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Leo Trotzki 19220610 Schlusswort zur Lage in der Kommunistischen Partei Frankreichs

Leo Trotzki: Schlusswort zur Lage in der Kommunistischen Partei Frankreichs

[Nach Kommunistische Internationale, 3. Jahrgang (1922), Nr. 21, S. 105-111]

Genossen!

Im Verlauf der Diskussion, und vor allem gestern, ist man meines Erachtens ein wenig zu sehr bestrebt gewesen, die Situation z u erklären; selbst der Genosse Brandler hat heute – wie mir scheint, ohne das gesamte, erforderliche Tatsachenmaterial zu kennen – erneut zu erklären versucht, warum gerade die Lage so ist, wie sie sich uns darbietet, usw.

Es ist sicher richtig: um einen Beschluss fassen zu können, muss man wissen, was vorgeht. Und wir müssen auch die Vergangenheit kennen. Aber wir sind doch schließlich kein Kongress von Historikern, wir sind eine Versammlung der Internationale. Unsere Aufgabe soll sich nicht darauf beschränken, die Vergangenheit zu erforschen, die die Gegenwart bestimmt hat; wir sollen die Zukunft vorbereiten. Und um die Zukunft vorzubereiten, gilt es, die gegenwärtige Lage zu ändern; wir sollen die Mittel und Wege aufzeigen, um das zu erreichen.

Ich habe schon einmal mit Bezug auf die französische Frage einen Ausspruch von Marx in seinem Werke über die Philosophie Feuerbachs zitiert: „Die Philosophen haben die Welt nur interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu ändern."

Worauf es jetzt für uns hier ankommt, ist die Lage in der französischen Partei zu ändern.

Denselben Fehler hat auch der Genosse Rappoport in seiner Rede gemacht. Auch er hat sich des langen und breiten bemüht, uns die Situation in Frankreich verstehen zu machen. Das ist eine Mentalität, die ein Charakteristikum der Zweiten Internationale war, vor allem der deutschen Bewegung. Dort war man, wie Ihr wisst, gut marxistisch; aber man beschränkte sich darauf, die Dinge zu erklären, statt dass man revolutionär handelte. Man erklärte, was vor sich ging, als guter Marxist; aber man handelte als ebenso guter Opportunist.

Jetzt aber, ich wiederhole es, handelt es sich für uns darum, die Situation zu ändern. Die Auffassung des Genossen Rappoport ist bezeichnenderweise ein wenig fatalistisch. Das aber ist die größte Gefahr für unsere Bewegung in Frankreich.

Rappoport nennt Frankreich ein kleinbürgerliches Land. Alles werde dort von der Bourgeoisie beeinflusst usw. Das ist ein Versuch zu erklären, aber nicht die Aufzeigung des Mittels, die Lage zu ändern. Und dazu ist es eine falsche Erklärung, die Rappoport Schlussfolgerungen ziehen lässt, die, um mit seinen eigenen Worten zu reden, absolut pessimistisch sind.

Rappoport zufolge soll die französische Partei in der Ersten Internationale eine traurige Rolle gespielt haben dank dem Kleinbürgertum ihres Landes. In der Zweiten Internationale hätte sich dasselbe in der Frage des Millerandismus, des Briandismus gezeigt. Auch in der Dritten Internationale sei es nicht anders. Das ist seine Schlussfolgerung

Nun, Genossen, ich bin dieser Meinung nicht.

Während der Ersten Internationale war es das französische Proletariat, das das unvergängliche Blatt der Kommune schrieb. Und nur das französische Proletariat schrieb dieses Blatt, das ruhmreichste, einer ganzen Epoche: der Periode, die dem Beginn der Weltrevolution voranging, in der wir uns jetzt befinden.

Während der Zweiten Internationale ähnelte die französische Partei durchaus der deutschen, nur dass man in Deutschland seinen Opportunismus nicht so offen zur Schau trug und ihm ein marxistisches Mäntelchen umzuhängen bemüht war; die opportunistische Politik in Frankreich war lärmender, offensichtlicher, weil man in einem republikanischen Lande lebte.

Und was nun die Dritte Internationale anbetrifft, so sehe ich in der Vergangenheit des französischen Proletariats wahrlich keinen Grund, der es hindern könnte, eine Rolle zu spielen, die würdig ist des in seiner heroischen Vergangenheit akkumulierten historischen Bewusstseins, der Zivilisation des ganzen Landes.

