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Leo Trotzki 19231200 Bürokratismus und Revolution

Leo Trotzki: Bürokratismus und Revolution

(Entwurf zu einem nicht gehaltenen Vortrag)

[Nach Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-28. Band I, Westberlin 1976, S 374-380]

1. Die wesentlichen Ursachen, die nicht nur den Gang des sozialistischen Aufbaus erschweren, sondern von Zeit zu Zeit die Revolution vor schwere Versuchungen und Gefahren stellen, sind hinreichend bekannt. Es sind folgende: (a) Die inneren gesellschaftlichen Widersprüche der Revolution, die zur Zeit des Kriegskommunismus mechanisch unterdrückt wurden, sich während der NEP aber unvermeidlich entwickeln und einen politischen Ausdruck suchen; (b) die andauernde konterrevolutionäre Drohung durch die imperialistischen Staaten.

2. Die sozialen Widersprüche der Revolution sind ihre Klassengegensätze. Welches sind die wichtigsten Klassen unseres Landes? – (a) das Proletariat, (b) die Bauernschaft, (c) die neue Bourgeoisie mit den sie umgebenden bürgerlichen Intellektuellen. Wegen ihrer wirtschaftlichen Rolle und politischen Bedeutung kommt der wichtigste Platz dem im Staat organisierten Proletariat und der Bauernschaft zu, die die landwirtschaftlichen Güter produziert, die in unserer Wirtschaft vorherrschen. Die neue Bourgeoisie spielt vor allem eine vermittelnde Rolle, sowohl zwischen der Staatsindustrie und der Landwirtschaft, als auch zwischen den verschiedenen Teilen der Staatsindustrie und den verschiedenen Gebieten der bäuerlichen Wirtschaft. Von ihrer kommerziell-vermittelnden Tätigkeit geht die neue Bourgeoisie auch zur Organisation der Produktion über.

3. Wenn man die Frage nach dem Entwicklungstempo der Revolution im Westen beiseite lässt, wird der weitere Gang unserer Revolution durch das Wachstum der drei wichtigsten Elemente unserer Wirtschaft bestimmt: Die Staatsindustrie, die bäuerliche Landwirtschaft und das private Handels- und Industriekapital.

4. Historische Analogien zur großen französischen Revolution (der Sturz der Jakobiner), wie sie der Liberalismus und der Menschewismus aufstellen, um sich mit ihnen zu trösten, sind oberflächlich und haltlos.

Der Sturz der Jakobiner musste auf Grund der Unreife der sozialen Verhältnisse kommen: Der linke Flügel – verarmte Handwerker und Kaufleute – hatte keine Möglichkeit, sich wirtschaftlich zu entwickeln und konnte daher kein fester Stützpunkt für die Revolution sein; der rechte Flügel – die Bourgeoisie – nahm ständig zu; und schließlich verhinderte das wirtschaftlich und politisch stärker zurückgebliebene Europa die Revolution daran, sich über die Grenzen Frankreichs hinaus auszudehnen.

In all diesen Beziehungen ist unsere Situation bei weitem günstiger. Bei uns ist das Proletariat der Kern und gleichzeitig der linke Flügel der Revolution, und seine Aufgaben und Ziele fallen vollkommen mit den Zielen und Aufgaben des sozialistischen Aufbaus zusammen. Das Proletariat ist politisch so stark, dass, selbst wenn es die Entstehung einer neuen Bourgeoisie duldet, es die Bauernschaft nicht über die Vermittlung der Bourgeoisie und kleinbürgerlicher Parteien an der Staatsmacht teilhaben lässt, sondern direkt, wodurch die Bourgeoisie daran gehindert wird, sich überhaupt am politischen Leben zu beteiligen. Die wirtschaftliche und politische Situation Europas schließt die Ausbreitung der Revolution auf sein Gebiet nicht nur nicht aus, sondern macht sie im Gegenteil unvermeidlich. Wenn also in Frankreich auch die scharfsichtigste Politik der Jakobiner den weiteren Gang der Ereignisse kaum radikal verändern konnte, so kann bei uns angesichts einer weit günstigeren Situation eine richtige politische Linie, die sich nach den Methoden des Marxismus richtet, auf lange Zeit ein entscheidender Faktor beim Schutz der Revolution vor Gefahren sein.

