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Leo Trotzki 19220226 Redebeitrag zu Sinowjews Referat über die Einheitsfront

Leo Trotzki: Redebeitrag zu Sinowjews Referat über die Einheitsfront auf der Sitzung der Erweiterten Exekutive der Komintern

[Nach Die Taktik der Kommunistischen Internationale gegen die Offensive des Kapitals. Bericht über die Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 24. Februar bis 4. März 1922, S. 78-83]

Trotzki: Ich bin mit Genossen Radek vollkommen einverstanden, dass die Rede des Genossen Terracini nichts anderes war als eine neue, und ich muss gestehen, nicht ganz verbesserte Auflage der Einwände, die er seinerzeit gegen einige Thesen des 3. Kongresses vorgebracht hat. Die Lage hat sich aber seitdem geändert. Genosse Terracini sagte: „Wir sind selbstverständlich für die Massenaktion und für die Eroberung der Massen.” Gewiss, aber wir sind bereits in einem fortgeschrittenen Stadium, wir diskutieren jetzt über die Methoden, wie diese Eroberung und Aktion vor sich gehen soll. Wir haben auf dem 3. Kongress die Tendenzen bekämpft, die zu vorzeitigen Aktionen führen könnten. Heute finden wir wieder dieselben Tendenzen, doch kommen sie in einer anderen Form zum Ausdruck, in der Gefahr einer negativen Haltung. Wir haben auf dem 3. Kongress festgestellt, dass wir am Anfang einer neuen Etappe stehen. Die Bourgeoisie hat das Gleichgewicht und die Stabilität nicht wieder gefunden, doch hat sie eine Art von Scheinstabilität angenommen. Nach den Jahren 1919/1920 hat sich die revolutionäre Stimmung der großen Masse in die der Erwartung verwandelt. Jetzt muss uns am meisten beschäftigen, wie wir die Massen gewinnen können. Von diesem Standpunkt aus sind die Parteien in drei große Gruppen zu teilen:

Zur ersten Klasse gehören die Parteien jener Länder, wo die kommunistischen Parteien noch um ihren Platz in der proletarischen Front kämpfen müssen: England, Belgien; zweitens als Gegenteil Bulgarien, wo die Kommunistische Partei schon die absolute Herrschaft hat. Es ist klar, dass in einer solchen Lage die Frage der Einheitsfront fast gar nicht existiert. Drittens steht zwischen diesen beiden Extremen die große Mehrheit der Parteien. Und gerade in den Ländern, wo die Kommunistische Partei eine Fraktion der organisierten Avantgarde des Proletariats ist, taucht die Frage der Einheitsfront auf.

Wir wissen nicht, wann der Augenblick der Eroberung der Macht eintreten wird. Vielleicht in sechs Monaten, vielleicht in sechs Jahren. Ich frage die Genossen Terracini und Renoult: Soll der Kampf des Proletariats stillstehen bis zu dem Moment, wo die KP in der Lage sein wird, die. Macht zu ergreifen? Nein, dieser Kampf geht weiter. Die Arbeiter, die außerhalb unserer Partei stehen, begreifen nicht den Grund, warum wir von den Sozialisten usw. geschieden sind. Sie sagen sich: „Mögen uns diese Organisationen oder Sekten die Möglichkeit geben, den Kampf für unsere Tagesnöte zu führen!“ Wir können ihnen nicht sagen: „Wir haben uns getrennt, um Euer großes Übermorgen vorzubereiten.” Da kommt die Kommunistische Partei und sagt ihnen: „Freunde, die Kommunisten, Syndikalisten, Reformisten und revolutionären Syndikalisten, haben ihre selbständigen Organisationen, aber wir Kommunisten schlagen eine unmittelbare Aktion für Euren Kampf um das tägliche Brot vor!” Das ist ganz im Geiste der Massenpsychologie. Ich begreife wohl, dass für einen Journalisten, der z. B. in der Humanité mit Longuet zusammensaß, die Aussicht, sich an Longuet wieder wenden zu müssen, eine psychische oder moralische Folter ist. Aber die Millionen französischer Arbeiter scheren sich den Teufel, um diese Sachen. Um Euch zu beweisen, Genossen, dass die Bedenken, die in Frankreich Platz greifen, nicht die Stimmung der proletarischen Massen widerspiegeln, will ich Euch einige Zitate anführen. Gewiss sind die Zitate sozusagen getrocknete Blumen der Arbeiterbewegung, aber wenn man ein bisschen Botanik kennt, und wenn man die Blumen auf der sonnigen Wiese gesehen hat, so bekommt man auch durch die getrockneten Exemplare ein Nachgefühl der Wirklichkeit.