Man sagt mir, dass das Bild, das ich hier gegeben habe, wenn nicht pessimistisch, so doch zumindest recht düster gehalten war. Die pessimistischste, düsterste Schilderung war die des Genossen Rappoport.- Meine Ausführungen waren die optimistischsten.

Wenn ich hier mit Euch die Lage in Frankreich untersuche, so sage ich: Nicht das Kleinbürgertum ist es, das diese Lage geschaffen hat. Es ist verkehrt, die Bedeutung des Kleinbürgertums zu überschätzen. Nehmt die englische Labour Party. In England gibt es kein Kleinbürgertum, wir haben dort fast ausschließlich Großbürgertum. Ist aber darum das Schicksal und die Vergangenheit des englischen Sozialismus glanzvoller als des französischen? Durchaus nicht. Was war der englische Sozialismus in der Ersten Internationale? Fast nichts. Und während der Zweiten? Da gab es dort winzige sozialistische oder halb sozialistische Gruppen, die schließlich entarteten wie die Hyndmans; und auf der andern Seite eine große liberalisierende Arbeiterpartei; ein Kleinbürgertum gab es nicht. Was gab es? Eine Großbourgeoisie, einen lebenskräftigen Kapitalismus mit einer machtvollen zivilisatorischen Vergangenheit; eine Geschichte, eine Revolution, materielle Errungenschaften, die kapitalistische Kultur. Da haben wir's, das große Hemmnis; das Vergangene ist die Kugel am Bein des Gegenwärtigen,

In Frankreich, in England und in allen anderen zivilisierten Ländern mit einer an Kultur und Tradition reichen Vergangenheit stemmt sich der Wall der kapitalistischen Zivilisation gegen die Zukunft. Wir müssen dieses Hemmnis, das die Bourgeoisie bewunderungswürdig zu nutzen weiß, um jeden Preis überwinden. Wir müssen es überwinden. Wenn die Kommunistische Partei die Arbeiter um sich sammeln wird auf der neuen historischen, der revolutionären Linie, ohne dabei die vergangene Zivilisation ungenutzt zu lassen, der die hohe Kultur des französischen Arbeiters zu danken ist, werden wir, das ist meine Überzeugung, in Frankreich die beste kommunistische Partei der Welt haben.

Die gegenwärtige Krise ist eine Krise der Vorbereitung, die uns instand setzen soll, eine reiche Vergangenheit zu nützen, die zur Stunde ein Hindernis ist, die aber morgen die Garantie sein wird für eine Aktion von unerhörter Tragweite.

Der Genosse Rappoport nähert sich, wenn er sich auf das Kleinbürgertum beruft, den Elementen, die sich ihrerseits auf jenes Kleinbürgertum berufen, das von den Bauern gebildet wird, wie Jean Renaud und Auclair, die uns immer wieder darauf hinweisen, dass die Bauern vier Siebentel der französischen Bevölkerung ausmachen. Auch Rappoport sagt: Was wollt Ihr von unserer Partei? Vier Siebentel der französischen Bevölkerung sind Kleinbürger, man muss sich ihnen anpassen.

Aber die Bauern sind die Bauern, und wir sind die Partei des Proletariats!

Wenn das Kleinbürgertum den Einfluss seiner Vorurteile um uns herum übt, so folgt daraus nicht, dass wir das Organ dieses Einflusses zu sein haben. Wir wollen in Frankreich eine proletarische Partei schaffen. Wir haben sie geschaffen. Die Einschätzung der Situation durch die Genossen Auclair und Jean Renaud ist durchaus falsch und demokratisch.

Jean Renaud sagt: „Unser Land ist angefressen durch Jahrzehnte der Demokratie." Aber er selber hat eine absolut demokratische Anschauungsweise. Er zählt die Stimmen und sagt: „Vier Siebentel der Bevölkerung!" Und er macht eine Statistik, und das ist alles.

