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Leo Trotzki 19220226 Zur Frage der Einheitsfront

Leo Trotzki: Zur Frage der Einheitsfront

[Nach der Broschüre Die Fragen der Arbeiterbewegung in Frankreich und die Kommunistische Internationale, Verlag der Kommunistischen Internationale, Auslieferungsstelle für Deutschland: Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1922, S. 3-18]

Genossen, ich habe der gestrigen Sitzung nicht beigewohnt, aber ich habe mit Aufmerksamkeit die beiden Reden gelesen, die der von der Exekutive formulierten Taktik grundsätzlich opponieren: die Reden des Genossen Terracini und des Genossen Daniel Renoult.

Nun, ich bin mit Genossen Radek vollständig einverstanden, wenn er sagt, dass die Rede des Genossen Terracini nichts anderes sei als eine neue und, ich muss gestehen, nicht ganz verbesserte Auflage der Einwände, die er seinerzeit gegen einige Thesen des 3. Kongresses gemacht hat

Die Lage hat sich aber seitdem geändert.

Während des 3. Kongresses bestand die Gefahr, dass die italienische Kommunistische Partei oder andere Parteien Aktionen einleiteten, die recht gefährlich werden konnten. Jetzt, im Gegenteil, droht die negative Gefahr, dass die italienische Partei sich von Aktionen enthält, die für die Arbeiterbewegung von großem Nutzen sein können und müssen.

Man kann allerdings sagen, dass diese negative Gefahr nicht so groß ist, wie die positive Gefahr. Aber die Zeit ist ein wichtiger Faktor in der Politik, und wenn wir sie verstreichen lassen, wird sie immer von den Anderen ausgenutzt

Genosse Terracini sagte: Wir sind selbstverständlich für die Massenaktion und für die Eroberung der Massen. Er wiederholt es in seiner Rede mehrere Male. Andererseits aber sagt er: wir sind zwar für den gemeinsamen Kampf des Proletariats, aber gegen die Einheitsfront, wie sie von der Exekutive vorgeschlagen wird.

Genossen, wenn der Vertreter einer proletarischen Partei nicht aufhört zu behaupten: Wir sind für die Eroberung der Majorität des Proletariats, wir sind für die Parole: „Zu den Massen!" – so erscheint dies als ein etwas verspätetes Echo der Diskussionen des 2. Kongresses. Damals standen wir alle im Bannkreise der Vorstellung, dass wir uns bereits im vollen Gange der Revolution befanden; die durch den Krieg bedingten Gefühle und Stimmungen des Proletariats, ziemlich vage Stimmungen für die Revolution – sowohl für die russische Revolution wie für die Revolution im allgemeinen wurden als genügend erachtet für die Revolution selbst. Aber die Ereignisse haben gezeigt, dass diese Wertung ein Irrtum war. Während des dritten Kongresses haben wir darüber diskutiert und uns gesagt: Nein, jetzt beginnt eine neue Etappe, die Bourgeoisie steht augenblicklich nicht ganz fest auf den Füßen, ist aber noch stark genug, um uns Kommunisten zu zwingen, erst das Vertrauen der breitesten Massen der Arbeiter zur Niederkämpfung der Bourgeoisie zu erobern.

Genosse Terracini wiederholt in einem fort: „Wir sind für die Aktion zur Eroberung der Massen." Gewiss, aber wir sind bereits in ein vorgeschritteneres Stadium eingetreten, wir diskutieren jetzt über die Methoden, wie diese Eroberung durch die Aktion vor sich gehen soll. Von diesem Standpunkte aus: wie die Massen zu erobern sind – teilen sich die Parteien ganz natürlich und ganz logisch in drei große Gruppen:

Da sind zunächst die Parteien, die erst am Anfange ihrer Erfolge stehen, und die noch nicht imstande sind, eine große Rolle in der unmittelbaren Aktion der Massen zu spielen. Diese Parteien haben natürlich eine große Zukunft, wie alle anderen kommunistischen Parteien, aber gegenwärtig können sie nicht sehr auf die Aktion der proletarischen Massen rechnen, weil sie als Organisationen zahlenmäßig schwach sind. Diese Parteien müssen folglich einstweilen für die Eroberung der Basis, der Möglichkeit kämpfen, das Proletariat in seiner Aktion zu beeinflussen (unsere englische Partei geht jetzt aus dieser Situation mit immer steigendem Erfolg hervor).

Andererseits gibt es Parteien, die das Proletariat vollständig beherrschen. Ich glaube, Genosse Kolarow behauptet dies mit Recht von Bulgarien. Was will das sagen? Das bedeutet, dass Bulgarien reif ist für die proletarische Revolution, und dass nur die internationalen Verhältnisse dem im Wege stehen. Es ist klar, dass in einer solchen Situation die Frage der Einheitsfront fast gar nicht existiert. In Belgien und England bedeutet sie dagegen den Kampf um die Möglichkeit, das Proletariat zu beeinflussen und an seiner Bewegung mitzuarbeiten.

Zwischen diesen beiden Extremen gibt es Parteien, die eine Macht darstellen, nicht bloß ideell, sondern auch durch ihre zahlenmäßige und organisatorische Stärke. In solcher Lage befindet sich bereits die Mehrheit der kommunistischen Parteien. Ihre Kraft mag ein Drittel der organisierten Avantgarde betragen, ein Viertel, sogar die Hälfte und etwas darüber, – das ändert im allgemeinen nichts an der Situation.