In der „Internationale” vom 22. Januar schreibt Victor Méric: „Wenn diese These in Frankreich angenommen und morgen das Ministerium des Krieges Poincaré über den Haufen geworfen wird, um dem Ministerium Briand oder Viviani Platz zu machen, entschiedenen Anhängern des Friedens, der Entente cordiale unter den Völkern, der Anerkennung der Sowjets, – wird es notwendig sein, dass unsere Abgeordneten im Parlament durch ihre Stimme die bürgerliche Regierung unterstützen? Und wenn – wer weiß – einem der unsrigen ein Portefeuille angetragen wird, darf man die Annahme verweigern?”

Genosse Terracini hat nicht das gleiche gesagt wie Genosse Méric, aber er hat ebenfalls das Gespenst der drei Mächte, Nr. 3, 2 und 2½, Deutschland, Österreich und Russland heraufzubeschwören versucht. Genossen, die Interessen der Sowjetrepublik können keine anderen sein als die Interessen der internationalen revolutionären Bewegung. Und wenn Ihr glaubt, dass wir dermaßen von unserer Stellung als Staatsmänner absorbiert und hypnotisiert sind, dass wir nicht mehr vermögen, die Interessen der Arbeiterbewegung richtig einzuschätzen, dann wäre es angezeigt, in die Statuten unserer Internationale einen Paragraphen einzufügen, wonach jede Partei, die in die bedauerliche Lage gerät, sich der Staatsgewalt bemächtigt zu haben, aus der Internationale ausgeschlossen wird. (Heiterkeit.)

Genosse Thalheimer sagte: Wenn es sentimentale Gründe gibt, sich nicht mit den Leuten der 2 und 2½ an einen Tisch zu setzen, so kommen sie insbesondere für uns Deutsche in Betracht. Aber wie kommt ein französischer Kommunist dazu, den Deutschen Mangel an Hass gegen die Verräter der 2½ vorzuwerfen? Ich denke, ihr Hass steht dem Hass der Literaten und Journalisten nicht nach, die den Ereignissen fern standen. Wenn unsere deutschen Genossen dennoch die Taktik der Einheitsfront durchführen, so liegt das darin, dass sie in ihr eine politische Aktion, keineswegs eine moralische Annäherung erblicken.

Fabre schreibt, er sei mit der Taktik der Einheitsfront vollkommen einverstanden mit dem einzigen Vorbehalt: „Hätte es also einen Sinn gehabt, die Einheit mit der Pistole in der Hand zu zerstören?”

Die Taktik der Einheitsfront wird also als Rückkehr zu der Situation vor Tours aufgefasst, als ein Burgfriede, eine heilige Allianz mit den Dissidenten, den Reformisten. Méric sagt: Ich lehne sie ab, Fabre sagt: Nein, ich akzeptiere. Sogar bei Frossard, der gewiss ein Politiker von Bedeutung ist, finden wir keine gewichtigeren Argumente. Ich könnte Euch sagen, dass Eure Methoden und Handlungen besser sind, als die Argumente, die Ihr gegen die von der Internationale vorgeschlagene Taktik ins Feld führt. Die Partei besitzt 130.000 Mitglieder, die Dissidenten, sagen wir, 30, 40 oder 50.000. (Zwischenruf: 15.000!) Die reformistischen Syndikate zählen 200.000, vielleicht auch etwas mehr oder weniger Mitglieder. Die revolutionären Syndikate 300.000. Die Arbeiterklasse Frankreichs umfasst Millionen. Die französische Partei ist der Niederschlag jener großen revolutionären Welle des Proletariats, die aus dem Kriege hervorgegangen ist. Die Revolution ist aber nicht eingetreten, die große Masse erlebt einen sozusagen psychologischen Rückschlag. der sich in der Tatsache äußert, dass die Arbeiter die Gewerkschaften verlassen. Aber nehmen wir an, dass die Übergangssituation noch ein Jahr oder zwei oder drei dauert, – wie wird sich die Arbeiterschaft Frankreichs verhalten, wenn es unter solchen Umständen zu einer allgemeinen Aktion im Lande kommen würde? Das Zahlenverhältnis zwischen der KP und der Dissidentenpartei ist wie 4 : 1, die vagen revolutionären Gefühle gegenüber den bewusst revolutionären Gefühlen stehen vielleicht im Verhältnis von 99 : 1.