Wie wäre da die Revolution in Russland zu erklären, wo das Proletariat sehr viel schwächer ist als in Frankreich? Was beweist die russische Revolution? Sie beweist, dass man mit der Bevölkerungsstatistik, der Manövergrundlage des Wahlkampfes im Lande, nicht die Revolution machen kann. Die Macht des Proletariats erklärt sich nicht nur und wird nicht nur bestimmt durch die Zahl der Proletarier. Man muss seinen qualitativen Wert zu erfassen versuchen, die Rolle, die es in der Industrie, im sozialen Leben spielt, berücksichtigen, endlich den Grad seiner Konzentration, seine Partei usw. Nur das Proletariat vermag die zögernden Bauern, die armen Bauern, vorwärts zu treiben; aber selbst ist es das Subjekt der Geschichte, nicht das getriebene Objekt. Die revolutionäre Geschichte wird vom Proletariat gemacht.

Nun, in Frankreich stellt das Proletariat einen sehr viel größeren Teil der Bevölkerung dar als in Russland. Mit einer ungemein reicheren Vergangenheit und einem viel höheren politischen Niveau. Die Vorbedingungen für die Bildung einer Partei sind also gegeben.

Man sagt uns immer wieder: Es fehlt uns an Männern. Gewiss, wenn man über jene Oberschicht von Journalisten, Advokaten und Intellektuellen, die seit je die sozialistischen und parlamentarischen Geschicke der Arbeiterklasse leitete, nicht hinauszusehen vermag. Von diesen Elementen der alten Partei haben wir nur wenig in der Kommunistischen Partei. Das trifft zu. Aber ich denke, dass das unser Glück ist. Ja, wir haben von ihnen noch zu viel.

Niemand wird sagen wollen, dass neue Führer des Proletariats nicht innerhalb der Arbeitermassen selber gefunden werden können, wenn man nur energisch sucht, wenn man den besten Elementen der Masse die Wege öffnet.

Was lehrt uns die Vergangenheit? Wir sahen einerseits die parlamentarische Partei, andererseits den Syndikalismus. Der Syndikalismus hat, wie wir das in unserer Diskussion feststellten, die Arbeitermassen an sich gezogen, weil er, wenn auch in falscher Art, das revolutionäre Fühlen der Arbeiter gegenüber der parlamentarischen Politik zum Ausdruck brachte. Aber der Syndikalismus hat noch mehr getan. Er gab den tatkräftigsten Elementen des französischen Proletariats die Möglichkeit, sich an die Spitze des Proletariats zu stellen. Die syndikalistische Bewegung wurde von Arbeitern geführt. Das war, in dem historischen Rahmen der Vorkriegszeit und der Periode der Zweiten Internationale, die große Leistung, der Wert des französischen Syndikalismus. Der große Unterschied zwischen der Partei und den Gewerkschaften war, dass an der Spitze jener immer Professoren der Beredsamkeit, Journalisten, Advokaten standen, während diese von Arbeitern geführt wurden.

Wir müssen die Situation ändern. Die Arbeiter müssen in der Partei überall ihre Leute an der Spitze sehen. Das schließt natürlich nicht die aus, die, obwohl bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder intellektueller Herkunft, am richtigen Platz sind. Aber als Regel, nicht als Ausnahme, soll den Arbeitern der Weg nach oben offen stehen. Das ist eine wichtige Aufgabe für die zukünftige Zusammensetzung des Parteivorstandes und für die Aufstellung der Kandidatenliste bei den Wahlen. Das ist eine Lebensfrage.

Zwei oder drei Arbeiter, ob geschickt oder ungeschickt, die ins Parlament oder in die Stadtverwaltung kommen, mit einem neuen und selbst arroganten Geist gegenüber dieser Bourgeoisie, die eine systematische Atmosphäre des guten Tons und der Höflichkeit schafft, werden dem Kommunismus mehr Dienste leisten als zwei-, dreimal zehn Intellektuelle. In Frankreich ist diese fast religiöse Atmosphäre der Höflichkeit ein machtvolles Instrument der Beeinflussung in den Händen der Bourgeoisie; genau so, wie in England, wie Lloyd George sagt, die Kirche das große elektrische Kraftzentrum ist, das alle bürgerlichen Parteien und selbst die Mehrzahl der Arbeiter in Bewegung setzt; denn Henderson und die ihm ähneln sind in diesen elektrischen Stromkreis eingeschlossen. In Frankreich ist es der Kult der Höflichkeit, des guten Tons, den die Bourgeoisie geschickt gegen die Arbeiterpartei ausnützt. Der Abgeordnete, der ins Parlament gelangt, ist sehr empfindlich für das, was man von ihm sagt, und was die Professionellen der Höflichkeit, wie der selige Deschanel, von ihm denken. Nicht lange, und er passt sich an und wird gemäßigt. Nach einem Jahr schon ist ihm nichts mehr von dem Geist geblieben, den er ins Parlament mitgebracht hatte.

