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Leo Trotzki 19231200 Die soziale Zusammensetzung der Partei

Leo Trotzki: Die soziale Zusammensetzung der Partei


[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-28. Band I, Westberlin 1976, S 349-354]

Es handelt sich bei der inneren Parteikrise natürlich nicht nur um das gegenseitige Verhältnis der Generationen. In einem breiter historischen Sinn entscheidet sich die Frage an der sozialen Zusammensetzung der Partei und besonders an der Bedeutung, die die Betriebszellen und Industriearbeiter in ihr einnehmen. Die erste Aufgabe der Klasse war nach der Machtergreifung die Schaffung eines Staatsapparates, einschließlich der Armee, der wirtschaftlichen Verwaltungsorgane usw. Aber die Errichtung des Staats- und Genossenschaftsapparats usw. brachte schon seinem Wesen nach eine Schwächung und Verdünnung der wichtigsten Betriebszellen der Partei und ein übermäßiges Anwachsen von Verwaltungsleuten, teils proletarischer, teils anderer Herkunft mit sich. Darin liegt ein Widerspruch. Man kann ihn nur durch ernsthafte wirtschaftliche Erfolge, durch ein gesundes Funktionieren des industriellen Lebens überwinden und dadurch, dass ständig Arbeiter, die in der Fabrik bleiben, in die Partei eintreten. Man kann heute schwer voraussagen, mit welcher Geschwindigkeit dieser Prozess vonstatten gehen wird, welche Ebbe- und Flutzeiten er wird durchlaufen müssen. Im augenblicklichen Stadium unserer Wirtschaft muss man natürlich alles tun, um eine möglichst große Zahl von wirklich in der Fabrik Arbeitenden in die Partei zu bekommen. Aber eine ernstzunehmende Veränderung der Zusammensetzung der Partei z.B. in einem Ausmaß, dass die Betriebszellen 2/3 der Partei ausmachen wird nur sehr langsam erreicht werden können und nur auf Grund wirklicher wirtschaftlicher Erfolge. Auf jeden Fall müssen wir noch mit einer sehr lang währenden Periode rechnen, in der die erfahrensten und aktivsten Parteimitglieder – unter ihnen natürlich auch Mitglieder proletarischer Herkunft – in den verschiedensten Stellen des Staatsapparates, der Gewerkschaften, der Genossenschaften und der Partei beschäftigt sein werden. Und schon in dieser Tatsache liegt eine Gefahr, denn darin liegt eine der Quellen des Bürokratismus.

Notwendigerweise nimmt die Erziehung der Jugend in der Partei einen ganz besonderen Platz ein und wird das auch weiterhin tun. Indem wir mittels der Arbeiterfakultäten, der Parteihochschulen und der Fachhochschulen eine neue sowjetische Intelligenz erziehen, die zu einem großen Prozentsatz aus Kommunisten besteht, reißen wir zugleich die jungen Proletarier von ihrem Arbeitsplatz, und zwar nicht nur für die Zeit des Studiums, sondern im Allgemeinen auch für ihr ganzes weiteres Leben. Die Arbeiterjugend, die die Hochschulen durchlaufen hat, wird danach vermutlich vom Industrie-, Staats- oder vom Parteiapparat selbst verschlungen werden. Das ist der zweite Faktor, der das innere Gleichgewicht der Partei zu Ungunsten der wichtigsten Betriebszellen stört.

Die Frage danach, ob die Kommunisten aus dem proletarischen, intellektuellen oder aus einem anderen Milieu stammen, hat natürlich ihre Bedeutung. In der ersten Zeit nach der Revolution spielte sogar die Frage nach dem vor dem Oktober ausgeübten Beruf eine entscheidende Rolle, da die Entfernung aus der Fabrik für diese oder jene Sowjetpflicht etwas kurzfristiges zu sein schien. Jetzt ist in dieser Beziehung ein tiefer Wandel eingetreten. Zweifellos stellen die Vorsitzenden der regionalen Exekutivkomitees (gupsipolkom) oder die Divisionskommissare einen bestimmten Typus der sowjetischen Gesellschaft dar, weitgehend unabhängig davon, aus welchem Milieu jeder einzelne Vorsitzende oder Kommissar stammt. In den letzten sechs Jahren haben sich recht stabile Gruppierungen in der sowjetischen Gesellschaft herausgebildet.