Was für eine Aufgabe haben diese Parteien? Die erdrückende Mehrheit des Proletariats zu erobern. Und zu welchem Zwecke? Um das Proletariat zur Eroberung der Macht, zur Revolution zu führen. Wann wird dieser Moment kommen? Wir wissen es nicht. Vielleicht in sechs Monaten, vielleicht in sechs Jahren. Möglich, dass die Frist in verschiedenen Ländern zwischen diesen beiden Ziffern differieren wird. Aber theoretisch gesprochen ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Vorbereitungsperiode noch länger dauert. Und dann frage ich: was wollen wir während dieser Periode tun? Immer um die Eroberung der Mehrheit, um das Vertrauen der Gesamtheit des Proletariats kämpfen. Dies wird aber nicht heute oder morgen schon erreicht sein; wir sind momentan die Partei der Avantgarde des Proletariats. Und nun noch eine weitere Frage: Soll der Klassenkampf inzwischen stillstehen bis zu dem Augenblick, in dem wir die Gesamtheit des Proletariats erobert haben werden? Ich stelle diese Fragt an Genossen Terracini und auch an Genossen Renoult: Soll der Kampf des Proletariats um das tägliche Brot stillstehen bis zu dem Momente, in dem die Kommunistische Partei, unterstützt von der Gesamtheit der Arbeiterklasse, in der Lage sein wird, die Macht zu ergreifen? Nein, dieser Kampf hört nicht auf, er geht weiter. Die Arbeiter, die zu unserer Partei gehören, und die, die sich ihr nicht anschließen, wie die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei und andere, sie alle sind mehr oder weniger – je nach dem Zeitpunkte und nach dem Charakter der betreffenden Arbeiterklasse – geneigt und befähigt, für ihre unmittelbaren Interessen zu kämpfen; der Kampf für ihre unmittelbaren Interessen wird aber in unserer Epoche der großen imperialistischen Krise immer zu einem revolutionären Kampfe. (Das ist sehr wichtig, ich erwähne es aber bloß nebenbei.)

Und nun weiter. Die Arbeiter, die in unsere Partei nicht eintreten und ihr kein Verständnis entgegenbringen (das ist eben der Grund, warum sie ihr fernbleiben), wollen die Möglichkeit haben, für das Stück täglichen Brotes, für den Bissen Fleisch usw. zu kämpfen. Sie sehen vor sich die Kommunistische Partei, die Sozialistische Partei und begreifen nicht den Grund, warum sie sich geschieden haben. Sie sind an die reformistische CGT, an die Sozialistische Partei Italiens, usw. angeschlossen oder gehören zu keiner Parteiorganisation. Was denken nun diese Arbeiter? Sie sagen sich: diese Organisationen oder Sekten – ich weiß nicht, wie diese wenig bewussten Arbeiter sie in ihrer Sprache nennen – mögen uns die Möglichkeit geben, den Kampf für unsere Tagesnöte zu führen. Wir können ihnen nicht mit der Antwort kommen: „Aber wir haben uns getrennt, um euch eine bessere Zukunft, euer großes Übermorgen vorzubereiten!" Sie werden das gar nicht begreifen, weil sie vollständig von dem ,Heute' in Anspruch genommen sind. Wenn sie imstande wären, dieses für sie durch und durch theoretische Argument zu begreifen, so wären sie in unsere Partei eingetreten. Bei einer solchen Geistesverfassung und vor die Tatsache des Vorhandenseins verschiedener gewerkschaftlicher und politischer Organisationen gestellt, haben sie gar keine Orientierungsmöglichkeit; das Verständnis jeder unmittelbaren Aktion, sei es auch noch so winzig und partiell, bleibt ihnen verschlossen. Da kommt die Kommunistische Partei und sagt ihnen: Freunde, wir gehen getrennt. Ihr seht, das ist ein Fehler, ich will euch die Gründe auseinandersetzen. Ihr begreift sie nicht? Ich bedaure lebhaft, aber wir bestehen bereits, wir Kommunisten, Syndikalisten, Reformisten und revolutionäre Syndikalisten, wir haben. unsere selbständigen Organisationen, aus Gründen, die für uns Kommunisten vollständig ausreichend sind. Nichtsdestoweniger schlagen wir, Kommunisten, eine unmittelbare Aktion für euren Kampf um Brot und Fleisch vor, wir schlagen sie euch und euren Führern vor, jeder Organisation, die einen Teil des Proletariats darstellt!

Das ist ganz im Geiste der Massenpsychologie, der Psychologie des Proletariats, und ich behaupte, dass die Genossen, die voller Eifer (der wohl durch die große Bedeutung und Wichtigkeit der Frage zu erklären ist), dagegen protestieren, weit mehr den schmerzhaften Prozess ihrer noch ganz frischen Trennung von den Reformisten und Opportunisten widerspiegeln als die Stimmung der breiten proletarischen Massen. Ich begreife sehr gut, dass für einen Journalisten, der in derselben Redaktion, sagen wir, der „Humanité", mit Longuet zusammensaß und unter Überwindung großer Schwierigkeiten sich von ihm getrennt hat, die Aussicht, nach alledem sich wieder an Longuet wenden zu müssen, ihm Verhandlungen anzubieten, eine psychologische und moralische Folter ist. Aber die Arbeiterklasse, die Massen, die Millionen französischer Arbeiter scheren sich den Teufel um diese Sachen (man kann „leider!" sagen), denn sie gehören ja nicht zur Partei. Wenn man ihnen aber sagt: Wir Kommunisten ergreifen jetzt die Initiative zur Massenaktion für euer tägliches Brot, – wen werden die Arbeiter dabei verurteilen und an den Pranger stellen! Die Kommunistische Internationale, die französische Kommunistische Partei? Nie und nimmer.

Um euch zu beweisen, Genossen, dass die Bedenken, die in Frankreich, in Frankreich insbesondere, Platz greifen, nicht die Stimmung der proletarischen Massen widerspiegeln, sondern vielmehr ein verspäteter Widerhall des schmerzlichen Trennungsprozesses der alten Partei sind, will ich euch einige Zitate anführen, – ich bitte um Verzeihung, die französischen Genossen machen sich ein wenig über unsere Zitierwut lustig, ein Genosse hat sehr sinnige Bemerkungen gemacht darüber, dass wir in einer Frage sehr „dokumentiert" dastehen, aber es bleibt nichts anderes übrig. Gewiss sind Zitate sozusagen getrocknete Blumen der Arbeiterbewegung, aber wenn man ein bisschen Botanik kennt, und wenn man die Blumen auf der sonnigen Wiese gesehen hat, so hat man auch durch die getrockneten Exemplar ein Nachgefühl der Wirklichkeit.

Ich will euch einen in Frankreich sehr bekannten Genossen zitieren; er repräsentiert jetzt mehr oder weniger die Opposition gegen die Einheitsfront, und zwar in einer für alle fassbaren Manier, er vulgarisiert die Opposition in seiner ironisierenden Art und Weise Hört, was er sagt. Das soll ein Witz sein, für mich ist es ein schlechter Witz, aber immerhin ein Witz:

Sollen wir nicht Einheitsfront mit Briand machen? Nach allem, Briand ist bloß „Dissident", ein Dissident der schlimmsten Sorte, der Urgroßvater der Dissidenten, aber er gehört nichtsdestoweniger zur Familie." („Journal du Peuple", 13. Januar.)

