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Leo Trotzki 19230512 Alles für den Frieden!

Leo Trotzki: Alles für den Frieden!

Rede des Genossen Trotzki auf der erweiterten Vorstandssitzung des Moskauer Sowjets am 12. Mai 1923.

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 87 (25. Mai 1923), S. 726 f.]

Genossen, gestern trafen in meinem Arbeitszimmer einige Nachrichten und einige Tatsachen zusammen. Ich empfing zwei Genossen, die Delegierten der Arbeiter einer Papierfabrik des Gouvernements Kaiusch. Der eine arbeitet in dieser Fabrik seit 51, der andere seit 46 Jahren. Ein paar Minuten früher erhielt ich vom Volkskommissariat des Äußern die Nachricht über die Ermordung unseres Freundes und Vertreters, des Genossen Worowski. Fast gleichzeitig erhielt ich ein ganzes Paket Zeitungen, die im Auslande die früheren Gutsbesitzer und Kapitalisten unseres Landes herausgeben.

Ich weiß nicht, Genossen, ob ich Euch hier schon darüber sprach, eine wie wütende und unerhört blödsinnige Kampagne von Lügen, Erfindungen und Halluzinationen die weiße Emigrantenpresse jetzt gegen uns führt. Die Periode, in der wir leben, und die sich durch eine große und stets wachsende Einigkeit der Sowjetmacht mit den werktätigen Massen unseres ganzen Bundes, durch eine große revolutionäre Völkerbewegung auszeichnet – diese Periode bezeichnet die halluzinierende bürgerliche Presse als eine Periode … neuer Aufstände in allen Ecken Sowjetrusslands, als eine Periode des Aufstandes eines Regiments nach dem andern, als die Periode des Zerfalls des Staatsapparates und der Kommunistischen Partei. Und wenn man diese in Warschau, Helsingfors, Riga, Reval und anderen Orten erscheinenden Blätter liest, so muss man sich unwillkürlich fragen, wer sie herausgibt und für wen sie herausgegeben werden, oder richtiger, ob denen der Verstand verloren ging, die sie herausgeben oder denen, die sie unterstützen.

Wir müssen sagen, dass sich als Quelle der blödsinnigsten Gerüchte eine Helsingforser Korrespondentengruppe rühmen kann. In wessen Namen schreiben sie das, was wollen sie damit erreichen? Sie wollen den Imperialismus gegen uns hetzen.

Zwischen uns und dem imperialistischen Westen liegt ein Ring von fremden Staaten. Und wenn wider unseren Willen eine dumme und verbrecherische Blockade oder sogar ein Krieg einsetzen würde, so würden die ersten Hiebe kraft der Logik der geographischen Lage diesen Staatenring treffen.

Und nun gestern, als diese zwei Arbeitergreise mir erzählten, was sie seit 1918 erlebten – Hunger, Kälte, einen wirklichen Verfall und Zerfall in den Jahren 1919 und 1920 selbst, zum Teil auch noch 1921 – sagten sie mir, dass es ihnen heute einigermaßen gut geht. Diese Greise, diese Helden der Arbeit, brachten einige Dutzend Formulare mit, die sie dort bezüglich verschiedener wirtschaftlicher und kultureller Bedürfnisse auszufüllen haben. Mit ihren trockenen, von der jahrzehntelangen Arbeit zitternden Fingern zeigten sie mir mit gerechtem Stolz diese Zeichen unserer wiederauflebenden Industrie. Und wir sagen mit ihnen: noch zwei Jahre, drei Jahre, fünf Jahre Arbeit im Frieden, und wir werden unsere Wirtschaft, unsere Schulen und unsere Kultur in die Höhe bringen. Wir sollen an Krieg denken? Wir, mit unseren grenzenlosen Gebieten, unserer vielmillionenköpfigen Bevölkerung und unserer Rückständigkeit, unserer Armut, unserer mangelhaften Kultur, wir sollen an Gewalt, an Eroberungen, an Angriffe denken? Nein, wir sagen: Verflucht sei jeder in unseren Reihen, wer seine Stimme für einen Angriff, für einen Krieg erhebt.

Einer der beiden Arbeiter arbeitet seit 51 Jahren (ich weiß nicht, wie alt Lord Curzon ist) an der Werkbank, und wenn man ihm sagen will, dass wir, der Staat der Arbeiter und Bauern, irgendwelche Angriffsabsichten hätten, versteht er diese Sprache nicht. Er lehnt sie ab. Die Arbeiterklasse würde jeden aus ihren Reihen vertreiben, der nicht mit allen Mitteln den Frieden und die Arbeit verteidigen würde.

Nichtsdestoweniger ist die Luft an den Grenzen der Sowjetrepublik wieder dick geworden, und wir müssen wieder aufmerksam und beängstigt die Pläne nicht nur der Regierungen, sondern auch einzelner Gruppen, einzelner Cliquen innerhalb dieser Regierungen beobachten, weil bei der heutigen Unbeständigkeit der europäischen Politik das Verhalten einzelner Gruppen, einzelner Personen, die an der Spitze einer imperialistischen Macht stehen, den Knoten so verwickeln kann, dass diese Herren dann den Knoten durchschlagen v/erden müssen.