5. Gehen wir von der schlechtesten, für uns ungünstigsten historischen Variante aus. Ein schnelles Wachstum des Privatkapitals würde, falls es sich feststellen ließe, bedeuten, dass die Staatsindustrie und der staatliche Handel, einschließlich der Genossenschaften, die Bedürfnisse der bäuerlichen Wirtschaft nicht befriedigen können. Weiterhin würde daraus folgen, dass das Privatkapital sich immer mehr zwischen den Arbeiterstaat und die Bauernschaft drängen und infolgedessen auch politischen Einfluss auf sie bekommen würde.

Es versteht sich von selbst, dass die Aussicht auf einen derartigen Riss zwischen der Staatsindustrie und der Landwirtschaft, zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft eine große Gefahr für die Sache der proletarischen Revolution bedeuten und den Sieg der Konterrevolution möglich erscheinen lassen würde.

6. Auf welchen politischen Wegen könnte der Sieg der Konterrevolution eintreten, wenn die oben von uns genannten wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben wären? Es gibt da mehrere Möglichkeiten: Entweder einfach den Sturz der Arbeiterpartei; oder ihre allmähliche Degeneration, oder schließlich die Verbindung einer teilweisen Degeneration mit Spaltungen und konterrevolutionären Umwälzungen. Welche dieser Methoden überwiegen würde, hinge vor allem vom Tempo der ökonomischen Entwicklung ab. Falls das Privatkapital nur langsam das Übergewicht über das staatliche bekäme, würde der politische Prozess wohl hauptsächlich als bürgerliche Degeneration des Staatsapparates auftreten, mit den sich daraus ergebenden Folgen für die Partei. Bei einem schnellen Wachstum des Privatkapitals und seinem Bündnis mit der Bauernschaft könnten aktiv konterrevolutionäre Tendenzen vorherrschen, die gegen die Kommunistische Partei gerichtet sind.

Wir stellen diese Entwicklungsmöglichkeit natürlich nicht deshalb so krass dar, weil wir sie für historisch wahrscheinlich halten – im Gegenteil, sie ist sehr unwahrscheinlich – sondern deshalb, weil nur eine derartige Fragestellung eine korrektere und vielseitigere historische Orientierung erlaubt und folglich gestattet, alle nur möglichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Unser größter Vorteil als Marxisten besteht darin, dass wir neue Tendenzen und Gefahren schon im Keim erkennen können.

7. Die Schlussfolgerung, die sich aus dem ergibt, was oben in Bezug auf die Ökonomie gesagt wurde, bringt uns zum Problem der „Schere" zurück, d.h. zur richtigen Organisation der Industrie und ihrer Koordinierung mit dem bäuerlichen Markt. Wenn wir auf diesem Gebiet Zeit verlieren, bedeutet das eine Hemmung im Kampf mit dem Privatkapital. Das ist die Hauptaufgabe und der wichtigste Schlüssel zum Problem der Revolution und des Sozialismus.

8. Wenn die konterrevolutionäre Gefahr, wie wir ausführten, aus bestimmten sozialen Beziehungen erwächst, schließt das keineswegs aus, dass man diese Gefahr durch eine bewusst geplante Politik – auch unter Voraussetzungen, die für die Revolution ungünstig sind – vermindern, verzögern und hinausschieben kann. Eine derartige Verzögerung kann aber ihrerseits auch bei einer sehr ungünstigen Entwicklung die Revolution retten, indem sie entweder im Land eine günstige ökonomische Wendung bringt, oder ein Bündnis mit der siegreichen Revolution in Europa. Auf Grund dessen, was oben über die Wirtschaftspolitik gesagt wurde, brauchen wir also eine bestimmte Staats-, Partei- und parteiinterne Politik, deren Aufgabe darin besteht, die Vermehrung und Erstarkung jener Tendenzen so sehr als möglich zu erschweren, die durch die Schwierigkeiten und Misserfolge der wirtschaftlichen Entwicklung genährt werden und sich gegen die Diktatur der Arbeiterklasse richten.

9. Die Verschiedenheit der sozialen Zusammensetzung unserer Partei spiegelt die objektiven Widersprüche der Revolution mit allen Tendenzen und Gefahren, die sich daraus ergeben:

Die Betriebszellen, die die objektive Verbindung der Partei mit der für die Revolution wesentlichsten Klasse sind, machen heute nur ein Sechstel der Partei aus. Die Zellen in den Sowjetinstitutionen sichern der Partei, trotz all ihrer negativen Seiten, die Führung des Staatsapparates, und daher rührt auch das große spezifische Gewicht dieser Zellen.