Was bedeutet dies? In dem Augenblicke, wo die Exekutive den Genossen aus Frankreich sagt: Ihr, die französische Partei, repräsentiert bloß einen Teil der Arbeiterklasse, es ist notwendig, die Mittel und Wege für eine gemeinsame Massenaktion zu suchen, in demselben Augenblicke antwortet die Stimme aus Paris:

Wie stände es aber mit der Einheitsfront mit Briand?"

Man kann das für Ironie halten, die Worte sind auch von einer Zeitung gebracht, die speziell die Ironie in diesem Genre pflegt, von dem „Journal du Peuple". Aber ich habe hier eine Äußerung desselben Verfassers in der „Internationale", – und das ist unvergleichlich wichtiger –, er sagt da buchstäblich:

Es sei mir eine einzige Frage gestattet, ohne die leiseste Ironie" (beachtet dies, Genossen, das sind die Worte Victor Merics selbst: „Ohne die leiseste Ironie" … (Zwischenruf: Für dieses Mal! Das kommt nicht oft vor.) … „Wenn diese These in Frankreich angenommen und morgen das Ministerium des Krieges Poincaré über den Haufen geworfen wird und dem Ministerium Briand oder Viviani Platz macht, entschiedenen Anhängern des Friedens, der Entente cordiale unter den Völkern, der Anerkennung der Sowjets, – wird es notwendig sein, dass unsere Abgeordneten im Parlament durch ihre Stimmen die bürgerliche Regierung unterstützen? Und wenn – wer weiß einem der Unsrigen ein Portefeuille angetragen wird, – darf er die Annahme verweigern?" (I.'Internationale" vom 22. Januar.)

Das ist „ohne die leiseste Ironie" gesagt und steht nicht in dem „Journal du Peuple", sondern in der „Internationale", dem Organ unsere! Partei Für Victor Meric handelt es sich nicht um Vereinheitlichung der Aktion des Proletariats, sondern um seine, Victor Merics Beziehungen zu diesem oder jenem Dissidenten, zu den Dissidenten von gestern oder vorgestern. Wie man sieht, stammt sein Argument aus dem Gebiete der internationalen Politik: würde uns in dem Falle, dass die Regierung Briand geneigt wäre, die Sowjets anzuerkennen, die Moskauer Internationale die Zusammenarbeit mit Briand aufzwingen?

Genosse Terracini hat nicht genau das Gleiche gesagt, wie Genosse Meric, aber er hat ebenfalls das Gespenst der drei Mächte, Nummer 3, 2 und 2½, Deutschland, Österreich und Russland heraufzubeschwören versucht. Genosse Sinowjew sagte in der Plenarsitzung und ich in der Kommission, dass einige Genossen in den von uns vertretenen Ansichten oder in unseren „Abirrungen" sogenannte Staatsräsons suchen. Sie sagen: nicht unsere Fehler als Kommunisten, sondern unsere Interessen als russische Staatsmänner drängen uns zur Taktik der Einheitsfront. Die verschleierte Anklage Victor Merics besagt genau dasselbe.

Nun, man erinnere sich, dass bereits auf dem 3. Kongress auf die Tatsache hingewiesen wurde, dass die Märzereignisse in Deutschland von der Rechten, namentlich von den Lakaien der Rechten, als ein Produkt der Moskauer Einflüsterungen zur Rettung der verfahrenen Situation der Sowjets gedeutet wurden. Als auf dem 3. Kongress gewisse, während der Märzaktion zur Anwendung gekommene Methoden verurteilt wurden, war es die äußerste Linke, die KAPD, die behauptete, die Sowjetregierung sei gegen die revolutionäre Bewegung und wünsche die Weltrevolution für eine Zeitlang zu verschieben, um mit der Bourgeoisie des Westens ihre Geschäfte machen zu können.

Jetzt werden dieselben Dinge im Zusammenhang mit der Einheitsfront aufgewärmt.

Genossen, die Interessen der Sowjetrepublik können keine anderen sein als die Interessen der internationalen revolutionären Bewegung. Wenn diese Taktik euch Schaden bringt, Genossen aus Frankreich, oder euch, Genossen aus Italien, so ist sie auch für uns durchaus schädlich. Und wenn ihr glaubt, dass wir dermaßen von unserer Stellung als Staatsmänner absorbiert und hypnotisiert sind, dass wir nicht mehr vermögen, die Interessen der Arbeiterbewegung richtig einzuschätzen und zu begreifen, – nun, dann wäre es angezeigt, in die Statuten unserer Internationale einen Paragraphen einzufügen, dass jede Partei, die in die bedauernswerte Lage gerät, sich der Staatsgewalt bemächtigt zu haben, aus der Internationale ausgeschlossen werden müsse. (Heiterkeit.)

Statt solcher Anklagen, – wohlgemerkt keiner formellen Anklagen, sondern Insinuationen, die Hand in Hand mit den offiziellen und üblichen Lobgesängen auf die russische Revolution einher schreiten, – hätte ich es lieber, dass man uns etwas mehr kritisierte. Wenn wir z. B. von dem Zentralkomitee der französischen Partei einen Brief erhielten folgenden Inhalts: „Ihr macht jetzt die neue ökonomische Politik, gebt Acht, dass ihr euch nicht den Hals brecht, denn ihr habt euch viel zu weit in Beziehungen mit den Kapitalisten eingelassen"; oder wenn uns die französische Delegation sagen würde: „Wir haben eure Truppenparade gesehen, ihr ahmt viel zu viel die Methoden des alten Militarismus nach, das kann einen schlechten Einfluss auf die Arbeiterjugend haben"; oder wenn ihr sagen würdet: „Eure Diplomatie ist viel zu diplomatisch, sie erteilt Interviews, sie schreibt Noten, die uns in Frankreich schaden können", – kurzum, wenn ihr uns offen kritisieren und den Punkt aufs „i" setzen würdet, so wären uns diese aufrichtigen Beziehungen viel wünschenswerter als die oben geschilderte Art. Übrigens, all dies nebenbei!