Wir haben dasselbe Bild in der Partei, in den Beziehungen zwischen der Leitung und der Opposition. Zeigt sich die Opposition, so heißt es: Das sind persönliche Fragen. Ein Ausspruch unseres Freundes Frossard ist jetzt sehr im Schwange: „Die Partei muss eine große Familie sein." Gewiss, wir wünschen das alle. Sowie aber jemand zu kritisieren beginnt, gleich wird ihm der Ausspruch Frossards entgegengehalten: Nur keine Kritik, nur keine Kritik, die Partei soll eine große Familie sein. Das hindert die Elemente, die so sehr für Höflichkeit sind, aber nicht, die Opposition bei passender Gelegenheit zu verdächtigen oder persönlich anzugreifen. Genau wie die französische Bourgeoisie sich bei all ihrer Höflichkeit als die allergehässigste erweist, sobald sie sich einer ernsthaften Kritik ausgesetzt sieht. Das lässt uns diesen sogenannten guten Ton als ein politisches Instrument der konterrevolutionären Bourgeoisie erkennen. Wir müssen dieses Instrument zerbrechen und darum überall frische, robuste Arbeiter als unsere Vertreter hinsetzen.

Rappoport meint, dass ich den einzelnen zu große Bedeutung beimesse. Diesen Vorwurf hätte ich in der Tat nicht erwartet; aber der Genosse Rappoport beschert uns ja immer Überraschungen (Heiterkeit).

Rappoport; Manchmal angenehme Überraschungen

Trotzki: Manchmal.

Mit Bezug auf den Ausschluss Fabres sagt er uns: Ihr überschätzt die Bedeutung der einzelnen, und damit verwirrt Ihr die Massen.

Die französische Partei verrichtet sicher eine bedeutende Arbeit in den Massen, ich zweifle nicht daran. Aber wenn wir von der Kommunistischen Partei sprechen, so nehmen wir doch an, dass die Grundarbeit, ohne die es nicht geht, getan wird. Niemand zweifelt daran, und es braucht nicht besonders betont zu werden. Wir diskutieren hier die Fragen, die uns trennen.

Aber sagen, dass wir die Bedeutung der einzelnen überschätzen …

Cartier: Jawohl, Sie überschätzen den Wert der einzelnen, und wenn Sie gestatten, werde ich dazu sprechen.

Trotzki: Das hat Rappoport schon gesagt.

Cartier: Er hat die Wahrheit gesagt, das stimmt.

Trotzki: Nun, Sie bestätigen nur, was er sagt.

Cartier: Sie selbst legen den einzelnen zu viel Wert bei.

Trotzki: Gut, Sie sind über diese Frage mit Rappoport einig, aber leider kann ich mit Ihnen nicht einverstanden sein. (Heiterkeit;)

Cartier: Erlauben Sie, dass ich Ihnen sofort antworte.

Trotzki: Ich bitte darum.

Cartier: Genossen, dies zur Rechtfertigung meines Zwischenrufes. Ich würde bedauern, wenn ich damit die Konferenz gegen mich einnehme, aber ich muss unbedingt eine Erklärung abgeben.

Sie wissen, dass unsere Partei hier mit zwei Mitgliedern des Parteivorstandes vertreten ist, die am Sonntag angekommen sind. Was habe ich nun feststellen müssen? Unmittelbar, nachdem er von unserer Ankunft erfahren hatte, ließ der Genosse Trotzki unseren Generalsekretär, den Genossen Frossard, zu sich kommen; den Genossen Cartier, der allerdings nur ein einfacher Arbeiter und kein großer Redner ist, der vielleicht etwas geradezu ist, der aber das sagt, was er denkt und der ein alter Genosse ist, den hat man übersehen. Der Genosse Trotzki weiß, dass ich während des Krieges nicht nur in meiner Partei, sondern in ganz Frankreich mein Bestes getan habe, dass die Genossin Cartier und auch ich im Gefängnis waren.