Die Bauern-Zellen geben der Partei eine gewisse, wenn bisher auch völlig zersplitterte Verbindung zum Dorf. Die Zellen in der Armee bilden die Verbindung der Partei mit der Armee und über diese vor allem auch mit dem Dorf. In den Zellen der Hochschulen schließlich vereinigen und überschneiden sich alle diese Tendenzen und Einflüsse.

10. Die Betriebszellen sind wegen ihrer Klassenzusammensetzung natürlich die wesentlichsten. Die Tatsache aber, dass sie nur ein Sechstel der Partei bilden, und dass ihre aktivsten Elemente in der Partei ihnen entzogen und in den Partei- und Staatsapparat versetzt wurden, gestattet es der Partei bisher leider noch nicht, sich ausschließlich oder auch nur überwiegend auf diese Industriezellen zu stützen. Ihr Wachstum wird das sicherste Anzeichen für die Erfolge der Partei auf dem Gebiet der Industrie und der Wirtschaft im Allgemeinen sein, und somit die beste Garantie dafür, dass sie ihren proletarischen Charakter behält. Man kann aber wohl kaum schon in nächster Zeit auf ihr schnelles Wachstum rechnen. Folglich muss die Partei ihr inneres Gleichgewicht und ihre revolutionäre Linie in der nächsten Zeit dadurch sichern, dass sie sich auf Zellen verschiedener Zusammensetzung stützt.

11. Eine potenzielle Stütze konterrevolutionärer Tendenzen können die wiedererstehenden Kulaken, Zwischenhändler, Aufkäufer, Pächter sein, mit einem Wort die Elemente, die weit besser dazu geeignet sind, den Staatsapparat einzuwickeln als sofort die Partei. Auf die bäuerlichen und militärischen Zellen können die Kulakenelemente vielleicht einen direkteren Einfluss bekommen, ja sie können sie sogar direkt überzeugen. Hier kommt uns allerdings die Tatsache zu Hilfe, dass die Bauernschaft unter sich gespalten ist. Die Tatsache, dass Kulaken nicht in die Armee – und auch nicht in die Territorialdivisionen – aufgenommen werden, muss nicht nur eine unumgängliche Regel bleiben, sondern muss auch das wichtigste Mittel zur politischen Erziehung der Bauernjugend, der militärischen Einheiten und vor allem der Zellen in der Armee werden. Die führende Rolle der Arbeiter in den Armeezellen muss durch eine politische Gegenüberstellung der arbeitenden Bauernmassen in der Armee und der wiedererstehenden Kulaken verwirklicht werden. Dasselbe gilt auch für die Zellen auf dem Dorf. Natürlich wird der Erfolg dieser Arbeit letzten Endes davon abhängen, inwieweit die staatliche Industrie die Bedürfnisse des Dorfes befriedigen kann. Aber unabhängig davon, wie schnell wir wirtschaftliche Erfolge erzielen werden, darf sich unsere politische Hauptlinie in den Armeezellen nicht einfach gegen die NEP-Männer richten, sondern vor allem gegen die wiedererstehenden Kulaken, die die einzig ernsthafte und historisch denkbare Stütze aller konterrevolutionären Versuche sind. In dieser Beziehung ist eine sorgfältigere Analyse der Heeresbestandteile in Hinblick auf ihre soziale Zusammensetzung notwendig.

12. Zweifellos geraten durch die Zellen auf dem Dorf und in der Roten Armee Tendenzen und Stimmungen in die Partei, – und das wird auch weiterhin geschehen – die mehr oder weniger das Dorf und das, was es von der Stadt unterscheidet, spiegeln. Wäre dies nicht so, dann hätten die Zellen auf dem Dorf keinerlei Wert für die Partei. Dieser oder jener Stimmungsumschwung in diesen Kreisen ist für die Partei eine Mahnung oder Warnung. Ob man sie jeweils im Sinne der Partei führen kann, hängt davon ab, ob die allgemeine und interne Führung der Partei richtig ist, und letzten Endes auch davon, ob wir eine Lösung oder Milderung des Scheren-Problems erreichen.