Folglich befinden wir uns in einer Lage und das zudem für eine verhältnismäßig lange Periode in der ein sehr bedeutender und besonders gut vorbereiteter Teil der Partei von den verschiedenen Führungs- und Verwaltungsapparaten, von der ökonomischen und militärischen Leitung verschlungen wird; ein anderer bedeutender Teil befindet sich in der Ausbildung; ein weiterer Teil ist über die Dörfer verstreut und arbeitet auf dem Feld, und nur der Rest (der momentan weniger als 1/6 der Mitglieder umfasst) besteht aus Proletariern, die in der Fabrik arbeiten. Es ist vollkommen klar, dass das Anwachsen des Parteiapparats und die bürokratischen Züge, die mit diesem Wachstum verbunden sind, nicht von den Betriebszellen stammen, die im Apparat zusammengefasst sind, sondern von all den anderen Funktionen, die die Partei mittels der staatlichen Verwaltungs-, Wirtschafts-, Militär- und Erziehungsapparate durchführt. Mit anderen Worten, die Quelle des Bürokratismus in der Partei besteht darin, dass die Aufmerksamkeit und die Kräfte zunehmend mehr auf die Regierungsapparate und -institutionen gerichtet sind, während die Industrie nicht schnell genug wächst.

Angesichts dieser grundlegenden Tatsachen müssen wir uns um so mehr über die Gefahren einer bürokratischen Degeneration bei den alten Kadern der Partei klar werden. Es wäre ein törichter Fetischismus, anzunehmen, diese alten Kader böten nur deshalb, weil sie aus der besten revolutionären Schule der Welt hervorgegangen sind, schon an sich eine Garantie gegen alle Gefahren ideologischer Verarmung und opportunistischer Degeneration. Nein! Die Geschichte wird von Menschen gemacht, aber die Menschen machen die Geschichte keineswegs immer bewusst, ihre eigene inbegriffen. Letzten Endes wird die Frage natürlich durch die großen Faktoren von internationaler Bedeutung entschieden: Durch den Gang der revolutionären Entwicklung in Europa und das Tempo unseres wirtschaftlichen Aufbaus. Es ist aber genau so falsch, fatalistisch, die ganze Verantwortung auf diese objektiven Faktoren zu schieben, wie die Garantie nur im eigenen subjektiven Radikalismus zu suchen, der aus der Vergangenheit ererbt ist. Bei ein und derselben revolutionären Lage und bei ein und denselben internationalen Bedingungen kann die Partei den Zersetzungstendenzen besser oder schlechter widerstehen, und zwar abhängig davon, wie sehr sie sich der Gefahren bewusst wird und wie aktiv sie sie bekämpft. Es ist vollkommen klar, dass die heterogene soziale Zusammensetzung der Partei, die durch die gesamte Situation entstanden ist, alle negativen Seiten des Apparat-Kurses keineswegs abschwächt, sondern sie im Gegenteil ausgesprochen verschärft. Und es kann kein anderes Mittel geben, um den Korps- und Behördengeist einzelner Bestandteile der Partei zu überwinden, als ihre aktive Eingliederung in ein Regime parteiinterner Demokratie. Indem der Parteibürokratismus die „absolute Ruhe" aufrechterhält und alle und alles entzweit, versetzt er zugleichwenn auch auf verschiedene Artden Betriebszellen, den in der Wirtschaft Arbeitenden, den Soldaten und der studierenden Jugend einen harten Schlag. Wie wir gesehen haben, reagiert die studierende Jugend ganz besonders scharf auf den