Nach dem Argumente aus der internationalen Politik gibt es bei Victor Meric ein Argument sentimentalen Charakters:

Natürlich kann dieses Argument auf einfache Arbeiter mit revolutionärer Gesinnung, aber ohne genügende politische Erziehung seine Wirkung nicht verfehlen. Genosse Sinowjew erwähnt dieses Argument in seiner Rede. Genosse Thalheimer sagte: Genossen, wenn es sentimentale Gründe gibt, sich nicht an denselben Tisch mit den Leuten von der 2. und der 2½ Internationale zu setzen, so kommen sie insbesondere für uns Deutsche in Betracht. Aber wie kommt ein französischer Kommunist dazu, eine Behauptung aufzustellen, die so viel besagen will, dass die deutschen Kommunisten dieses revolutionären Geistes entbehren, des Hasses gegen die Verräter und Mörder aus der 2. Internationale bar sind? Ich denke, ihr Hass steht dem Hasse der Literaten und Journalisten nicht nach, die den Ereignissen ferne blieben. Wenn unsere deutschen Genossen dennoch die Taktik der Einheitsfront durchführen, so liegt der Grund darin, dass sie in ihr eine politische Aktion, keineswegs eine moralische Annäherung erblicken.

Das dritte Argument ist mehr oder weniger entscheidend. Wir finden dasselbe in einem Artikel desselben Autors: „Die Seineföderation ist dabei, einen Beschluss in wichtigen Fragen zu fassen: sie lehnt mit starker Majorität die Einheitsfront ab. Das bedeutet einfach, dass sie nach einem Jahre sich nicht beirren lässt. Das heißt, dass, nachdem sie die schmerzliche Operation der Spaltung von Tours durchgemacht hat, sie sich sträubt, wieder alles aufs Spiel zu setzen, und es ablehnt, sich an die Personen zu wenden, von denen wir uns getrennt haben." („L'Internationale" vom 22. Januar 1922.)

So stellt man die Einheitsfront dar. Sie sei die Rückkehr zu der Zeit vor Tours. Und Fabre, der gastfreundliche Fabre sagt, er sei mit der Taktik der Einheitsfront vollkommen einverstanden, mit dem einzigen Vorbehalt – und ich für meine Person habe hier nichts beizufügen :

Hat es also einen Sinn gehabt, die Einheit mit der Pistole in der Hand zu zerstören?" …

Die Sache ist klar. Die Taktik der Einheitsfront wird als Rückkehr zu der Situation vor Tours geschildert, als ein Zusammenarbeiten, ein Burgfrieden, die heilige Allianz mit den „Dissidenten", den Reformisten. Zuerst wird die neue Taktik auf diese Weise dargestellt, und dann diskutiert man, ob sie anzunehmen oder zu verwerfen sei. Meric sagt: ich lehne sie ab, ich gehe dabei mit der Föderation de la Seine; Fabre sagt: nein, ich akzeptiere, ich akzeptiere.

Genossen, auch bei Frossard, der gewiss ein Politiker von großem Werte ist und den wir alle kennen, der die Dinge nicht nur von der humoristischen Seite auffasst, – sogar bei ihm finden wir nicht gewichtigere Argumente. Nein, immer ist es die Idee der Annäherung, der Annäherung an die Dissidenten, und nicht die in Frage kommende Einheitsfront. Und nun frage ich: besteht bei euch in Frankreich diese Frage der Einheitsfront oder nicht?

Die französische Partei zählt 130.000 Mitglieder, die Partei der Dissidenten ist sehr schwach; ich mache euch darauf aufmerksam, dass unsere französischen Genossen die Reformisten „Dissidenten" genannt haben. Aus welchem Grunde? Um sie vor dem Proletariat als die Spalter der Einheitsfront hinzustellen, als Dissidenten, d. h. Sozialverräter. Ähnlicherweise nennt sich die revolutionäre CGT „unitäre", um ihr Hauptziel, die Sicherung der Aktionseinheit des Proletariats, in die Augen springen zu lassen.

Ich könnte auch sagen, dass eure Methoden und Handlungen besser sind als die Argumente, die ihr gegen die von der Internationale vorgeschlagene Taktik ins Feld führt. Ich wiederhole: die Partei hat 130.000 Mitglieder und die Dissidenten, sagen wir, 30, 40 oder 50.000. (Zwischenruf: 15.000! Die Ziffern der Dissidenten sind nicht genau. Es ist sehr schwer, sie zu erfahren.) Sie bilden eine Minorität, aber keineswegs eine verschwindende Minorität.

Und dann die Gewerkschaften. Vor einigen Jahren zählten sie Millionen von Mitgliedern, so haben sie jedenfalls behauptet – die Statistik des französischen Syndicats hat einen größeren Elan als ihre revolutionäre Begeisterung – und gegenwärtig – ich entnehme diese Ziffern den Ausführungen des Genossen Renoult (sie hatten zusammen 500.000 Mitglieder) besitzt die CGT unitaire nach den neuesten, dem Genossen Renoult zugegangenen Berichten etwa 300.000.

Die Arbeiterklasse Frankreichs umfasst Millionen,

die Partei zählt 130.000 Mitglieder,

die revolutionären Syndikate 300.000,

die reformistischen Syndikate 200.000 (vielleicht etwas mehr oder etwas weniger), die Dissidenten 15.000 (30.000 oder 40.000). So ist die Sachlage in Frankreich.

Gewiss befindet sich die Partei in einer sehr günstigen Lage, sie ist die einflussreichste politische Organisation. Aber nicht die dominierende! Was ist diese Partei im gegenwärtigen Moment? Die französische Partei ist das Resultat, der Niederschlag jener großen revolutionären Welle des Proletariats, die aus dem Kriege hervorgegangen war, dank der mutigen Aktion der Genossen, die an der Spitze der Bewegung in diesem Zeitabschnitt standen. Sie haben diesen Schwung der Massen, ihre vagen, aber revolutionären, primitiv revolutionären Gefühle ausgenützt, um die alte Partei in die Kommunistische zu verwandeln.