Wir haben mit der „Humanité“, die 200.000 Leser besitzt, mit unseren Schulen usw. großartige Propagandaerfolge erzielt. Es gibt noch andere Mittel, um die breiten Massen in Bewegung zu bringen, z.B. durch die glänzenden Reden unserer französischen Freunde usw. Es kommen die Wahlen. Eine große Masse von Arbeiter wird sich sagen: Ein Parlament des Blockes der Linken ist jedenfalls dem nationalen Block Poincaré vorzuziehen. Es handelt sich für uns nun darum, im Voraus die Idee des Blockes der Linken vor dem französischen Proletariat zu kompromittieren. Das ist für die französische Partei eine sehr wichtige Frage. Ein solcher Block ist für uns nicht ein Malheur, eher ein Gewinn, unter der Voraussetzung, dass das Proletariat an ihm nicht beteiligt ist. Wir wollen zunächst die Methoden unseres Vorgehens nicht im Voraus präzisieren. Die Hauptsache ist, das linke Bürgertum in den Augen der breiten Arbeiterklasse zu kompromittieren, es zu zwingen, Farbe zu bekennen. Wir Kommunisten haben das größte Interesse daran, diese Herren aus ihrem Asyl, aus ihrer Kammer herauszulocken, und sie vor das Proletariat, namentlich auf der Basis der Massenaktion, hin zu steIIen. Es handelt sich ja nicht um die Annäherung an Longuet, – das wäre etwas starker Tobak, nicht wahr, Genossen? Wir haben 15-16 Monate lang den französischen Genossen eingeschärft, dass man den Longuet hinauswerfen soll. Und nun kommen Genossen und glauben, wir wollen ihnen die Verständigung mit Jean Longuet aufzwingen. Ich begreife wohl, dass die Arbeiter der Seine-Föderation nach der Lektüre des Artikels von Victor Méric einen ganz wirren Kopf bekommen haben; man muss ihnen in aller Ruhe erklären, dass es sich um ganz andere Dinge handelt. Genosse Terracini meint: wir haben ganz andere Aktionsmethoden, wir sind für die Revolution, jene sind gegen die Revolution. Das ist durchaus richtig. aber wenn dies nicht wäre, so hätte ja die Frage der Einheitsfront überhaupt keine Schwierigkeiten bereitet. Dass wir für, und die anderen gegen die Revolution sind, müssen wir dem Proletariat erst klar machen.

Das gefährlichste an der Rede Renoults war die Behauptung, dass wir im gegenwärtigen Moment nicht nur mit den Dissidenten, sondern auch mit der reformistischen CGT nichts zu tun haben. Das würde eine angenehme Überraschung für die Anarchisten der CGT Unitaire sein, und ich erlaube mir zu bemerken: diese Unterstützung der Anarchisten ist höchst ungeschickt. Gerade in der Gewerkschaftsbewegung habt Ihr die Theorie der Einheitsfront mit Erfolg angewendet, und wenn Ihr jetzt 300.000 Anhänger zählt gegenüber 200.000 Anhängern von Jouhaux, so verdankt Ihr dies zur Hälfte der Taktik der Einheitsfront. Wollten wir die Gewerkschaften nach den verschiedenen Tendenzen spalten, so wäre dies ein Selbstmord.