Bürokratismus. Nicht umsonst verlangt Genosse Lenin, dass man die Studenten zum Kampf gegen den Bürokratismus stark hinzuziehen solle. In ihrer Zusammensetzung und ihren Beziehungen reflektiert die studierende Jugend alle sozialen Schichtungen in unserer Partei und ihre Stimmungen. Auf Grund ihrer Jugend und Anteilnahme neigt sie dazu, ihren Stimmungen sofort eine aktive Form zu verleihen. Als studierende Jugend bemüht sie sich, zu erklären und zu verallgemeinern. Damit ist keineswegs gesagt, dass die Jugend in ihrem gesamten Auftreten und all ihren Stimmungen gesunde Tendenzen hat. Wenn es sich so verhielte, würde es eins von zwei Dingen bedeuten: entweder, dass in der Partei alles in Ordnung ist, oder, dass die Jugend aufgehört hat, ihre Partei widerzuspiegeln. Prinzipiell ist die Behauptung richtig, dass nicht die Zellen in den Hochschulen, sondern die in den Fabriken und Werken die Basis unserer Partei bilden. Aber wenn wir sagen, die Jugend sei ein Barometer, so geben wir eben gerade dadurch ihrem politischen Auftreten keine wesentliche, sondern eine symptomatische Bedeutung. Ein Barometer macht das Wetter nicht, sondern misst es nur. Das politische Wetter wird in der Tiefe der Klassen geschaffen und in den Gebieten, in denen die Klassen miteinander in Berührung kommen. Die Betriebszellen schaffen eine direkte und unmittelbare Verbindung zwischen der Partei und der für uns wesentlichen Klasse, dem Industrieproletariat. Die Zellen auf dem Dorf schaffen eine bei weitem schwächere Verbindung zur Bauernschaft. Mit ihr verbinden uns vor allem die Zellen in der Armee, die allerdings unter ganz besonderen Bedingungen stehen. Die studierende Jugend schließlich, die sich aus allen Schichten und Gruppierungen der Sowjetgesellschaft zusammensetzt, spiegelt in ihrem bunten Gemisch all unsere Fehler und Vorzüge, und wir wären Schwachköpfe, würden wir ihren Stimmungen nicht die größte Aufmerksamkeit schenken. Außerdem muss man noch hinzufügen, dass ein bedeutender Teil unserer neuen Studenten aus Parteimitgliedern besteht, die eine für die junge Generation recht ernstzunehmende revolutionäre Praxis besitzen. Und völlig zu Unrecht beschweren sich heute die eifrigsten Apparatschiks über die Jugend. Sie ist unsere Kontrolle und unsere Ablösung und die Zukunft gehört ihr. Aber kehren wir noch einmal zu der Frage zurück, wie die Partei die Heterogenität der verschiedenen Teile und Gruppen in der Partei überwinden kann, die durch ihre Funktionen im Staat voneinander getrennt sind. Wir sagten es bereits und wiederholen es hier nochmals, dass der Bürokratismus in der Partei keineswegs das absterbende Erbe irgendeiner vergangenen Periode ist, sondern ganz im Gegenteil, diese Erscheinung ist im Wesentlichen neu, sie ergibt sich aus den neuen Aufgaben der Partei, aus ihren neuen Funktionen, ihren neuen Schwierigkeiten und Fehlern. Das Proletariat verwirklicht seine Diktatur durch den Sowjetstaat. Die Kommunistische Partei ist die führende Partei des Proletariats und folglich auch seines Staates. Und nun erhebt sich die Frage, wie man diese Führung verwirklichen kann, ohne zu eng mit dem bürokratischen Staatsapparat zu verschmelzen und ohne durch diese Verschmelzung zu degenerieren.