Die Revolution ist aber nicht eingetreten, sie ist stehen geblieben. Die Massen hatten ein Gefühl, dass sie „heute oder morgen" kommen würde, und nun sehen sie, dass die Revolution nicht ausbricht. Infolgedessen findet ein gewisses Abströmen statt, und in der Partei verbleibt die Elite des Proletariats. Aber die große Masse erlebt einen sozusagen psychologischen Rückschlag. Er äußert sich in der Tatsache, dass die Arbeiter die Gewerkschaft verlassen. Die Gewerkschaften verlieren ihre Mitglieder. Früher zählten diese nach Millionen, jetzt sind sie nicht mehr da, sie traten für einige Wochen oder Monate ein und traten dann wieder aus. Was bedeutet dies? Die große Masse des Proletariats bleibt natürlich dem Ideal der Revolution treu, aber dieses Ideal hat einen nebelhafteren, weniger realisierbaren Charakter erhalten, ist in die Ferne gerückt. Die Kommunistische Partei bleibt, was sie ist, die Kommunistische Partei. Es existiert eine kleine Dissidentengruppe, die während dieser stürmischen Revolutionsperiode ihren ganzen Einfluss und ihre Autorität verloren hat. Aber nehmen wir an, dass die Übergangssituation noch ein Jahr noch zwei, drei Jahre dauert, nehmen wir es an – wir wünschen das nicht, aber tun es, um uns die Lage zu vergegenwärtigen –, wie wird sich die Arbeiterschaft Frankreichs verhalten, wenn es unter solchen Umständen zu einer allgemeinen Aktion im Lande kommen würde? Wie wird sie sich gruppieren? Das ziffernmäßige Verhältnis zwischen der Kommunistischen Partei und den Dissidentenparteien ist 4 : 1, und die vagen revolutionären Gefühle gegenüber den bewusst revolutionären Gefühlen in den Arbeitermassen stehen vielleicht im Verhältnis von 99 : 1.

Diese Lage bekommt einen schleichenden Charakter, ohne sich zu stabilisieren. Nun rückt die Zeit der neuen Wahlen heran. Was wird der französische Arbeiter sagen? Er sagt natürlich: Ja, die Kommunisten sind vielleicht eine gute Partei, sie sind Revolutionäre, aber es gibt gegenwärtig keine Revolution, es handelt sich jetzt nicht um die Revolution, sondern um die Wahlen von heute, um Poincaré, um das letzte starke Aufflammen des Revanche-Nationalismus, ähnlich dem Aufflammen einer Kerze vor dem Erlöschen. Was bleibt nach alledem der Bourgeoisie? Der Block der Linken. Aber für diesen Zweck muss man einen Rückhalt, ein Instrument in der Arbeiterklasse haben. Dieses Instrument sind die Dissidenten. Ist es annehmbar? Wir haben unsererseits großartige Propaganda-Erfolge erzielt mit der „Humanité", die 200.000 Leser besitzt, mit unseren Schulen usw.

Es gibt aber noch andere Mittel, und wir versuchen, die breiten Massen in Bewegung zu bringen durch Veranstaltung von Versammlungen, durch die glänzenden Reden unserer französischen Freunde, welche, wie ihr wisst, Meister in dieser Kunst sind. Also, es kommen die Wahlen. Und eine große Masse von Arbeitern wird sich sagen: ein Parlament des Blockes der Linken ist jedenfalls dem Parlament Poincarés, des nationalen Blockes, vorzuziehen. Das ist ein Moment, wo die Dissidenten eine große Rolle spielen können. Es ist wahr, sie sind in der politischen Organisation nicht zahlreich vertreten. Aber die Reformisten, namentlich in Frankreich, brauchen keine großen Organisationen. Sie besitzen Zeitungen, die zwar nicht viel gelesen werden, weil die indifferenteste, am meisten enttäuschte Masse des Proletariats nichts liest, sie hat ihre Illusionen verloren, sie harrt der Dinge, die da kommen mögen, sie hat einen feinen Spürsinn, ahnt die kommenden Ereignisse, ohne zu lesen. Nur die durch und durch revolutionären Arbeiter haben den Drang zum gedruckten Worte. Unter solchen Verhältnissen kann die Organisation der Dissidenten, dieses kleine Instrument, eine wichtige politische Bedeutung erlangen. Es handelt sich nun für uns darum, von vornherein die Idee des Blocks der Linken vor dem französischen Proletariat zu kompromittieren. Das ist eine sehr wichtige Frage für die französische Partei. Ich sage nicht, dass dieser Block der Linken für uns ein Malheur sein würde. Für uns ist er ebenfalls ein Gewinn, unter der Voraussetzung, dass das Proletariat an ihm nicht beteiligt ist. Die anderen mögen den Block mitmachen, aber nicht die französischen Arbeiter; diese anderen werden sich schon im Voraus blamieren. Die Groß- und Kleinbourgeoisie, die finanzielle und industrielle Bourgeoisie, die bürgerliche Intelligenz, sie alle mögen ihre Kombinationen über den linken Block anstellen, wie es ihnen beliebt, wir aber werden versuchen, daraus Nutzen zu ziehen, und alle Arbeiter, koste es, was es wolle, in der Einheitsfront gegen die Bourgeoisie zu vereinigen, alle Spaltungen und Gruppierungen der Arbeiterklasse überbrückend.