Jouhaux sah den Boden unter seinen Füßen verschwinden. Unsere Prognose war richtig. Er beginnt die Spaltung auf dem Wege der Ausschließungen. In unserem Kampfe gegen die Reformisten, gegen die Dissidenten, wie Ihr sie genannt habt, gegen die Syndikalisten-Reformisten und die Sozialpatrioten, müssen wir diese für die Spaltung verantwortlich machen, müssen sie fortwährend zwingen, ein offenes „Nein” vor der gesamten Arbeiterklasse auszusprechen. Wenn die Situation für die Forderungen der Arbeiterklasse günstig ist, müssen wir die Herren nach vorwärts drängen. In zwei Jahren werden wir vielleicht die Revolution haben; in der Zwischenzeit wird eine immer breitere Massenbewegung Platz greifen, die Jouhaux und Merrheim werden immer versuchen 1-2 Schritte vorwärts zu tun. Aber, meint Genosse Terracini, im Moment gibt es keine großen Ereignisse, und wir haben keinen Anlass zur Einheitsfront. Und die französischen Genossen sagen: Wenn die großen Ereignisse nicht kommen, dann müssen wir sie durch unsere eigene Initiative einleiten. Ich behaupte: Eines der größten Hemmnisse für den Eintritt dieser Ereignisse ist der Umstand, dass mehrere politische und gewerkschaftliche Organisationen nebeneinander stehen, deren Unterschied die Masse nicht versteht. Wir schlagen der betreffenden Organisation eine bestimmte Aktion vor. Ich behaupte, die nichtorganisierten Arbeiter, die am meisten geistig enttäuschten und trägen Elemente, können im Moment einer akuten revolutionären Krise von uns in den Strudel mitgerissen werden, aber in der Zeit der schleichenden Krise werden sie eher ein Rückhalt für Jouhaux sein.

Was die Konferenz der 3 Internationalen betrifft, so wäre es vielleicht wünschenswert, dass sie später zustande käme, doch ist sie uns mit einem Male aufgezwungen als eine Folge der Konferenz von Genua. zu der eine persönliche Einladung an Genossen Lenin erging. Wenn diese Konferenz tatsächlich zustande kommt, dann tritt vor das Proletariat die Notwendigkeit, etwas zu tun. Die 2½ Internationale ergreift die Initiative und ladet uns ein. Sollen wir den Leuten antworten: „Ihr seid Verräter, wir wollen mit Euch nichts gemeinsam unternehmen?” Ihr Verrat ist eine längst bekannte Tatsache. Man hat ihn schon unzählige Male gebrandmarkt. Tatsache ist, dass Friedrich Adler sich an uns mit den Worten gewandt hat: Wir laden Euch ein, um einen gemeinsamen Druck auf die Bourgeoisie. auf ihre Diplomatie zu besprechen. bzw. zu beschließen.

Würden wir „nein” sagen, so hätten die Scheidemänner, Friedrich Adler, Longuet und tutti quanti ein leichtes Spiel in der Arbeiterklasse. Also lassen wir, Genossen, die Bezeichnung „Verräter” und „Kanaille”. vielleicht für die Zeit der Konferenz selbst. Aber jedenfalls dürfen wir in unserem Antwortschreiben nicht sagen: Wir gehen nicht, weil Ihr Verräter seid. – Wir haben von einer Teilnahme an einer solchen Konferenz nichts zu befürchten: Wir werden dort als die revolutionäre Fraktion der Arbeiterklasse erscheinen. Wenn die Konferenz infolge der Weigerung der Parteien nicht zustande kommen wird, die fürchten werden gegenüber dem Weltproletariat Verpflichtungen zu übernehmen, dann wird die Verantwortung auf sie zurückfallen, nicht auf die Kommunistische Internationale. Das ist unser Gewinn, das ist auch alles, was wir wünschen. Aus diesem Grunde glaube ich, dass wir uns einstimmig für die Teilnahme an der Konferenz entscheiden sollen.

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