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Leo Trotzki 19221011 Zur Lage

Leo Trotzki: Zur Lage

(Rede auf dem Verbandstag der Textilarbeiter, Moskau, 11. Oktober 1922.)

[Nach Russische Korrespondenz, 3. Jahrgang 1922, Heft VII-X (Juli-Oktober 1922), S. 692-695]

Genossen! Ich bin glücklich, dass es mir die Umstände erlauben, Euren V. Allrussischen Verbandstag zu begrüßen, der fast an der Schwelle des 5. Jahrestages unserer Revolution und unserer Sowjetrepublik zusammengetreten ist.

Wir können noch nicht sagen, dass die größten Gefahren, geschweige denn die größten wirtschaftlichen Schwierigkeiten hinter uns liegen.

Im Laufe dieser fünf Jahre haben wir viel erlitten, viele Fehler gemacht, doch auch viel gelernt. Wir haben von unseren revolutionären Aufgaben, von ihrer Größe nichts aufgegeben, wir haben in diesen fünf Jahren nicht ein Körnchen unserer revolutionären Überzeugung und Kampfbereitschaft eingebüßt, doch wir sind reifer geworden, sehen der Lage besser auf den Grund und hoffen, uns in den nächsten fünf Jahren weniger zu irren. Und wir werden noch fünf Jahre leben, nach ihnen noch weitere fünf Jahre

usw. … Doch wir hoffen, uns in den nächsten fünf Jahren weniger zu irren, als wir uns in den vergangenen fünf Jahren geirrt haben. Und, Genossen, haben wir einmal diese fünf Jahre, die am 7. November ablaufen, durchlebt, so können wir sagen, dass der Sieg unser ist und unser für immer bleiben wird.

Wie schon gesagt, wir haben uns oft geirrt und dies hauptsächlich auf dem Gebiete der elementaren militärischen Selbstverteidigung. Hier versuchten wir in Genua zu einem Ergebnis zu kommen, als wir eine allgemeine Abrüstung vorschlugen.

Wie Ihr wisst, antworteten die Regierungen mit der Weigerung, diesen Vorschlag auf die Tagesordnung zu setzen, dieselben Regierungen, die uns fortwährend des Militarismus beschuldigten. Die Sowjetregierung beschuldigte man des Militarismus! …

Wir zogen hieraus die Konsequenz: wir behielten die Armee bei. 800.000 Mann stehen bei uns unter den Waffen. Dies ist eine große Zahl für ein hungerndes, frierendes und zerrüttetes Land, das gerade beginnt, sich zu erholen – 800.000 Mann unter den Waffen.

In der Ukraine und in der Krim haben wir gerade jetzt den Jahrgang 1901 einberufen. Früher ist eine Mobilisation dieses Jahrgangs nicht vorgekommen.