Wir wollen zunächst die Methoden unseres Vorgehens nicht im Voraus präzisieren, nicht fragen: Wird es ein offener oder ein geschlossener Brief an das Zentralkomitee der Dissidenten – falls ein solches existieren würde – sein? Die Hauptsache ist, das linke Bürgertum im Voraus in den Augen der breiten Arbeitermassen zu kompromittieren, es zu zwingen, Farbe zu bekennen. Diese bürgerliche Reservearmee hält sich noch zurück, sie will sich nicht bloßstellen, sie harrt in dem Asyl ihrer Redaktionen und ihrer parlamentarischen Klubs der kommenden großen Ereignisse, sie ist darauf bedacht, dass diese großen und kleinen Ereignisse eintreten, ohne sie in Mitleidenschaft zu ziehen, ohne sie zu kompromittieren. Wenn dann der Moment der Wahlen kommt, treten diese linken Gruppierungen aus ihrer Reserve heraus, stellen sich vor die Massen und sagen: „Ach ja, die Kommunisten … aber wir bieten euch diese und jene Vorteile." Wir Kommunisten haben das größte Interesse daran, diese Herren aus ihrem Asyl, aus ihrer Kammer herauszulocken und sie vor das Proletariat, namentlich auf der Basis der Massenaktion, hinzustellen. So liegen die Dinge, so präsentiert sich für uns die Frage. Es handelt sich nicht um die Annäherung an Longuet, das wäre auch etwas starker Tobak, nicht wahr, Genossen? Wir haben 15-16 Monate lang den französischen Genossen eingeschärft, dass man auch den Longuet hinauswerfen soll. Und nun kommen die Genossen, die damals in Bezug auf die 21 Bedingungen noch nicht ganz sattelfest waren und sagen uns: Ihr zwingt uns die Verständigung mit Jean Longuet auf! Ich begreife sehr wohl, dass ein Arbeiter der Föderation de la Seine nach der Lektüre des Artikels von Victor Meric einen ganz wirren Kopf bekommen muss. Man muss ihm in aller Ruhe den Sachverhalt darlegen und erklären, dass es sich um ganz anderes handelt. Ist er ein kommunistischer Arbeiter, der an unserer Politik reges Interesse nimmt, so soll man ihn geduldig über die Irrtümer der Meric'schen Auffassung aufklären. Man darf nicht den Herren Longuet und Konsorten die Möglichkeit lassen, in ihren Schlupfwinkeln den neuen Verrat ruhig vorzubereiten, wir müssen sie beim Kragen fassen, sie mit Gewalt vor das Proletariat hinstellen und sie zwingen, auf strikte Fragen Antwort zu geben

Wir haben andere Aktionsmethoden, sagt uns Genosse Terracini: wir sind für die Revolution, sie sind gegen die Revolution. Das ist durchaus richtig, ich bin mit Terracini vollkommen einverstanden. Aber wenn dies nicht wäre, so hätte ja die Frage der Einheitsfront überhaupt keine Schwierigkeiten. Gewiss sind wir für die Revolution und die anderen dagegen, aber das Proletariat hat diesen Unterschied nicht begriffen, wir müssen ihn den Arbeitern klarmachen.

Genosse Terracini erwidert: „Aber wir tun dies bereits, wir haben in den Gewerkschaften kommunistische Zellen. Die Gewerkschaften haben eine sehr große Bedeutung. Wir erreichen unser Ziel mittels Propaganda."

Die Propaganda wird von dieser Konferenz nicht untersagt werden, sie ist immer eine ausgezeichnete Sache, die Grundlage für alles; aber es handelt sich darum, sie den neuen Verhältnissen anzupassen, man muss sie auch mit der organisatorischen Rolle der Partei in Einklang bringen.

Ein kleiner, sehr interessanter Auszug aus der Rede des Genossen Terracini:

Als wir den Appell für eine allgemeine Aktion an die Massen ergehen ließen, haben wir durch unsere Propaganda die Mehrheit in den Organisationen erobert."

… „Die Mehrheit" … und dann hat des Verfassers feine Hand die kleine Korrektur vorgenommen: „fast die Mehrheit". Noch ein Punkt, wo wir vollkommen übereinstimmen. Aber was besagt dieses Wort: „fast die Mehrheit"? Sowohl im Russischen wie im Französischen heißt es soviel wie die Minderheit.

Genossen, selbst die Mehrheit bildet noch nicht die Gesamtheit.

Wir haben die Majorität, wir haben 4/7 des Proletariats." Aber 4/7 des Proletariats bilden nicht seine Gesamtheit: die übrigbleibenden 3/7 können sehr wohl eine Aktion der Klasse sabotieren. Es sind doch, wohlbemerkt, 3/7 der Arbeiterklasse!

Das ist es, was ich nicht verstehe. Ich habe es rot und blau unterstrichen, um meinem Staunen Ausdruck zu geben. (Terracini: Das war Ironie. Sie waren nicht im Saale anwesend, als ich sprach.) Gut, wir wollen es fein konvertieren und an Victor Meric per Post senden. Ironie – das ist sein Metier. (Zwischenruf: Es wächst auch in Italien Ironie, wie Sie sehen … Und sogar in Moskau …). Leider, denn, wie ihr seht, man hat mich irregeführt. Aber Scherz beiseite. Was soll das besagen: Keine Spaltung in den Gewerkschaften? Warum denn nicht? Ich habe die Rede des Genossen Renoult mit dem größten Interesse gelesen und fand in ihr sehr lehrreiche Dinge zum Verständnis der französischen Partei. Aber das Gefährlichste in dieser Rede ist die Behauptung, dass wir in dem gegenwärtigen Moment nicht nur mit den Dissidenten, sondern auch mit der reformistischen CGT nichts zu tun haben. Das wird eine angenehme Überraschung für die Anarchisten der CGT unitaire sein, und ich erlaube mir zu bemerken: diese Unterstützung der Anarchisten ist höchst ungeschickt. Gerade in der Gewerkschaftsbewegung habt ihr die Theorie der Einheitsfront angewendet, ihr habt sie mit Erfolg angewendet, und wenn ihr jetzt 300.000 Anhänger zählt gegenüber 200.000 Anhängern von Jouhaux, so verdankt ihr dies, ich bin dessen sicher, zur Hälfte der Taktik der Einheitsfront, denn in der Gewerkschaftsbewegung handelt es sich um die Zusammenfassung der Proletarier aller Schattierungen, aller Richtungen, und somit ist auch die Möglichkeit des Kampfes für die unmittelbaren Forderungen des Proletariats gegeben. Wollten wir die Gewerkschaften nach den verschiedenen Tendenzen spalten, so wäre dies daher ein Selbstmord.

Wir sagten uns: Nein, dieses Terrain ist für uns. Indem wir als Kommunisten unsere Unabhängigkeit bewahren, haben wir die volle Ellenbogenfreiheit, wir haben die Möglichkeit, offen auszusprechen, was wir denken und die anderen zu kritisieren; wir treten in die Gewerkschaften mit diesem Vorhaben und sind sicher, dass wir in einer bestimmten Frist die Majorität hinter uns haben werden.

