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Leo Trotzki 19220618 Verrat und revolutionäre Pflicht

Leo Trotzki: Verrat und revolutionäre Pflicht

[Nach Russische Korrespondenz, 3. Jahrgang 1922, Heft VI (Juni 1922], S. 408-410]

Die SR bezeichnen noch immer ihre Enthüller als Verräter. Verräter sind aber nicht diejenigen, die sich von der Bourgeoisie abgewendet haben, sondern diejenigen, die zu ihr übergegangen sind. So und nur so wird das Urteil der Geschichte sein.

Golos Rossii" fährt noch immer fort, mit besonderer Nervosität das Thema vom Verrat zu erörtern. Die Frage ist tatsächlich nicht unbedeutend und für die Reste dessen, was sich Partei der SR genannt hat, nicht gleichgültig: Wer sind eigentlich die Verräter? Semjonow, die Konoplowa, Ussow und ihre Gesinnungsgenossen, oder die Gesinnungsgenossen der „Golos Rossii"? Das ist eine große Frage. „Golos Rossii" versucht, diese Frage mit Hilfe einfacher Analogien zu lösen. Asew hat die Partei der SR verraten. Asew wurde von der zaristischen Regierung ausgehalten. Semenow enthüllt die Partei der SR. Semenow ist ein Mitarbeiter der Sowjetregierung, folglich sind Asew und Semenow Verräter. Aber wenn sich die zaristische Regierung auch dieser Verräter bedient hat, so behandelte sie sie mit Widerwillen; während sich die Sowjetregierung nicht nur der Verräter bedient, sondern sie auch moralisch rehabilitiert Als Variationen dieses einfachen Themas werden in der „Golos Rossii" tagtäglich Artikel, einer nach dem anderen, geschrieben.

Es ist eine große Frage und für das Selbstbewusstsein der Reste der Partei der SR nicht gleichgültig. Sie wird aber gelöst nicht auf Grund der Kriterien, die die Redaktion der „Golos Rossii" aufbietet. Hier müssen die Kriterien tiefer liegen.

Als die französischen Matrosen Marti und Badina auf den französischen Kriegsschiffen im Schwarzen Meer den Aufstand entfachten, erklärte die französische patriotische Presse die Aufständischen als Verräter, der Staatsanwalt beschuldigte sie des Verrats, das Gericht verurteilte sie zu Zwangsarbeit.

Sind Marti und Badina wirklich Verräter? Kann man sie mit Asew vergleichen?

Als Soldaten einer „demokratischen Republik" waren sie verpflichtet, Krieg gegen Sowjetrussland zu führen. Beim Eintritt in die Flotte haben sie auf ihren Gehorsam den Eid abgelegt. Es ist leicht möglich, dass sie damals diesen Eid aufrichtig leisteten, d. h. in dem Glauben, dass sie die Demokratie gegen den Imperialismus verteidigten. Es kam aber der Moment, wo sie sich überzeugten, dass die Wahrheit bei dem Sowjet-Odessa und nicht bei den Seekanonen von Frankreich liegt. Sie erhoben die rote Flagge. Sind sie deshalb Verräter! Sind sie deshalb Asew? Diese Frage allein ist einem bösartigen Geschwür ähnlich. Von 10 Arbeitern und Arbeiterinnen, die Sie auf einer beliebigen Straße von Moskau, Berlin, Paris oder New York ansprechen, wird niemand Marti und Badina als Verräter bezeichnen. Sie sind echte Helden, deshalb ruft ihr Name bei den arbeitenden Massen revolutionäre Begeisterung hervor, deshalb stimmen für sie bei den Wahlen in Frankreich breite Massen, weit über die Grenzen der Kommunistischen Partei hinaus.