Und was sehen wir? Ich war in der Krim und bin durch die Ukraine gefahren, und alle Tatsachen und Dokumente zeugen davon, dass die Jugend des Einberufungsjahres 1901 in hellen Scharen dem Rufe Folge leistet und auch nicht einer sich seiner Pflicht entzieht. Von gewaltsamer Heranziehung oder Repressalien kann nicht die Rede sein. Wir wissen, wie die erste Mobilisation vor sich ging und was die Tatsache bedeutet, dass die einberufenen Arbeiter und Bauern des Jahrgangs 1901 in der Ukraine und der Krim, die bedeutend später als Moskau, Petrograd und das Zentrum in die Oktoberrevolution eingetreten waren, gern und mit voller Bereitwilligkeit erscheinen. Das bedeutet erstens eine gewaltige Hebung des politischen Bewusstseins der Völker, die unsere Föderativrepublik bewohnen. Unsere ganze Politik wickelt sich vor uns ab wie ein großer Anschauungsunterricht. Sie lernen zusammen mit ihrer Macht, sie lernen und werden lernen. Sie wissen, was unsere Politik ist, was unsere Armee ist und wozu sie da ist. Zweitens beweist die Tatsache, dass die Jugend freiwillig und geradezu mit Freude erscheint, dass sich die Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und den Bauernmassen bessern, selbst in den Gebieten, wo das Sowjetregime noch nicht so ausgebaut ist wie im Zentrum. Und auch im Zentrum ist es bei weitem noch nicht vollkommen. Das wisst Ihr alle. Zweifellos hat die zur rechten Zeit eingeführte neue Wirtschaftspolitik die Verständigung zwischen der Arbeiterklasse und den Bauernmassen außerordentlich erleichtert und sie geradezu erst möglich gemacht. In dieser neuen Wirtschaftspolitik, die wir oft eine Verkettung zwischen den Arbeitern und Bauern genannt haben, in dieser Verkettung ist das Bindeglied, das die Arbeiter und Bauern vereinigt, vor allen Dingen der Textilarbeiter, denn die Verkettung beginnt mit den Gegenständen des bäuerlichen Massenbedarfs. Wer liefert sie? Der Textilarbeiter! Und unser ganzes künftiges Schicksal hängt davon ab, ob wir in der Lage sind und es verstehen werden – und ich zweifle nicht daran – durch den Apparat der staatlichen Textilindustrie dem Bauern das zu geben, was er braucht und in immer besserer Qualität und zu immer billigeren Preisen! Und wenn noch gestern und vorgestern die Entscheidung über das Schicksal der Sowjetrepublik ganz und gar bei unseren Artilleriedepots, bei unseren Infanterie- und Kavalleriekasernen lag, so entscheidet sich jetzt das Schicksal der Sowjetmacht vor allem auf den Kongressen unserer Produktionsverbände, unserer Wirtschaftsorgane. Ich könnte sagen, dass dort von jenen Lappalien das Sein oder Nichtsein der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik abhängt. Werden wir es fertig bringen, dem Bauern hier diese Ware in .großer Menge und zu billigen Preisen zu geben und werden wir ihm beweisen, dass ihm dies der Sozialismus gibt? Kann der in seinen Fabriken als Staatsmacht organisierte Arbeiter ihm das geben? Beweisen wir ihm dies, so haben wir auf der ganzen Linie gesiegt. Es ist jedoch, wie ich schon erwähnt habe, selbstverständlich, dass wir als Erwiderung darauf, dass man in Genua die Abrüstung ablehnte, und ungeachtet dessen, dass der Schwerpunkt sich auf das Wirtschaftsgebiet verschoben hat und dass in diesem Moment der wirtschaftlichen Verkettung des Proletariats mit dem Bauerntum der Textilarbeiter das wichtigste Bindeglied ist, – die Arbeit und Sorge um die Armee und die Flotte nicht vernachlässigen dürfen. Ich hatte Gelegenheit, Genossen I. N. Kutusow mehrmals im Laufe dieses Jahres in voller Artillerieuniform zu sehen, ja und nicht nur ihn allein. Ihr wisst, dass Textilarbeiter bei uns Führer verschiedener Truppenteile an verschiedenen Orten sind. Hier streiten wir über die Militarisierung der Gewerkschaften, manchmal haben wir auch mit Kutusow gestritten – und er selbst stolziert auf dem Platz herum, dass es ein Vergnügen ist, ihm zuzusehen! (Beifall.)

In der letzten Zeit haben wir auf militärischem Gebiet große Erfolge erzielt. Unsere Armee ist eine durch und durch junge Armee. Zum ersten Mal haben wir große Manöver abgehalten, die ein Examen für die Armee und ihre Tüchtigkeit sind. Dieses Examen hat gezeigt, dass es der Mängel und Fehler viele bei uns gibt, doch der Erfolg ist gewaltig. Ich war jetzt bei der Wiedergeburt der Roten Flotte zugegen. Die Flotte war völlig aufgelöst; da wir jedoch in diesen Jahren bei uns ausländische Schiffe sahen, die ungestraft an Odessa und Kronstadt herankamen, drohten, Ultimaten stellten und Odessa beschossen (dasselbe kam in Noworossiisk bei der Evakuation der Weißen vor), so kamen wir zu der Erkenntnis, dass wir auf jeden Fall eine kleine Flotte brauchten, natürlich nicht für koloniale Eroberungen. Wir sind nicht England; an den Raub von Kolonien, an die Vergewaltigung anderer Völker denken wir nicht, sondern wir denken nur an die Verteidigung unserer Küsten. Daraus ergibt sich unvermeidlich die Schlussfolgerung, dass, solange diese Feinde bestehen, wir im Bestand unserer bewaffneten Macht auch eine Rote Flotte haben müssen. In der Ostsee sehen wir in letzter Zeit Manöver der Roten Flotte, im Schwarzen Meer wohnte ich schon Übungen eines Teils unserer Schwarzmeerflotte bei. Die Presse Europas und der ganzen Welt spricht von dem Wiederaufbau unserer Flotte unter den schwierigsten Bedingungen wie von einem Wunder und entrüstet sich natürlich gleich über unseren Militarismus und Imperialismus. Erst kürzlich schlugen wir in Genua vor: „Lasst uns abrüsten!" Konnten wir etwa erwarten, dass sie es wollten? … Nein! In dieser Hinsicht haben wir genügend Erfahrung. Wir glaubten nicht, dass die Räuber bereit sein würden, das Messer aus den Händen zu lassen, aber wir schlugen den Räubern in höflicher Form vor: fangt an, wir werden schon nicht zurückstehen! Natürlich weigerten sich die Räuber! Wir begannen die Armee zu verringern, sie qualitativ zu verbessern und gleichzeitig unsere Rote Flotte wiederherzustellen. Da begannen sie zu schreien: „Militarismus, Militarismus" usw. „Wozu haben sich Eure Kriegsschiffe in Bewegung gesetzt?" „Eine Sünde ist es schon, dass sie sich in Bewegung gesetzt haben!"