Jouhaux sah den Boden unter seinen Füßen verschwinden. Unsere Prognose war richtig. Er begann die Spaltung auf dem Wege der Ausschließungen. Wir bezeichneten die Ausschließungen als Verbrechen, denn gerade die Einheit der Aktion sei es, die uns vor allen Dingen notwendig sei. Das war unsere Taktik (Zwischenruf: Das hat Renoult gesagt!) Gewiss, mit den Ausschließungen der Kommunisten haben die Jouhaux die Einheit durchbrochen. Darin liegt ja der Sinn der Einheitsfront. In unserem Kampfe gegen die Reformisten, gegen die Dissidenten, wie ihr sie genannt hat, die Syndikalisten-Reformisten und die Sozialpatrioten müssen wir diese für die Spaltung verantwortlich machen, wir müssen sie fortwährend zwingen, sich über die Möglichkeit einer gemeinsamen Aktion auf dem Boden des Klassenkampf aussprechen. Man muss sie vor die Notwendigkeit stellen, ein offenes „Nein" vor der gesamten Arbeiterklasse auszusprechen.

Wenn die Situation für die Forderungen der Arbeiterklasse günstig ist, müssen wir die Herren nach vorwärts drängen. In zwei Jahren werden wir vielleicht die Revolution haben, und in der Zwischenzeit, nehmen wir so an, wird eine immer breitere Massenbewegung Platz greifen. Glaubt ihr denn, dass die Jouhaux und Merrheim so bleiben werden, wie sie jetzt sind? Nein, sie werden immer versuchen, einen, zwei Schritte nach vorwärts zu tun, und weil es immer Leute ihres Lagers geben wird, die nicht werden mitmachen wollen, so wird es zu einer neuen Spaltung kommen. Wir werden daraus Nutzen ziehen. Das wird natürlich eine Bewegungstaktik sein, eine recht elastische Taktik, aber zugleich durchaus energisch, denn die Leitung bleibt fest in unseren Händen. Und wenn die großen Ereignisse kommen, wird sich – darin stimme ich mit Genossen Terracini vollkommen überein – die Einheit der Aktion von selbst einstellen. Wir werden sie nicht hindern Aber, sagt uns Genosse Terracini, im gegebenen Momente gibt es keine großen Ereignisse, und wir haben keinen Anlass, die Einheitsfront vorzuschlagen. (Terracini: Ich habe dies nie gesagt.) Möglich, dass ich mich irre. Vielleicht sind es nicht Sie, die das gesagt haben. Aber dieses Argument ist hier gebraucht worden, ich habe es in dem Stenogramm gelesen. Die französischen Genossen sagen: Ja, wenn die großen Ereignisse kommen; wenn sie aber nicht kommen, was dann?! Dann müssen wir sie eben durch unsere eigene Initiative einleiten. Ich behaupte, und ich denke, das ist eine Binsenwahrheit –: eines der größten Hemmnisse für den Eintritt dieser Ereignisse, ein psychologisches Hemmnis für das Proletariat, bildet die Tatsache, dass mehrere politische und gewerkschaftliche Organisationen nebeneinander existieren, deren Unterschied die Masse nicht versteht, sie ist im Unklaren darüber, auf welche Weise ihre Aktion verwirklicht werden kann. Dieses psychologische Hemmnis ist selbstverständlich von der größten negativen Bedeutung, es ist der Ausfluss einer Situation, die nicht von uns geschaffen wurde, aber es ist unsere Pflicht, der Masse das Verständnis dieser Situation zu erleichtern. Wir schlagen der betreffenden Organisation eine bestimmte Aktion vor, das entspricht vollkommen der Logik der Dinge. Ich behaupte: wenn die CGT unitaire sich von der Taktik des Ignorierens der gelben CGT leiten lassen wird, so wird dies der größte Fehler sein, den wir in Frankreich begehen können. Und wenn unsere Partei diesen Fehler begeht, so wird sie unter seiner Bürde erdrückt werden, denn die 300 000 Arbeiter in euren Syndikaten, sie sind ja bloß ein Minimum, – das ist ja fast eure ganze Partei, die Anarchisten dazu gezählt

Und wo bleibt das Proletariat Frankreichs? Ihr werdet mir einwenden: jedenfalls geht das Proletariat auch nicht mehr mit den Jouhaux'. Ja, das stimmt. Aber ich behaupte: die nicht organisierten Arbeiter, die am meisten enttäuschten oder geistig trägen Elemente, sie können im Moment einer akuten revolutionären Krisis von uns in den Strudel mitgerissen werden, aber in der Zeit der schleichenden Krise werden sie eher ein Rückhalt für Jouhaux sein. Denn was repräsentiert Jouhaux? Die Indolenz der Arbeiterklasse. Und die Tatsache, dass ihr nur 300 000 Arbeiter vereinigt habt, beweist, dass es noch genug Indolenz in der französischen Arbeiterklasse gibt, obwohl die französischen Arbeiter den zurückgebliebenen Arbeitern anderer Länder unzweifelhaft überlegen sind.

Und nun noch einmal zu der Bloßstellung der Jouhaux. Wie soll das geschehen? Auf welche Weise können wir sie zwingen, sich über die Massenaktion auszusprechen und die Verantwortung auf sich zu nehmen?

Es gibt noch eine ändere Gefahr. Wenn die CGT unitaire einfach der reformistischen CGT den Rücken kehrt und versucht, die Massen durch die revolutionäre Propaganda zu gewinnen, so wird sie vielleicht dieselben Fehler begehen, wie sie der Eisenbahnerverband Frankreichs begangen hat. Ihr wisst sehr gut, dass die Gewerkschaftsbewegung, die gewerkschaftlichen Aktionen sehr schwer zu leiten sind, und wenn wir Jouhaux ignorieren, so ist es gleichbedeutend mit dem Ignorieren der Massen der in ihrem Fortschritt zurückgebliebenen Arbeiter.

So stellt sich mir die Frage dar.

