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Leo Trotzki 19230215 Brief an Claude McKay

Leo Trotzki: Brief an Claude McKay

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 3. Jahrgang Nr. 38 (28. Februar 1923), S. 277 f. Dort erschien es unter dem Titel „Trotzki über die Negerfrage“ mit folgender Vorbemerkung:

Ein Brief des Genossen Trotzki an den Genossen McKay.

Der Poet McKay, der die revolutionären Neger, auf dem 4. Weltkongress der Kommunistischen Internationale vertrat, bat den Genossen Trotzki um Aufklärung einiger Fragen bezüglich des Befreiungskampfes der Negerrasse. Auf einen Teil dieser Fragen antwortet Genosse Trotzki in einem Brief, den wir nachstehend zum Abdruck bringen. Die Redaktion.“

Selbstverständlich würden wir heute das Wort „Neger“ nicht verwenden. Dass es Trotzki nicht in einem abwertenden Sinn gebraucht hat, geht aus diesem ebenso wie aus zahlreichen anderen Texten unmissverständlich hervor.]

Lieber Genosse McKay!

1. Was ist praktisch zu tun, um Frankreich daran zu hindern, dass es schwarze Truppen auf dem europäischen Kontinent verwendet? – das ist Ihre erste Frage.

Dagegen müssen die Schwarzen selbst Widerstand leisten. Es müssen ihnen die Augen geöffnet werden, damit sie sehen, dass, wenn sie dem französischen Imperialismus helfen, Europa zu unterjochen, sie damit sich selbst unterjochen, indem sie die Herrschaft des französischen Kapitals in den afrikanischen und anderen Kolonien unterstützen.

An dieser Aufklärungsarbeit unter den Farbigen ist die Arbeiterklasse Europas und in erster Linie Frankreichs und Deutschlands mit ihrem Blute interessiert. Die Zeit der allgemeinen Resolutionen über das Selbstbestimmungsrecht der Kolonialvölker, über die Gleichheit aller Menschen ohne Rücksicht auf die Hautfarbe usw. ist vorüber. Die Zeit der direkten praktischen Handlung ist gekommen. Jede 10 Neger, die sich unter die revolutionäre Fahne scharen und sich zu einer Gruppe für praktische Arbeit unter den Farbigen vereinigen, sind hundertmal mehr wert als Dutzende von prinzipiellen Resolutionen, von denen die 2. Internationale so reich war. Eine Kommunistische Partei, die sich auf diesem Gebiete auf platonische Beschlüsse beschränken würde, ohne alle ihre Kräfte anzuwenden, um für ihre Ideen in kürzester Frist die möglichst größte Zahl fortgeschrittener Neger praktisch zu erobern, würde nicht den Namen einer Kommunistischen Partei verdienen.

2. Es steht außer jedem Zweifel, dass die Heranziehung von farbigen Truppen für den imperialistischen Krieg und gegenwärtig für die Besetzung deutschen Gebiets einen streng durchdachten und sorgfältig durchgeführten Versuch des europäischen und in erster Linie des französischen und englischen Kapitals darstellt, bewaffnete Kräfte außerhalb des unruhigen Europas aufzubringen und dadurch zu ermöglichen, dass es sich nötigenfalls gegen die revolutionären Massen Europas auf mobilisierte bewaffnete, disziplinierte afrikanische oder asiatische Truppen stützen könne. Auf diese Weise ist die Frage der Verwendung von kolonialen Reserven für die imperialistischen Armeen verknüpft mit der Frage der europäischen Revolution, d. h. mit dem Schicksal der europäischen Arbeiterklasse.

3. Es steht außer jedem Zweifel, dass die Heranziehung der wirtschaftlich und kulturell rückständigen kolonialen Massen in die Weltkonflikte des Imperialismus und noch mehr in die Klassenkonflikte Europas ein sehr riskierter Versuch ist, aus dem Gesichtspunkt der herrschenden Bourgeoisie selbst. Die Farbigen wie auch überhaupt die Eingeborenen der Kolonien bewahren ihren Konservativismus und ihre geistige Unbeweglichkeit nur in dem Maße, in dem sie unter den gewohnten wirtschaftlichen Lebensverhältnissen bleiben. Wenn aber die Hand des Kapitals und noch eher die Hand des Militarismus sie aus ihren gewohnten Existenzbedingungen mechanisch herausreißt und sie zwingt, ihr Leben wegen komplizierter, neuer Fragen und Konflikte aufs Spiel zu setzen (Konflikte zwischen der Bourgeoisie verschiedener Nationen, Konflikte zwischen den Klassen einer und derselben Nation), dann lässt die konservative Hartnäckigkeit ihrer Seele plötzlich nach, und die revolutionären Ideen finden einen raschen Zugang zu ihrem aus dem Gleichgewicht gebrachten Bewusstsein.

4. Deshalb ist es so wichtig, schon heute, schon sofort eine, wenn auch nur kleine Anzahl fortgeschrittener, junger, selbstaufopfernder, an der Hebung des materiellen und moralischen Niveaus der Masse der Neger in hohem Grade interessierter Neger zu haben, die gleichzeitig fähig sind, in ihrem Geiste das Schicksal der Masse der Neger mit dem Schicksal der Metropolen der ganzen Welt und in erster Linie mit dem Schicksal der internationalen Arbeiterklasse zu verbinden.

Die Erziehung von schwarzen Propagandisten ist eine äußerst dringende und wichtige revolutionäre Aufgabe unserer Zeit.

5. In Nordamerika wird die Sache kompliziert durch den abscheulichen Stumpfsinn und die kastenmäßige Überhebung der privilegierten Oberschichten der Arbeiterklasse selbst, die im Neger keinen Arbeits- und Kampfgenossen sehen wollen. Die Politik Gompers' ist auf die Ausnutzung solcher niedriger Vorurteile begründet und ist vorläufig die wirksamste Garantie der Unterdrückung sowohl der weißen als auch der schwarzen Arbeiter. Der Kampf gegen diese Politik auf Leben und Tod muss von verschiedenen Seiten angefasst und auf verschiedenen Linien geführt werden. Eines der wichtigsten Gebiete dieses Kampfes gegen die Verdunkelung des Bewusstseins der proletarischen Massen ist das Erwecken des Gefühls der menschlichen Würde und des revolutionären Protestes unter den schwarzen Sklaven des amerikanischen Kapitals. Diese Arbeit können am besten, wie schon früher erwähnt, nur die selbstaufopfernden und politisch erzogenen revolutionären Neger erfüllen. Selbstverständlich kann und wird die Arbeit nicht im Geiste des schwarzen Chauvinismus geführt werden, der nur ein Gegenstück zum weißen Chauvinismus bilden würde, sondern im Geiste der Solidarität aller Ausgebeuteten ohne Rücksicht auf die Hautfarbe. Welche Organisationsformen für die Bewegung der nordamerikanischen Neger am zweckmäßigsten sind, könnte ich schwer sagen, da die konkreten Bedingungen und Möglichkeiten mir nicht genügend bekannt sind. Aber die Organisationsformen wird man schon finden, sobald nur genügender Wille zur Tat selbst vorhanden sein wird.

Mit kommunistischem Gruß

L. Trotzki.

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