Leo Trotzki‎ > ‎1922‎ > ‎

Leo Trotzki 19220513 Wer ist der Verräter?

Leo Trotzki: Wer ist der Verräter?

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 2. Jahrgang Nr. 80 (30. Mai 1922), S. 603 f.]

Die Partei der Sozialistenrevolutionäre steht gegenwärtig neuerdings im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, aber schon auf eine ganz andere Weise als zur Zeit der Märzrevolution. Es kommt oft in der Geschichte vor: irgendeine Partei oder irgendein Mensch ist zunächst begraben, man vergisst ihn auf einige Zeit, und dann erinnert man sich seiner von neuem. Die Partei der Sozialistenrevolutionäre gelangte in einigen Monaten, man möchte sagen in einigen Wochen zur Herrschaft in ganz Russland – so schien es wenigstens – und verlor dann beinahe ebenso schnell ihren Einfluss. Sie wurde zu einer Null. Der bevorstehende Prozess gibt uns einen äußeren Anlass, das merkwürdige Schicksal der Partei der SR zu rekapitulieren. Daraus erklärt sich das Interesse für diese: Es wird hervorgerufen durch das Bedürfnis nach Verstehen ihres Schicksals.

Ich will hier nur eine Seite der Frage berühren, die, wie es mir scheint, in unserer Presse nicht genügend berücksichtigt wurde, aber trotzdem von großer Bedeutung ist: Die Stelle, die die unteren Schichten der Partei – ihre Gemeinen, ihre Unteroffiziere – in der Partei bekleidet haben bzw. gegenwärtig bekleiden.

Noch am Anfang des Jahrhunderts hat Plechanow die Sozialistenrevolutionäre, Sozialistenreaktionäre genannt. Dies war treffend, insofern es die kleinbürgerlich-reaktionären Elemente ihrer Weltanschauung betraf, die mit der Gefahr drohten, die Partei in das Werkzeug der bürgerlichen Konterrevolution zu verwandeln, was sie zuletzt auch in Wirklichkeit taten; denn sobald das Kleinbürgertum sich vom Proletariat trennt, wird es stets und unvermeidlich das Werkzeug der Bourgeoisie. Im Kampfe gegen den Zarismus und den Feudalismus war die Rolle dieser Partei revolutionär, Sie erweckte die Bauern, sie erweckte die breiten Kreise der studierenden Jugend zur politischen Aktivität, sie sammelte unter ihre Fahne bedeutende Gruppen von Arbeitern, die sich materiell oder geistig noch nicht vom Dorfe getrennt hatten, und die die Revolution nicht vom proletarischen Klassenstandpunkt, sondern vom formlosen Standpunkt der „Werktätigen" betrachteten. Die Terroristen gingen in den Zweikampf, gaben ihr Leben für das Leben der zaristischen Würdenträger hin. Wir haben diese Methode kritisiert, da wir der Ansicht waren, dass die Sasonows und die Kaljajews der Sache de Revolution mehr genutzt hätten, wenn sie, anstatt ihre individuellen Kräfte durch die Explosivkraft des Dynamits zu steigern, ihre Energie mit der Energie der Arbeitermassen vereinigt hätten. Aber gerade unsere Arbeit unter den Massen, unsere Kritik und unsere Beleuchtung des Terrors verwandelten diese terroristischen Akte in äußere Anstöße für die revolutionäre Tätigkeit der Massen. Bei den Demonstrationen kam es mehrmals vor, dass die aufopferndsten marxistischen Arbeiter Hand in Hand mit den ebenso aufopfernden „Narodniki"-Arbeitern der zaristischen Polizei und den Kosaken mit der Waffe in der Hand Widerstand leisteten. Später begegneten sie sich bei den sibirischen Zwangsarbeiten, auf dem Wege nach den Gefängnissen und nach der Deportation, in der Deportation. In den unteren Schichten der Partei gab es also trotz der theoretischen Unklarheit ihrer Weltanschauung stets ausgezeichnete Elemente, entschlossen und selbstaufopfernd.

Ein Abgrund trennte aber schon damals einen jungen Petrograder Textilarbeiter, der der Partei der SR angehörte und jeden Augenblick bereit war, sein Leben für die Sache der Arbeiterklasse zu opfern, von den Intellektuellen des Awksentjewschen Typus, von den Heidelberger und sonstigen Studenten, Philosophen, Kantianern, Nitzscheanern, die schon damals sich durch nichts von den kleinbürgerlichen Radikalen Frankreichs unterschieden, durch nichts, mit Ausnahme von etwas stärkeren Illusionen und der niedrigeren Kultur. Es war schon damals den Marxisten klar, wie weit diese zwei Gruppen auseinander gehen werden: Die Arbeiter, die sich noch nicht von dem Einfluss der „Narodniki-Ideologie befreit haben, und die künftigen Parlamentarier, politischen Streber, die es vorläufig nicht eilig hatten, die sozialistische Phraseologie aufzugeben.

Infolge des Krieges und der Revolution schritt die Auflösung der Partei der SR in einem wahnsinnig schnellen Tempo fort. Der vollständige politische und moralische Zerfall der oberen Schichten der Partei wurde gerade dadurch beschleunigt, dass die großen Ereignisse klare und genaue Antworten erzwangen und das Lavieren nicht zuließen. So sehen wir, wie Tschernow in Zimmerwald unerwarteterweise sich der äußersten Linken anschließt, mithin auf den Gedanken der „Nationalen Partei" verzichtet und später einem bürgerlichen Ministerium angehört und – Hand in Hand mit den übrigen Ententeländern – die Julioffensive befürwortet. Schon diese ungeheuerliche Zickzacklinie des Führers der Partei war ein Vorzeichen deren baldigen und endgültigen Unterganges.