Ein paar Minuten bevor ich zu Euch kam, sprach ich mit einem Franzosen, dem bürgerlichen Radikalen Herriot. Er ist früherer Minister und künftiger französischer Minister, vielleicht auch Präsident. Wir sprachen über Politik, über die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Annäherung usw., als plötzlich unter dem Fenster eine Truppe vorbeimarschierte mit dem Lied: „Für die Macht der Räte." Die Fensterscheiben erzitterten nur so … Ich versichere Euch, auf mein Gegenüber machten diese Klänge einen größeren Eindruck als alle Beweisgründe, die ich ihm erbrachte. Das ist es, Genossen, warum ich mich vor Euch dafür einsetze, dass Ihr auch weiterhin der Roten Armee und Roten Flotte Eure wohlwollende Aufmerksamkeit entgegenbringt.

Noch eine große Frage der internationalen Entwicklung ist nicht gelöst. Die größte Frage steht noch bevor. Die Zersetzung der alten imperialistischen Gruppierungen und die Zersetzung der kapitalistischen Parteien von innen geht ihren Gang. Vielleicht langsamer als wir möchten, doch zu allem gehört Geduld. Die allgemeine Entwicklungslinie – sie ist so, wie wir vorausgesehen, wie wir erwartet haben – kann sich nicht ändern. Dies ist für die Gewerkschaftler eine Frage von höchster Bedeutung. Alle Veränderungen und Kombinationen, die Ebbe und Flut in der Stimmung der Massen, und die allgemeine Entwicklungslinie, das ist es, was nicht aus den Augen verloren werden darf.

Die Frage der neuen Plattform der Menschewiki ist für die Gewerkschaftler von enormer Bedeutung. Die russischen Menschewiki in der Person ihres unbestrittenen Führers Martow haben eine klare und eindeutige Position eingenommen, welche lautet: „Rückkehr zum Kapitalismus, Rückgabe der Fabriken und Werke an die Kapitalisten!" Und danach? …. Danach versprechen sie dem kapitalistischen Russland, für den Achtstundentag und die Interessen der Arbeiter einzutreten. Um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Wohltätigkeit als Arbeiterpartei zu entfalten, sollen die Fabriken, Werke, Gruben und das Land an die Ausbeuter zurückgegeben werden. Ein schönes Programm, und sie erklären direkt: „Wir ändern das Programm." Warum? Weil wir – so sagen sie – bezüglich der Nähe der Weltrevolution in Verwirrung geraten waren. Jetzt haben wir gesehen, dass es noch nicht so weit ist, dass die Revolution in unbestimmter Zukunft liegt. Darum legen wir die Maske ab, erscheinen mit unserem wahren Gesicht und sagen: „Rückgabe der Fabriken und Werke an das Privatkapital!" Die Klarheit in der Arbeiterbewegung wird hierdurch gewonnen. In der nächsten Zeit stehen uns große Schwierigkeiten bevor, vielleicht – eine Unzufriedenheit der Arbeiter, wie wir dies im Finanzwesen und in der Rohstoffversorgung beobachtet haben; das alles kann vorkommen und es wird nicht zum letzten Mal sein. Solche Schwierigkeiten haben die Menschewiki nicht zum ersten Mal ausgenutzt. Welches Programm hatten sie aufgestellt? „Wir sind für die Sowjetmacht, wir sind für den Sozialismus, doch wir – sind gegen die bolschewistischen Fehler, und darum empfehlen wir euch, Massen, das und das zu fordern und dort und dort zu drücken." Das ist ein Programm, das den einen oder anderen Teil der Arbeiterklasse auf gewisse Zeit in Verwirrung hätte bringen können, doch jetzt, am fünften Jahrestag der Sowjetrepublik, bringen uns die Menschewiki ein ganz hervorragendes Geschenk dar, wie wir es uns nicht besser wünschen können: das Programm – „Zurück zum Kapitalismus". Auf dieser Linie gehen wir in der Arbeiterbewegung in den Kampf gegen jeden Versuch der Menschewiki, sich in den Gewerkschaften festzusetzen. Ganz richtig, wir machen dem Kapitalismus Konzessionen Warum? Weil er noch stark ist. Unser Ziel aber bleibt – der Sozialismus. „Ihr macht dem Kapital Konzessionen, macht auch mir, dem Menschewik, eine politische Konzession, weil ich der Handlanger des Kapitals bin!" Darauf sagen wir: Ja! Wir machen dem Kapital Konzessionen, weil es stark ist, doch um das Kapital zu zerschmettern, werden wir dich erwürgen und nach Möglichkeit in kürzester Frist! …"