Ich habe während – dieser ganzen Zeit nie irgendwelche Zugeständnisse gemacht. Ich darf von mir ohne Schmeichelei sagen, dass ich der wirkliche Vertreter der Arbeiterklasse bin, und dennoch hat Trotzki es versäumt, mich rufen zu lassen; für den Genossen Frossard aber hat er Zeit gehabt. Warum zieht er Frossard Cartier vor? Nun, weil Frossard etwas vorstellt, weil er ein Redner ist, ein Intellektueller, während Cartier die quantité negligeable im Parteivorstand darstellt. Wenn er im Parteivorstand ist, so nicht wie Frossard. Er repräsentiert weder dessen rednerische noch intellektuelle Kraft. Was er aber hinter sich hat, ist seine Vergangenheit, seine wirkliche sozialistische Vergangenheit. Möglich, dass er nicht, die ganze Marxsche Theorie im Kopfe hat, aber er ist ein Kämpfer, Das wollte ich Trotzki sagen.

Auch Sie, Genosse Trotzki, überschätzen die Bedeutung der einzelnen. Ich bin davon geheilt. Meine Erfahrungen im Kampfe haben mich davon geheilt. Als ich 1914 die Männer, die uns führen sollten, einen nach dem andern versagen, umfallen, ja die Masse, das Vertrauen, das wir ihnen geschenkt, hatten, verraten sahen, da habe ich den Glauben an die Menschheit verloren, und nun zeigt uns Trotzki, der große Theoretiker, einer der Führer der russischen Revolution, dass auch er noch nicht frei ist von der Überschätzung der Persönlichkeiten, Deswegen habe ich mir die Freiheit genommen, zu

Sadoul: Genossen, ich bitte ums Wort für eine Richtigstellung, weil ich es für ganz unnütz halte, dass der Genosse Trotzki selbst darauf antwortet. Wenn Cartier Trotzki nur ein wenig kännte, würde er einen derartigen Vorwurf nicht erheben.

Die Zusammenkunft mit Frossard ist ohne den Genossen Trotzki festgesetzt worden, und als Trotzki Frossard empfing, wusste er absolut nichts von der Anwesenheit Cartiers in Moskau. Es ist ganz unnötig …

Trotzki: Gestatten Sie mir trotzdem zu sagen, dass wir uns mit dem Genossen Cartier über eine Zusammenkunft verständigt hatten, aber ein betrübendes Ereignis in meinem privaten Leben, das Euch allen bekannt ist, hinderte mich, die Zusammenkunft am folgenden Tag festzusetzen. Ich fand kaum die Zeit, hier in die Sitzung zu kommen, um meine Rede über die französische Frage zu halten.

Wenn Sie glauben, dass dieser Zwischenfall verursacht wurde, durch einen Persönlichkeitskult, dessen ich mich schuldig mache, so irren Sie sich. Sie könnten höchstens sagen, dass ich persönlich einen Fehler gemacht habe. Aber darum handelt es sich hier nicht, wir sprechen hier über die politische Haltung.

Was den Genossen Frossard anbelangt, so habe nicht ich ihn rufen lassen. Sadoul sagte es bereits, dass mir am Telephon mitgeteilt wurde, dass Frossard mich zu sprechen wünschte. Ich fragte, wo ich ihn sehen könne, und man sagte mir, dass er sofort zu mir kommen wolle. Im Verlauf unserer Unterredung oder danach wurde Cartier als Mitdelegierter genannt.

Cartier: Genossen, gestattet noch einmal, ihr werdet verstehen, wie mir zumute war; und wenn ich auch nur einfacher Mensch und kein großes Tier bin. Als ich diesen Unterschied in der Behandlung sah, habe ich den andern Genossen der französischen Delegation meine Meinung gesagt. Ich fühle mich zurückgesetzt, als Stiefkind behandelt. Ich werde das Trotzki sagen;.ich bin hierhergekommen, um ihn zu sehen, um ihm zu sagen, was ich denke; denn ich bin gegen die Einheitsfront; die Argumente, die ich bisher gehört habe, überzeugen mich nicht; ich will mich gern überzeugen lassen … (Unruhe.)

Kurz, Sie werden angesichts dieses Zufalls (ich will gern annehmen, dass es ein Zufall ist) verstehen, dass ich an Hand einer Tatsache diese Art unterstreichen wollte.