Eine große Quantität geschichtlicher Energie war aber noch in der Partei vorhanden. Die heldenhafte Vergangenheit der Partei (die Opfer, die Todesurteile, die. sibirische Zwangsarbeit, die Deportationen) hielt infolge unserer rückschrittlichen sozialen Verhältnisse (die bäuerliche Mehrheit!) die ehrlichen, subjektiv revolutionären Teile der unteren Parteischichten weiter unter der Parteifahne, zur Zeit als die verdummten oberen Parteikreise für das direkte offizielle Lakaientum dem Imperialismus und der Konterrevolution gegenüber vollkommen reif geworden waren. Das ganze in politischer und moralischer Beziehung ungeheuerliche Spiel des Zentralkomitees mit den Mitgliedern der Kampforganisation fand gerade zur Zeit der höchsten Steigerung der inneren Widersprüche in der Partei der SR statt. Die unteren Schichten nehmen ihre Partei und deren Losungen ernst, gehen in aller Richtung, gehen tapfer bis zum Ende. Sie sind bereit, zu töten, ihr Leben für fremde Leben hinzugeben. Ihre subjektiven Motive sind revolutionär. Sie verspäten sich nur, sie sehen nicht die gewaltige Änderung der gesamten Weltlage. Die oberen Schichten sehen dies. Sie wissen genau und unmittelbar, dass der terroristische Kampf gegen die Sowjets von derselben Geldquelle gespeist wird, die gestern den Kampf Nikolaus gegen uns und gegen die Sozialistenrevolutionäre finanzierte. Die oberen Parteikreise können dies nicht sehen. Sie handeln nicht infolge der Tradition und des Beharrungsvermögens. Sie spekulieren auf Gewinn, sie sind sich ihres Verrates, ihres Renegatentums bewusst. Deshalb führen sie dieses diplomatische Spiel mit sich selbst, mit der Geschichte, mit den imperialistischen Alliierten und vor allem mit der eigenen Partei und deren unteren Kreisen. Die Tschernows und die Awksentjews machten sich das Heldentum Sasonows und Kaljajews zunutze und stellten ehrliche und selbstaufopfernde Mitglieder der Kampforganisation Noulens und Lockardt zur Verfügung. Als diese Mitglieder der Kampforganisation den Sinn der geschichtlichen Ereignisse in der neuen Weltsituation erfasst hatten, als sie sich überzeugten, dass sie ihre Bomben auf Geheiß der französischen Botschaft, der englischen Botschaft, der rumänischen Gesandtschaft werfen, schauderten sie vor ihren eigenen Taten zurück, je entschlossener und selbstaufopfernder sie früher bereit waren, den Kampf gegen die Bolschewiki mit Hilfe der Methoden zu führen, die die Partei der Sozialistenrevolutionäre sie in der Illegalität gelehrt hatte, desto größer wurde jetzt ihre Entrüstung, ihre Empörung.

Manche von ihnen überlegten länger, manche kürzer, manche gingen abseits, manche dagegen stellten ihr Leben der Arbeiterrepublik zur Verfügung und führten die gefährlichsten Auftrage an der Bürgerkriegsfront aus. Manche eventuell schwanken auch jetzt. Mit was für einem unfehlbarem Instinkt aber beantwortete die bürgerliche Presse der ganzen Welt das Auftreten Semenows und Konoplewas mit dem Ruf „Renegaten". In der Zeit der Blockade Sowjetrusslands ist sie zu der endgültigen Ansicht gelangt, dass die Sozialistenrevolutionäre, von denen sie früher nichts wusste, nur der linke Flügel der antisowjetistischen Front bzw. ein verbindender Kampfmechanismus für die von Paris und London anbefohlenen militärisch-terroristischen Maßnahmen sind. Und da begegnet man plötzlich einem Aufstande, einem direkten Verrat an diesem linken Flügel! Ein Verrat an der Sache, die gegenwärtig Tschernow mit Poincaré vereinigt. Die geistige Revolte Semenows, Konoplewas und anderer gegen das Parteizentrum und gegen die hinter den Kulissen wirkenden eigentlichen Herren dieses Parteizentrums, gegen die gesamte Partei der Sozialistenrevolutionäre in ihrem gegenwärtigen Zustande ist in Wirklichkeit die unmittelbare Folge all dessen, was die Vergangenheit der Partei der Sozialistenrevolutionäre an Revolutionarismus und an Heldentum aufzuweisen hat. Es gibt nur eine klare Antwort auf die große und einfache Frage: Wem, welcher Sache dienten alle jene Sozialistenrevolutionäre, die bei den terroristischen Zweikämpfen, bei den Straßenkämpfen, bei den sibirischen Zwangsarbeiten und durch die Deportation gefallen bzw. gestorben sind? Der Sache, die gegenwärtig von den Tschernows zusammen mit den Noulens, den Poincarés und den Lloyd Georges betrieben wird, oder der Sache des Arbeiter- und Bauernrusslands, das, wie Genua zeigte, allein gegen die wütenden imperialistischen Hunde kämpft? Jene Sozialistenrevolutionäre, die gegen die korrumpierte Clique, die noch immer die revolutionären Traditionen der Partei sich zunutze zu machen versucht, aufgestanden sind, können mit ruhigem Gewissen erklären, dass gerade sie die Träger all dessen sind, was die Vergangenheit der Partei der Sozialistenrevolutionäre im Zustand der Illegalität an Heldenmut und an Größe aufzuweisen hat.

Kommentare