Wir verteidigen mit allen Mitteln den Frieden und unterstützen unsere Diplomatie, die ehrlich, aufrichtig, beharrlich für die Unabhängigkeit des Sowjetbundes mit den Friedensmitteln der Verständigung, der Verhandlungen kämpft. Und ich denke, Genossen, dass jeder Rotarmist – und bei uns ist der Rotarmist vor allem ein Staatsbürger, der sich an dem politischen Leben des Landes aktiv beteiligt – dass jeder Rotarmist heute die Sprache der Sowjetmacht und deren Diplomatie versteht. Es ist eine Sprache der Ruhe, der Ermahnung und der Aufforderung zur Besonnenheit.

Genossen, ich weiß, dass wir hinreichend Grund haben, uns zu empören, unsere geballte Faust zu zeigen und mit den Zähnen zu knirschen. Aber, Genossen, die Situation ist eine solche, dass wir unsere ganze Besonnenheit, Zurückhaltung, Vorsichtigkeit in die Waagschale werfen müssen. Die Arbeiter- und Bauernmasse unseres ganzen Roten Moskaus bewies, dass sie die ganze Gefahr der heutigen Lage erkennt.

Wir wissen nicht, ob der Akt Curzons ein isolierter Akt Großbritanniens ist oder ob es näher oder in derselben Entfernung auch andere gibt, die mit ihm parallel dieselben diplomatischen und vielleicht auch nicht nur diplomatischen Pläne aushecken. Wir wissen das, und nichtsdestoweniger, sondern vielmehr darum machen wir keinen einzigen Schritt, sprechen wir kein einziges Wort aus, das die Lage verschärfen oder den Weg zu einer friedlichen Lösung durch Verhandlungen versperren könnte.

Wir wollen den Frieden über alles. Selbstverständlich nicht um den Preis der Kapitulation, nicht um den Preis der Verwandlung des Sowjetbundes in einen Vasallenstaat des ausländischen Imperialismus. Wir wissen, dass die Regierungen der Entente während dieser Jahre der Nachkriegsperiode und des Versailler Friedens gewohnt sind, mit anderen Völkern, Staaten und Nationen nur in einem Befehls- und Kommandoton zu verkehren. Darauf sagen wir, dass die Kommandoworte nicht bis zum Roten Moskau dringen. (Lang anhaltender Beifall.)

Wir, die Republik der Arbeiter und Bauern, sind zu den größten Zugeständnissen bereit, aber nur auf Grund von Vereinbarungen, Verträgen, auf Grund der Unabhängigkeit und Gleichheit. Und darum stehen wir alle, Genossen, sowohl in der Regierung und im Staatsapparat, wie auch in den Reihen unserer Partei und in den Reihen der vielmillionenköpfigen parteilosen Arbeiter- und Bauernmassen; alle wie ein Mann hinter allen Schritten unserer Diplomatie, die im Interesse des Friedens und der Sicherung der Möglichkeit unternommen werden, die Handelsverträge und wirtschaftlichen Beziehungen mit anderen Ländern aufrecht zu erhalten.

Und wie alle anderen, so steht auch unsere Rote Armee und Rote Flotte hinter unserer Diplomatie (Beifall). Die Armee weiß ja besser als jeder andere, was ein Krieg bedeutet; sie weiß, was ein Krieg heute für uns bedeuten würde. Heute, bei der jetzigen gespannten Lage Europas, würde dies ein Krieg auf Leben und Tod sein; es würde ein Krieg sein, der nicht Monate, sondern vielleicht jahrelang dauern würde. Es würde ein Krieg sein, der alle Mittel und Kräfte unseres Landes verschlingt; es würde ein Krieg sein, der die wirtschaftliche und kulturelle Arbeit auf mehrere Jahre stilllegt. Darum sägen wir: „Möge dieser Kelch an uns vorüber gehen." Wir wollen den Frieden! – das rufen wir allen führenden Elementen des Landes zu, das sagt die Rote Armee, die Rote Flotte, die Fleisch vom Fleische, Blut vom Blute der Arbeiterklasse sind: alles für den Frieden!

Aber, Genossen, wenn dieser Wunsch nach friedlicher Arbeit, den ich aus dem Munde jener beiden Arbeiter hörte, die ein halbes Jahrhundert an der Werkbank verbrachten, wenn dieser Wunsch der aus der Tiefe der Seele der Arbeiter und Bauern des ganzen Sowjetbundes entspringt, wenn unser Friedenswille erfolglos bleibt, wenn der Ring des Imperialismus um uns enger gezogen wird, wenn eine Herausforderung nach der anderen folgt und eine materielle Form annimmt, wenn sich die Bajonette des Imperialismus gegen unsere Brust richten oder sich zu einem Stoß in unseren Rücken erheben, so werden wir sagen:

Die Rote Armee und die Rote Flotte, die eine friedliche Arbeit wünschen, die Rote Armee und die Rote Flotte werden ihre Pflicht immer erfüllen!" (Alle Anwesenden stehen auf und veranstalten eine stürmische Ovation).

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