Die Kommunisten sind innerhalb der Partei und innerhalb des Staatsapparats verschieden gruppiert. Im Staatsapparat befinden sie sich in hierarchischer Abhängigkeit voneinander und haben engen persönlichen Kontakt zu Parteilosen. Innerhalb der Partei sind sie alle gleichberechtigt, soweit es sich um die Festsetzung der grundlegenden Aufgaben und Methoden der Parteiarbeit handelt. Die Kommunisten arbeiten in der Fabrik, treten in die Fabrikkomitees ein, führen Unternehmen, Trusts, Syndikate, stehen an der Spitze des obersten Volkswirtschaftsrates (VSNCH) usw. Was die Führung der Wirtschaft durch die Partei betrifft, so berücksichtigt sieund das muss sie auch tundie Erfahrung, die Beobachtungen und Ansichten aller ihrer Mitglieder, die sich auf den verschiedenen Stufen der wirtschaftlichen Verwaltung befinden. Der grundsätzliche und unvergleichliche Vorzug unserer Partei besteht darin, dass sie in jedem beliebigen Augenblick die Industrie mit den Augen eines kommunistischen Drehers, eines kommunistischen Spezialisten, eines kommunistischen Direktors und eines kommunistischen Kaufmanns betrachten kann, und, indem sie die sich gegenseitig ergänzenden Erfahrungen all dieser Arbeiter zusammenfasst, die Linie ihrer Wirtschaftsführung im Allgemeinen wie auch für jeden einzelnen Wirtschaftszweig festsetzen kann.

Es ist vollkommen klar, dass eine derartige wirkliche Parteiführung nur auf der Grundlage einer lebendigen und aktiven Parteidemokratie durchführbar ist. Und umgekehrt, je größer das Übergewicht ist, das die bürokratischen Methoden erhalten, desto mehr wird die Führung der Partei zu einer Verwaltung durch ihre Exekutivorgane (Komitees, Büros, Sekretäre usw.). Wenn dieser Kurs sich verstärkt, so werden sich alle Angelegenheiten in Händen einer kleinen Gruppe von Personen konzentrieren, manchmal eines einzigen Sekretärs, der ernennt, absetzt, Direktiven gibt, zur Verantwortung ruft usw. Bei einer derartigen Degeneration der Führung tritt der grundlegende und unschätzbare Vorteil der Parteiihre vielfältige und kollektive Erfahrungin den Hintergrund. Die Führung bekommt einen rein organisatorischen Charakter und entartet häufig in einfache Kommandiererei und Belästigung. Der Parteiapparat beschäftigt sich immer mehr mit den Einzelaufgaben und -fragen des Sowjetapparats, lebt mit dessen alltäglichen Sorgen, erliegt seinem Einfluss und sieht den Wald vor Bäumen nicht.

Wenn die Parteiorganisation, als Kollektiv, immer reicher an Erfahrung ist als ein beliebiges Organ des Staatsapparats, so kann man das keineswegs von den einzelnen Amtspersonen des Parteiapparats behaupten. Es wäre allerdings naiv zu glauben, ein Sekretär verkörpere, dank seines Titels, die ganze Summe der Kenntnisse und Erfahrung, die für die Führung der Partei notwendig sind. Tatsächlich schafft er sich einen Hilfsapparat mit bürokratischen Abteilungen, mit bürokratischen Informationen und papierenen Bescheinigungen, und durch diesen Apparat, der ihn dem Sowjetapparat näher bringt, entfernt er sich von der lebendigen Partei. Und es geschieht wie in dem berühmten deutschen Wort: „Man glaubt zu schieben und man wird selbst geschoben".

Das ganze Geflecht des bürokratischen Alltags des Sowjetstaates fließt in den Parteiapparat und bewirkt eine bürokratische Veränderung in ihm. Die Partei als Kollektiv bemerkt nicht, dass sie führt, eben weil sie nicht führt. Daher stammen die Unzufriedenheit und die Missverständnisse auch in den Fällen, in denen die Führung tatsächlich recht hat. Aber sie kann sich nicht auf der richtigen Linie halten, wenn sie sich in Bagatellen verausgabt und keinen systematischen, geplanten und kollektiven Charakter annimmt. Auf diese Weise zerstört der Bürokratismus nicht nur den inneren Zusammenhalt der Partei, sondern schwächt auch ihren richtigen Einfluss auf den Staatsapparat. Gerade diejenigen, die am lautesten nach der Führungsrolle der Partei im sowjetischen Staat schreien, bemerken und verstehen das fast nie.

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