Sadoul: Sie hatten Unrecht.

Cartier; Insofern vielleicht, als ich zu offen war.

Sadoul: Was Sie zum Ausdruck bringen, ist nicht proletarische Würde, sondern kleinbürgerliche Empfindsamkeit.

Cartier: Sadoul interpretiert die französische Sprache in seiner Art, wie ein Advokat. Ich habe nur gesagt, was ich denke.

Trotzki : Ich glaube nicht, dass Sadoul dem Genossen Cartier ganz gerecht wird. Ich hoffe, wir werden im Verlauf dieser Konferenz noch mit dem Genossen Cartier reden können, so dass alle Missverständnisse beseitigt werden.

Cartier: Die Erklärung ist klar. Mehr will ich nicht. Ich bin zufrieden.

Trotzki: Ich habe zu zeigen versucht, dass die hier gegebenen Erklärungen für die Lage in Frankreich falsch sind. Und wenn sie selbst richtig wären, so genügen uns eben Erklärungen nicht. Worauf es ankommt, ist, die Situation zu ändern.

Nun, die Rede des Genossen Brandler bot in dieser Hinsicht, wenn ich mich so ausdrücken darf, politisch nichts.

Brandler sagt: Was Trotzki vorschlägt, ist ein Kaiserschnitt. Kurz, das ist die Guillotine, von der Rappoport sprach, die Guillotine Rappoports. (Heiterkeit.)

Er wirft mir also vor, was Rappoport Souvarine vorgeworfen hat; nur mit einem deutschen Wort, das sich schlecht auf französisch wiedergeben lässt, aber es besagt ungefähr dasselbe.

(Zurufe, Unruhe; man gibt mehrere Urbesetzungen des deutschen Wortes).

Es ist das ein chirurgischer Eingriff, bei dem der Leib geschnitten werden muss.

(Zuruf: Nicht der Kopf, nur der Leib.)

Aber genau wie Rappoport mit seinen anonymen Elefanten, sagt auch Brandler nicht, wo die Operation zu machen ist. Was nützt uns also seine Kritik?

- Nachdem Ihr die Lage zwei Jahre lang geduldet habt, wollt Ihr sie jetzt übers Knie brechen, meint Brandler. Und nachdem er eine Rede gehalten hat, die die Situation der französischen Partei als sehr kritisch charakterisiert, sagt er uns: Ihr habt die Dinge zwei Jahre lang geduldet, jetzt wollt Ihr sie über: Knie brechen. Ich schlage Euch vor, sie noch ein Jahr zu dulden. (Heiterkeit.)

Das ist der Sinn seiner Rede. Weiter sag er nichts, weiter schlägt er nichts vor. Aber glaubt er denn, dass die Lage am Schlusse de dritten Jahres besser sein wird? Dann war er also der Meinung, dass sie sich von selbst bessert. Wenn sie sich aber von selbst bessern soll, warum wirft er uns dann vor dass wir sie zwei Jahre geduldet haben?

Er sagt: die Arbeit muss präziser, energischer, einheitlicher sein. Das haben wir oft gesagt, er sagt es nur noch einmal, mit eine Verspätung von einem oder zwei Jahren Möge er unsere Reden, unsere Beschlüsse, die Briefe der Exekutive nachlesen. Wir wollen heute die Konsequenzen ziehen, die Resolutionen und Beschlüsse präzisieren, im vollsten Einvernehmen mit der französischen Delegation.

Brandler sägt, wir brüskieren die Situation. Warum, wieso? Weil in Frankreich die Elemente fehlen, die das Ziel verwirklichen wollen. Welches Ziel? Dass wir in den Gewerkschaften Kommunisten haben, die Kommunisten sind.

Nun, was fordern wir? Dass die Kommunisten in den Gewerkschaften Kommunisten sind, – dass sie sich der Disziplin unterwerfen. Dass sie aus der Tatsache, dass sie in den Gewerkschaften arbeiten, nicht das Recht zu dauernder Auflehnung gegen ihre Partei herleiten. Sie müssen wählen. Sie können in der Gewerkschaft als Freidenker in der Art der Verdier und Quinton arbeiten, wenn sie sich außerhalb der Partei stellen, oder sie müssen als Mitglieder der Partei sich der Parteidisziplin unterwerfen. Hier liegt die ganze Frage.