Warum das alles? Eben deshalb, weil die Sache, der die Kriegsflotte im Schwarzen Meer gedient hat, nicht die Sache der arbeitenden Massen war, sondern gegen sie gerichtet war und in ihren Augen keine moralische Berechtigung hatte. Der Kampf gegen diese Sache erregt ihre Sympathie, und je energischer der Kampf, desto deutlicher tritt ihre .Sympathie hervor. Die Geschichte misst die Ereignisse und die Menschen nicht mit dem moralischen Maßstab der „Golos Rossii", sie hat ihren eigenen Maßstab. Und wenn auch die SR in Reih' und Glied mit den französischen Kriegsschiffen gestanden und derselben Sache gedient haben, der Sache, die die französischen Admirale von Marti und Badina verlangt haben – Kampf gegen die Sowjets mit den Waffen in der Hand –, so hat trotzdem die Geschichte die Namen von Marti und Badina in die Liste der Verräter nicht eingetragen, und diese Bewertung ist ständig und dauernd. Die Redaktion der „Golos Rossii" kann hieran nichts ändern.

Der Italiener Mussolini war als Sozialist Kriegsgegner. Von einem gewissen Moment an ging er in das Lager der Nationalisten über, gründete mit französischem Geld eine täglich erscheinende Zeitung, richtete alle seine Kräfte auf den Kampf gegen die italienischen Kommunisten und wurde einer der Gründer der faschistischen Bewegung. Zweifellos befindet sich unter den Kämpfern, die sich um Mussolini sammelten, eine kleine Anzahl von Arbeitern, die aufrichtig überzeugt sind, dass der Kommunismus das Vaterland, die Demokratie und andere heilige Güter bedroht. Aber Mussolini ist ein Verräter. Ein zweifelloser und vollendeter Verräter, der die Sache der Unterjochten verlassen und sein Schicksal mit den herrschenden Klassen verbunden hat. Deshalb und dafür wird er von ihnen unterstützt. Mussolini kämpft gegen die italienischen Kommunisten, sowie gegen Sowjetrussland, er befindet sich in einer Reihe mit den Tschernow, mit den Götz und ihren Gesinnungsgenossen. Mussolini ist der vollendete Typus eines Verräters.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die meisten Arbeiter, die heute die Faschisten unterstützen, morgen sich feindselig gegen sie wenden werden. Zweifellos werden in dem Maße, wie die kommunistische Bewegung in Italien sich weiter entwickeln wird – und das ist unvermeidlich – immer mehr und mehr Arbeiter und Intellektuelle erscheinen, die den faschistischen Staub von ihren Füßen schütteln, den Mussolini verfluchen und die Gemeinheit seiner Komplotte und Mordtaten enthüllen werden. Mussolini wird sie als Verräter bezeichnen, aber die arbeitenden Massen werden damit nicht einverstanden sein. Und die Geschichte wird den arbeitenden Massen Recht geben. Mussolini ist ein Verräter. Aber diejenigen Arbeiter, Intellektuellen und Bauern, die ihn durchschaut haben, sind keinesfalls Verräter, sondern Sehendgewordene, die den Weg zu den arbeitenden Massen wiedergefunden haben.

Als Karl Liebknecht seinen Protest gegen den deutschen Militarismus erhob, beschuldigte man ihn des Landesverrats. Als er gegen die Disziplin der Partei verstieß und die Machinationen von Scheidemann und Ebert, die sich hinter den Kulissen mit den Ministern der Hohenzollern abspielten, enthüllte, haben Scheidemann und Ebert, unterstützt von den Ministern der Hohenzollern, Liebknecht als Verräter der Interessen des deutschen Proletariats erklärt. Aber die Geschichte wandte diesen Herrschaften den Rücken zu, und sogar einen bestimmten Teil des Rückens. Liebknecht wurde der Geschichte als Vertreter eines heroischen Anfangs übergeben. Das Banner Liebknechts ist das Banner des deutschen Kommunismus. Liebknecht gehört zu uns. Die Zeitungen der Scheidemänner, sowie die Presse Tschernows bezeichnen natürlich Semjonow, die Konoplowa, Ussow und die anderen als Verräter.