Es gibt noch eine dringende Frage, nämlich die Frage der Konferenz der drei Internationalen. Genossen, man sagt: Die Idee des Zusammenarbeitens mit den Leuten der 2. und 2½ Internationale ist für uns eine große Überraschung. Gewiss, man sollte die Geister auf eine Wendung von solcher Tragweite rechtzeitig vorbereiten. Das stimmt. Die ganze Bewegung ist durch ein Ereignis eingeleitet worden, durch die sogenannte Genueser Konferenz, deren Gedanke ebenfalls ganz plötzlich aufgetaucht war. Als wir die Einladung zu dieser Konferenz erhalten haben, die persönliche Einladung an den Genossen Lenin, war es für uns eine Überraschung, wir haben so etwas nicht erwartet. Wenn diese Konferenz wirklich stattfinden soll, ob in Genua oder in Rom, wird sie mehr oder weniger das Geschick der ganzen Welt bestimmen, soviel es in der Macht der Bourgeoisie liegt. Dann tritt vor das Proletariat die Notwendigkeit, etwas zu tun. Selbstverständlich werden wir Kommunisten alle unsere Kräfte für Propaganda, Meetings, Demonstrationen ansetzen, wir werden alles tun, was im Bereiche unserer Möglichkeiten liegt, aber nicht nur bei den Kommunisten, sondern bei den einfachen Arbeitern, bei der gesamten Arbeiterklasse in Deutschland und In Frankreich ist ein Gefühl vorhanden, vielleicht in vager Form, ein Gefühl, dass man etwas tun muss, um auf die Verhandlungen der Konferenz vom Standpunkte der Interessen des Proletariats Einfluss zu bekommen.

Die 2½ Internationale ergreift die Initiative und ladet uns ein. Wir müssen uns entscheiden: ja oder nein? Sollen wir den Leuten antworten: „Ihr seid Verräter, wir wollen mit euch nichts gemeinsam unternehmen"? Ihr Verrat ist eine längst bekannte Tatsache, man hat ihn schon unzählige Male gebrandmarkt. Die Herren werden aber sagen können: Wir von der 2. und 2½ Internationale wollen durch die Stimme des Weltproletariats einen Druck auf die diplomatische Konferenz der Bourgeoisie ausüben, wir luden die Kommunisten ein, sie weigerten sich aber und antworteten uns mit Schimpfworten. Gewiss, unser kommunistisches Auditorium wird von uns überzeugt werden, denn es ist bereits überzeugt. Es liegt keine Notwendigkeit vor, die Kommunisten nochmals zu überzeugen. Aber die Anhänger der 2. und 2½ Internationale? Haben diese Internationalen noch Anhang unter der Arbeiterschaft? Das ist der Kern der Frage. Wenn ihr sagt: „Nein, die Menschewisten haben ihren Einfluss überall eingebüßt", dann schere ich mich den Teufel um die 2. und Internationale. Aber unglücklicherweise sind die Arbeiter, die an der Seite der 2. und Internationale stehen, viel zahlreicher als jene, die zur 3. Internationale gehören.

Tatsache ist, dass Friedrich Adler sich an uns mit den Worten gewendet hat: Wir laden euch ein, um einen gemeinsamen Druck gegen die Bourgeoisie, gegen ihre Diplomatie zu besprechen bzw. zu beschließen. Sie laden uns ein, uns, und die Arbeiter der ganzen Welt. Wir aber sollen antworten: „Nein, ihr seid Verräter?" Und dies soll alles sein?! Das wäre sicherlich eine recht unglückliche Antwort. Die Scheidemänner, Friedrich Adler, Longuet et tutti quanti, die würden dann leichtes Spiel mit der Arbeiterschaft haben. Seht, werden sie sagen, die Kommunisten nennen uns Verräter; aber wenn wir uns an sie wenden und sie einladen, in nächster Zeit mit uns auf einem genau umschriebenen Gebiet zu arbeiten, verweigern sie ihre Mitarbeit. Lassen wir, Genossen, die Bezeichnung Verräter und Kanaille für später, vielleicht auch für die Zeit der Konferenz selbst; jedenfalls aber dürfen wir nicht in unserem Antwortschreiben sagen: wir gehen nicht mit, weil ihr Verräter seid. Übrigens, ich weiß nicht sicher, ob diese Konferenz stattfinden wird. Manche Genossen beurteilen die Chancen optimistischer, andere wieder pessimistischer. Wenn die Konferenz nicht gelingt, so soll es aber nur durch die Schuld der Scheidemänner sein. Dann könnten wir den Arbeitern sagen: Eure 2. und Internationale sind ohnmächtig zu tun, was sie vorgeschlagen haben. Damit werden wir nicht nur bei den Kommunisten Beifall finden, auch ein Teil der Scheidemann-Leute wird uns Gehör schenken und sagen: es ist etwas faul hier, man hat eine Verständigung vorgeschlagen, die deutschen Sozialdemokraten sind aber nicht gekommen. Dann beginnt unser Kampf gegen die Scheidemänner von Neuem. Wir bringen ihn dann auf eine breitere Basis, die im uns günstig ist. Das ist auch das einzige Resultat, das wir erst üben Ich weiß nicht, Genossen, ob man die Konferenz verschieben könnte, sicherlich hängt es nicht von unserem Willen ab. Zur Vorbereitung der Arbeiter wäre dies sehr wichtig. Aber man schlägt uns diese Konferenz jetzt vor, vor der Genueser Konferenz, und wir müssen Antwort geben.

Und nun zu jenen paar Hundert Arbeitern der Föderation de la Seine, die erklären: solche quasi kommunistischen Parteien, die mit Jouhaux zusammenarbeiten wollen, halte ich mir vom Leibe, nein, ich trete aus der Partei aus. Solchen Genossen möchten wir erwidern: „Mein lieber Freund, du bist jetzt erzürnt, warte ein wenig ab." Wenn er trotzdem geht, werden wir es sehr bedauern, es wird aber nur seine Schuld sein. In drei Wochen bekommt er eine neue Einladung zur Konferenz in Berlin und, siehe da, – Cachin und andere, die früher die Arbeiterklasse vertraten, sind auch da. Nach der Konferenz aber wird der alte Kampf fortgeführt. Die anderen sind demaskiert, mehr als vor der Konferenz. Das ist unser Gewinn, das ist auch alles, was wir wünschen. Aus diesem Grunde glaube ich, dass wir uns einstimmig für die Teilnahme an der Konferenz entscheiden sollen, nicht durch den bereits zum Ritus gewordenen Zuruf, sondern indem wir erklären: Ja, wir sind bereit, die revolutionären Interessen des Proletariats gegenüber diesem neuen Versuch der 2. und Internationale das Proletariat zu hintergehen, zu vertreten und zu versuchen, dem Proletariat über die verbrecherische Politik dieser beiden Internationalen die Augen zu öffnen.