Genossen, ich will Euch nicht länger Eure Zeit rauben. Euer Kongress nähert sich, soviel ich weiß, seinem Ende. Ich werde damit schließen, womit ich begonnen habe; wir sind jetzt bedeutend vorsichtiger geworden, wiegen alles viel genauer ab, wenn auch jetzt noch viele Sowjetwagen nicht richtig wiegen. Doch trotzdem, wenn wir einen Vergleich ziehen mit 1918, so ist neben den grauen Haaren, die bei einigen von uns gewachsen sind, doch noch allerhand unter dem Schädel hinzugekommen, – wir haben gelernt. und sind klüger geworden. Doch der Schwierigkeiten wird es noch viele geben, und das beste Mittel, diese Schwierigkeiten zu überwinden, ist, durch die Gewerkschaften die engste Verbindung mit den breitesten Volksmassen zu bewahren. Und hierbei kommt der erste Platz gerade dem Textilarbeiter zu. Euer Verband ist nicht nur ein Glied, sondern auch ein Barometer, das das Verhältnis der Arbeiter zu den Bauern, der fortgeschrittensten Schicht der Arbeiter zu den rückständigeren Massen, anzeigt. Diesem Instrument muss die größte Aufmerksamkeit zugewandt werden. Ich zweifle nicht, dass das 6. Jahr unserer Existenz, vorausgesetzt, dass kein Krieg ausbricht, im Zeichen des Wiederaufbaus, der Industrie stehen wird, keines fieberhaften, schnellen, aber eines beständigen. Das 6. Jahr wird gleichzeitig eine Periode des Wachsens und der Stärkung der Gewerkschaften, der Heranziehung aller lebensfähigen, energischen und tätigen Elemente unter den arbeitenden Massen, eine Periode der Erziehung der Jugend und Arbeiterklasse, der fortgeschrittensten Elemente des Dorfes unter Führung der Gewerkschaften sein. Die Gewerkschaften werden in der nächsten Periode eine riesige Rolle spielen und wir wollen hoffen, dass wir, soweit wir die Rote Armee und Flotte nötig haben werden, eine Jugend erhalten, die vorher durch die Schule des Einflusses der Organisationen der Arbeiterklasse, ihrer Produktionsverbände gehen wird. Nicht nur einzelne Eurer Organe oder Leitungen werden Führer des einen oder andern rotarmistischen Truppenteils abgeben, sondern der Allrussische Textilarbeiterverband und alle unsere Gewerkschaften als Ganzes werden wahre Führer unserer bewaffneten Macht im Lande und unserer ganzen Arbeit auf allen Gebieten werden. Das Führertum der Gewerkschaften ist nur das Spiegelbild der Tatsache, dass unsere Arbeiterklasse in immer größerem Maße Herrin des Arbeiter- und Bauernlandes auf allen Gebieten sein wird. Unter dem Zeichen dieser Aufgabe, dieser Perspektive begrüße ich Euch! Es lebe die gesamte russische Arbeiterklasse! (Stürmischer Beifall. Rufe: „Es lebe die Rote Armee! Es lebe der Führer der Roten Armee, Genosse Trotzki!")

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