Wenn der Arbeiter aus dem freien gewerkschaftlichen Verband in den gelben Verband übertritt, so gilt das als schändlicher Verrat. Wenn aber ein Arbeiter aus dem gelben Verband ehrlich bereuend in den freien Gewerkschaftsverband übertritt, so sieht man gewöhnlich darin einen Erfolg des Klassenbewusstseins und des Klassengewissens. Das ist vielleicht vom Standpunkte der Lehre Kants und des Buddhismus nicht ganz richtig. Aber vom Standpunkt der menschlichen Gesellschaft, die sich in Klassengegensätzen entwickelt, vom Standpunkt der lebendigen, gesunden Arbeiterklasse, die in sich die Zukunft der ganzen Menschheit trägt, ist das ganz richtig. Das kann durch Leitartikel der „Golos Rossii" nicht abgeschafft werden, denn die Geschichte hat sich gegen die „Golos Rossii" gewandt, genau wie gegen Scheidemann.

Vandervelde war Vorsitzender der Internationale. Auf dem letzten Friedenskongress vor dem Krieg, in Basel, hat sich Vandervelde verpflichtet, gegen den Krieg zu kämpfen, und im Falle eines Krieges gegen die Bourgeoisie für die soziale Revolution. Statt dessen trat Vandervelde in den Dienst der Bourgeoisie, zuerst als Minister, und stimmte später, als der Krieg mit dem Sieg der Entente-Bourgeoisie endete, für den Versailler Frieden.

Jacques Sadoul war ein gemäßigter Sozialist, französischer Advokat und Offizier, Mitglied der Kriegsmission in Russland. René Marchand war Korrespondent der reaktionären kapitalistischen Zeitung „Figaro". Die Oktoberrevolution zog sie beide an sich. Der eine brach mit der Mission, der andere mit der Zeitung. Beide brachen mit dem kapitalistischen Frankreich und blieben dadurch längere Zeit von Frankreich abgeschnitten. Sadoul, Guilbeaux, Marchand, Pascal enthüllten die Agenten des französischen Imperialismus, die unsere Städte und eisernen Brücken sprengten und anzündeten, die Mörder aussandten, alles, um die Sowjetmacht zu stürzen. Mit welchem Maßstab wird das alles die Geschichte messen? Vandervelde als wankelmütiger, unentschlossener, misslungener Verteidiger der SR wird der Geschichte als einer der aktiven Urheber des größten politischen Verrats übergeben. Sadoul aber und die anderen werden der Geschichte als Menschen, die hohen moralischen Mut gezeigt haben, übergeben. Es lässt sich daran nichts andern.

Semjonow, die Konoplowa, Ussow, der junge Ratner und andere, fanden sich unverhofft auf derselben Seite der Barrikaden, wo Liebknecht und Rosa Luxemburg, die durch die Helfershelfer Scheidemanns ermordet wurden, wo auch Sadoul und Guilbeaux, wo auch Wolodarski, der durch Tschernow ermordet wurde, standen. Und wenn Scheidemann und Vandervelde, sowie Tschernow die gewesenen SR, jetzt Gegner Tschernows, als Verräter erklären, so ist dies ganz in der Ordnung. Das Wesentliche ist aber das rechtzeitige Erkennen – wenn auch mit geringer Verspätung – der Gemeinheit des historischen Verrats der SR, denn das bedeutet, sich der Erkenntnis der revolutionären Pflicht zu nähern. Und diejenigen russischen Arbeiter – die glücklicherweise in der Minderheit sind —, in deren Bewusstsein noch Reste der SR-Vorurteile und -Sympathien stecken, werden jetzt durch den ganzen Gang des Prozesses radikal geheilt. Die Clique von Tschernow erscheint vor ihnen als organisierter Verrat. Mit diesem Verrat zu brechen, ihn zu enthüllen, ihn zu brandmarken, bedeutet für die gewesenen SR, den Weg zur Revolution und gleichzeitig zu ihrer eigenen moralischen Wiedergeburt zu finden.

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