer eine schmerzliche Prozedur, was immer auch der Anlass zu ihr sei. Unsere französische Partei erklärt entschieden, dass sie dem französischen Proletariat niemals dieses Schauspiel bieten werde – niemals. Die Tendenz, um die es sich handelt, ist noch sehr unbestimmt, aber in dem Maße, wie sie sich herauskristallisiert, wird sie ohne den geringsten Verzug aus der Partei entfernt werden müssen. Und da die Partei durch die Delegation ihrer leitenden Komitees ihren Wunsch bestätigt, in keiner Weise derartige Situationen aufkommen zu lassen, so besteht keine Möglichkeit und kein Grund, innerhalb der Partei Fraktionen zu schaffen.

Die Kommission legt Ihnen einen Beschluss vor, der das Endergebnis ihrer Arbeit ist und der, wie wir hoffen, unserer Kommunistischen Partei in Frankreich behilflich sein wird, die jetzige Krise in kürzester Frist zu überwinden.

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