13. Die wichtigste Quelle des Bürokratismus ist der Staatsapparat. Einerseits verschlingt und absorbiert er eine ungeheure Menge der aktivsten Parteimitglieder und bringt den verantwortungsvollsten unter ihnen bei, wie man Menschen und Dinge verwaltet, nicht aber wie man die Massen politisch führt. Andererseits verlangt er, dass der Parteiapparat ihm seine Hauptaufmerksamkeit zuwendet, und wirkt auf ihn durch seine Verwaltungsmethoden ein. Daher rührt zum großen Teil die Bürokratisierung des Parteiapparates, die die Partei von den Massen zu trennen droht. Gerade diese Gefahr ist heute am ausgeprägtesten, direktesten und deutlichsten. Der Kampf gegen alle übrigen Gefahren musst unter den heutigen Voraussetzungen mit dem Kampf gegen den Bürokratismus beginnen.

14. Es ist des Marxismus unwürdig, anzunehmen, der Bürokratismus sei nur eine Anhäufung übler Kanzleigewohnheiten. Der Bürokratismus ist eine gesellschaftliche Erscheinung, nämlich ein bestimmtes System zur Verwaltung von Menschen und Sachen. Seine Ursache ist die Heterogenität der Gesellschaft und die Unterschiede sowohl der alltäglichen wie auch der fundamentalen Interessen verschiedener Bevölkerungsschichten. Durch mangelnde Kultur bei den breiten Massen wird er noch komplizierter. Bei uns liegt die Hauptquelle des Bürokratismus in der Notwendigkeit, einen Staatsapparat zu schaffen und zu erhalten, der die Interessen des Proletariats und der Bauernschaft unbedingt in einer harmonischen wirtschaftlichen Übereinstimmung verbinden soll, die wir noch längst nicht erreicht haben. Der Zwang, ein stehendes Heer zu unterhalten, stellt eine weitere bedeutende Quelle des Bürokratismus dar. Es ist vollkommen klar, dass gerade die oben genannten negativen sozialen Erscheinungen, die heute den Bürokratismus nähren, die Revolution bedrohen könnten, wenn sie sich weiter entwickeln. Hierzu, wie auch zu einer der Varianten, haben wir oben gesagt: Die wachsende Uneinigkeit zwischen staatlicher und bäuerlicher Wirtschaft, das Erstarken der Kulaken auf dem Dorfe, ihr Bündnis mit dem privaten Handels- und Industriekapital, all das sind – bei einem niedrigen kulturellen Niveau der werktätigen Massen auf dem Dorf und teilweise auch in der Stadt – die Voraussetzungen einer potentiellen konterrevolutionären Gefahr.

Mit anderen Worten: Der Bürokratismus im Staatsapparat und in der Partei ist der Ausdruck der negativsten Tendenzen unserer Situation, der Fehler und Abweichungen unserer Arbeit, die unter bestimmten sozialen Voraussetzungen zur Untergrabung der Revolution führen können. Und hier, wie in so vielen anderen Fällen, wird die Quantität in einem bestimmten Augenblick in Qualität umschlagen.

15. Der Kampf gegen den Bürokratismus des Staatsapparates ist eine außerordentlich wichtige, aber langwierige Aufgabe, die mehr oder weniger mit anderen wesentlichen Aufgaben gleichzeitig in Angriff genommen werden muss; zu diesen Aufgaben zählen der wirtschaftliche Aufbau und die Hebung des kulturellen Niveaus der Massen. Das wichtigste historische Werkzeug zur Lösung all dieser Aufgaben ist die Partei. Selbstverständlich kann sich die Partei nicht künstlich von den sozialen und kulturellen Bedingungen des Landes losmachen. Da die Partei aber eine freiwillige Organisation der Avantgarde, der besten, aktivsten und bewusstesten Elemente der Arbeiterklasse ist, kann sie sich unvergleichlich besser vor den Tendenzen des Bürokratismus schützen als der Staatsapparat. Aus diesem Grund muss man die Gefahr klar erkennen und sie unverzüglich bekämpfen.

Hieraus ergibt sich auch die ungeheure Bedeutung, die einer auf eigener Initiative beruhenden Erziehung der Parteijugend zukommt, einer Erziehung, deren Ziel es ist, den Staatsapparat neuartig zu handhaben und vollständig umzugestalten.

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