Brandler sagt, dass die Kommunisten in den Gewerkschaften zwei Jahre lang, jeder nach seiner Art, gearbeitet haben, ohne sich durch die Parteidisziplin gebunden gefühlt zu haben. Nun, wir haben gefordert, wiederholt gefordert, dass man sie zur Disziplin zwingt. Ohne Erfolg. Jetzt verlangen wir etwas mehr:

Dass eine Liste der kommunistischen Delegation für den Kongress in St. Étienne aufgestellt wird, dass die Genossen als Fraktion der Partei zusammengerufen werden, dass man mit ihnen die Aufgaben der Kommunisten in den Gewerkschaften durchgeht und diskutiert; damit man sieht, ob man es mit Kommunisten zu tun hat, die bereit sind, ihre Pflicht der Partei, der Internationale gegenüber zu erfüllen.

Ist dieser erste Schritt nicht absolut unerlässlich? Und wenn es sich herausstellte, dass neun Zehntel der Kommunisten auf dem Kongress keine Kommunisten sind, so wäre das eine sehr traurige Situation, deren Konsequenzen schwer zu überschauen sind.

Aber ich glaube nicht, dass die Dinge so liegen. Es ist nicht wahr, dass die französischen Arbeiter die Annäherung zwischen der Partei und den Gewerkschaften nicht wollen. Die Bürokraten in den Gewerkschaften mögen dagegen sein, weil sie die Konkurrenz der Intellektuellen der Partei fürchten.

Die Arbeiter wollen die Revolution. Warum konnte Jouhaux seinen Spaltungswillen durchführen? Weil er sich des unwiderstehlichen Druckes der revolutionärsten Elemente in den Gewerkschaften bediente. Also die Form der Gewerkschaften ist den Arbeitern kein absoluter, über allem stehender Fetisch, ihnen kommt es auf das Wesen an.

Was wollen die Arbeiter? Die Revolutionäre wollen das Werkzeug für die Realisierung der Revolution. Für die einen ist dies die Gewerkschaft, für die andern die Partei. Kommen nun diese Organisationen um des revolutionären Zieles willen und durch ihre revolutionäre Unversöhnlichkeit einander näher, so werden die Arbeiter für die Partei und für die Gewerkschaft sein.

Aber es gibt Gewerkschaftsbürokraten – die sich auch Revolutionäre nennen –, die mit ihren Anhängern ihre eigenen Cliquen bilden, und die sagen: Kommt uns nicht zu nahe, das ist unser Revier. Hält sich die Partei zurück, so behalten sie ihr Gebiet und erweitern es noch. In dem Moment jedoch, wo die Partei ihnen als Partei der Arbeiter gegenübertritt, ihr Denken und ihren Willen zum Ausdruck bringt, geraten diese Cliquen zwischen den physischen Druck der Masse und den ideologischen der Partei. Und wenn sie sich weigern, mit der Masse zu marschieren, werden sie zerrieben werden.

Ich sage also, dass die Kommunisten auf dem Gewerkschaftskongress eine Fraktion bilden müssen. Schließt dies den Block mit Monmousson, mit den doktrinären Syndikalisten aus? Durchaus nicht. Dieser Block ist durchaus möglich.

Wenn wir, um die Mehrheit zu ändern, den Syndikalisten der Färbung Monatte-Monmousson Zugeständnisse machen, so tun wir dies als Partei, nachdem wir in der Partei oder in der kommunistischen Fraktion des Kongresses alle Umstände und Möglichkeiten geprüft und präzisiert haben. Das ist es, was die Internationale verlangen muss.

Dürfen wir verlangen, dass jeder Kommunist eine beschlossene Resolution als für sich bindend betrachtet? Aber das ist selbstverständlich! Also ich halte die Beurteilung der Lage durch den Genossen Brandler für zu pessimistisch. Ist die französische Partei, ist die französische Arbeiterbewegung wirklich so krank, dass man im großen Bogen um sie herumgehen, nur im Flüsterton von ihr sprechen und alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln treffen muss, wie ich in einem Schreiben an Ker gefragt habe? Keineswegs. Die Arbeiterbewegung und die revolutionärsten Elemente, die sie führen, sind durchaus gesund und ernst. Sie werden ihr Werk vollbringen, vor allem dank der Hilfe der Internationale. Mehr verlangen wir nicht.

In persönlichen Unterredungen hat man mir zum Vorwurf gemacht, dass ich hier die Frage der Seine-Föderation in den Vordergrund gerückt habe. Man meinte, dass die Frage der Seine-Föderation doch unmöglich hier geregelt werden könne, dass sie eine lokale Angelegenheit sei.

Nun, Genossen, ich glaube, wir werden in Frankreich nie eine proletarische Revolution haben, wenn nicht der Geist und die Organisation der Seine-Föderation geändert werden. (Lebhafte Zustimmung.)

Man kann die Revolution in Frankreich nicht machen, ohne dass Paris beteiligt ist. Um diese Revolution vorzubereiten, brauchen wir eine zentralisierte Partei, und der Parteivorstand kann die Partei nicht leiten, ohne, und vor allem, gegen die Seine-Föderation. Bei uns ist es nicht anders. Hätten wir, sowohl vor wie nach der Revolution, die Partei gegen den Willen der Moskauer Organisation leiten können?

Der Parteivorstand muss sich seinen Sammelplatz schaffen. Dieser Sammelplatz muss Paris sein, die Seine-Föderation. Ich bin auch überzeugt, dass die Genossen in dieser Föderation einsehen werden, dass sie Unrecht hatten, wenn wir es ihnen klar zu machen verstehen. Die Genossen der Pariser Parteigruppen glauben ihren Föderalismus aus der Vergangenheit der französischen Bewegung rechtfertigen zu können. Das ist absolut falsch. Weil das Föderativprinzip im Leben der Partei in Wirklichkeit immer zur Vorherrschaft einer anonymen Oligarchie führt.

Wenn die Organisation nicht einen Kopf hat, der sie verantwortlich leitet, und eine ununterbrochene Stetigkeit in der Aktion, so ist die unvermeidliche Folge, dass unkontrollierbare Elemente die Zügel in die Hände bekommen und die Föderation nach ihrem Willen dirigieren, ohne dass die Masse es merkt. Und dieses absolut amorphe System führt immer zu einem direkt entgegengesetzten Resultat als beabsichtigt. Während bei einer zentralisierten Organisation mit einem in seinen Vollmachten beschränkten, aber absolut verantwortlichen Komitee an der Spitze, die Möglichkeit der Kontrolle besteht.

Die Föderativform erklärt uns, wie die extreme linke Seine-Föderation als Generalsekretär einen Vertreter der extremen Rechten haben konnte. Wir sehen hier, wozu die Föderativform führt. Zu einem entgegengesetzten Ziel als beabsichtigt. Wir müssen also in der Kommission die Frage der Seine-Föderation aufwerfen.

Wir stellen alle diese Fragen selbstverständlich nicht – wie die Genossin Zetkin es sehr treffend gesagt hat – als Großmeister, die die Wahrheit, die absolute Vernunft in ihren Händen halten, und auch nicht als Ärzte am Lager eines Sterbenden, sondern als Internationale, deren Vertreter hier beieinander sind und diesmal zu einem absolut klaren Resultat kommen wollen.

Ich habe nicht alle notwendigen Fragen aufgeführt. Sie werden in der Kommission gestellt werden. Aber unerlässlich ist, dass die diesmal beschlossenen Resolutionen bindend für alle sind. Die Ursache des Versagens der Zweiten Internationale war, dass sie die Resolutionen, die sie fasste, nicht in Anwendung brachte. Wir können Ähnliches nicht dulden.

Meint man, dass wir nicht genügend unterrichtet sind, nun, dann informiere man uns, und lasse uns die Diskussion fortsetzen. Ich würde als erster an die Exekutive das Verlangen stellen, dass sie uns noch einen Tag oder zwei bewilligt, damit die Genossen, vor allem die französischen, uns sagen können, was wir noch nicht wissen. Wir werden in der Kommission, wenn nötig, 24 Stunden am Tage arbeiten, um das gesamte uns zur Verfügung gestellte Material zu prüfen, damit niemand mehr sagen oder schreiben kann: Die Internationale war unzureichend unterrichtet. Wir wollen uns ganz gründlich unterrichten.

Wenn wir dann aber unsere Beschlüsse formuliert und gefasst haben, dann müssen wir verlangen können, dass sie mit der gleichen Gründlichkeit durchgeführt werden.

L. Trotzki.

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