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Leo Trotzki 19230616 Der Imperialismus und Sowjet-Russland

Leo Trotzki: Der Imperialismus und Sowjet- Russland

Auszug aus der Rede des Genossen Trotzki auf dem 6. allrussischen Metallarbeiter-Kongress am 6. Juni 1923.

[Nach New Yorker Volkszeitung, 17. und 18. Juli 1923. Die Trotzki-Bibliographie von Louis Sinclair (Vol I, p. 354) und die englische Übersetzung geben den 16. und nicht den 6. Juni als Datum an.]

I.

Im Mittelpunkte der internationalen Politik stehen heute zwei Fragen: die Ruhr und das englische Ultimatum an Sowjet-Russland. Ich werde hier über das letztere sprechen, da es uns unmittelbar berührt.

Worin bestand der Grund des Ultimatums und wodurch lässt sich unsere Nachgiebigkeit gegenüber diesem Ultimatum erklären?

Es muss klar und deutlich gesagt worden: England – es handelt sich hier natürlich um das herrschende bürgerliche England — blieb in diesem Ultimatum nur seiner alten traditionellen Politik treu. Sein jetziges Vorgehen gegen uns kann in gewissem Sinne als die Fortsetzung seines alten Kampfes gegen Russland betrachtet werden.

Worin bestand und besteht die Grundlage der englischen Politik: Man darf nicht vergessen, dass die englische Bourgeoisie die erfahrenste von allen ist. Das Wesen der englischen Politik bestand immer darin, dass es andere Länder gegen einander hetzte, es selbst aber abseits blieb und die Kastanien durch andere aus dem Feuer holen ließ.

Wir kennen ja alle die englische Politik während der Intervention und der Blockade. Während des imperialistischen Krieges verlor Russland 3.080.000 Menschen, während England nur 455.000, d. h. kaum den sechsten Teil dessen an Menschen verlor. Damit sich Lord Curzon jetzt genügend mächtig fühle, uns ein zehntägiges Ultimatum zu überreichen, mussten zu Ehren des englischen Imperialismus über 3 Millionen russischer Arbeiter und Bauern verbluten. Diese Rechnung werden wir der englischen Bourgeoisie auch noch einmal präsentieren. Dann eröffnete England die Epoche der Intervention und der Blockade. England selbst zog nicht in den Krieg, aber es hatte Expeditionstruppen bei Archangelsk und bei Murmansk. Zu welchem Zwecke? Um dort für die Weißgardisten russische Arbeiter und Bauern zu mobilisieren und sie zum Kampfe gegen die roten Arbeiter und Bauern zu zwingen. England selbst verlor dort wahrend der ganzen Zeit der Besetzung nicht mehr als 10 bis 15 Leute, während es Hunderttausende untergehen ließ. Die englische Gegenspionage hatte dort eine erprobte Methode: Jene Leute, die man verdächtigte, dass sie mit der russischen Gegenrevolution nicht allzu sehr sympathisierten, wurden einfach unter das Eis getaucht.

England fordert von uns Schadenersatz für zwei englische Staatsbürger. Wir müssen uns über die Zurückhaltung wundern, die sich Lord Curzon auferlegt hatte, indem er von uns nicht auch für jene 15 oder 30 Engländer, die in Nordrussland gestorben sind, Schadenersatz fordert.

Wir haben den Namen jenes englischen Offiziers noch nicht vergessen, der in Baku unsere 26 Genossen ermorden ließ. Auch für die Angehörigen dieser 26 Genossen werden wir einst von der englischen Bourgeoisie noch Pensionen fordern.

Nun – nach der Periode der bewaffneten Intervention – kam der Umschwung, der Handelsvertrag mit uns. Worin bestanden die Beweggründe dieses Umschwungs? Lloyd George hoffte, dadurch eine Verminderung der Arbeitslosigkeit zu erzielen, und außerdem Russland, wenn nicht durch Gewalt, so durch Geld zu unterjochen. Aber wir haben unsere Kräfte in einer ganz anderen Richtung entwickelt, als es der englischen Bourgeoisie erwünscht gewesen wäre. Außerdem hat sich die Lage in England gebessert, und unsere Rolle in der Gesamt-Bilanz Großbritanniens war nicht allzu groß.

Wir sind wieder in einer verschärften trüben Periode, die die Gefahr ähnlicher oder auch noch ernsterer Komplikationen wie das englische Ultimatum in sich trägt. Abgesehen von der Besserung der wirtschaftlichen Lage in England und zum Teil auch in anderen Ländern Europas (ich spreche nicht von Amerika, wo der Puls des Kapitals mächtig schlägt) kommt das Wesen der kapitalistischen Wirtschaft hauptsächlich in der Ruhrbesetzung zum Ausdruck, die nichts anderes ist als eine Verwüstung und ein potenzieller Krieg. In Europa gibt es kein normales kapitalistisches Leben. Eine so kleine Tatsache, wie der Umsturz in Bulgarien, zeigt auch, dass das Wechselfieber der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, wenigstens in Europa, anhält. Die letzten Telegramme melden, dass der bulgarische Umsturz durch die Agenten Englands und Italiens direkt unterstützt wurde. Heute erhielten wir die Nachricht über den Umsturz in Persien. England, das die Zurückberufung unseres Vertreters in Persien forderte, hat jetzt die persische nationale Regierung, die sich unbestreitbar auf die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stützte, gestürzt und eine Agentur eingesetzt. Die Ruhrgeschichte ist noch nicht zu Ende. Jeden Tag erwachsen aus ihr neue Konflikte in der Form von Erschießungen und Verhaftungen. In Frankreich haben die Royalisten, die sich in französische Faschisten verwandelten, den Angriff auf die Staatsmacht begonnen.

Gleichzeitig können wir sehr ernste Symptome für eine Neuorientierung der Bourgeoisie wahrnehmen, vor allem in Frankreich, dann aber auch in England. In Frankreich beginnen die Sieges-Illusionen, die der Nationalblock verstreut hat, nicht nur unter den Arbeitern, sondern auch unter den Bauern zu verschwinden und die Bourgeoisie stellt sich an die Seite des linken Blocks der Radikalen, Radikalsozialisten und Menschewiki. Die nächsten Wahlen in 11 bis 12 Monaten werden aller Wahrscheinlichkeit nach den Sieg des linken Blocks mit sich bringen, und das wird zu einer Verständigung in irgendeiner Form mit Sowjet-Russland führen. Das bedeutet nicht, dass der linke Block uns gegenüber freundlicher gesinnt wäre, aber in seiner Herrschaft wird die Ohnmacht der Bourgeoisie, ihre Impotenz, gegen Sowjet-Russland zu kämpfen, zum Ausdruck kommen.

Die Konservativen in England sind auch nicht für immer gewählt. Und die Arbeiterpartei, d. h. die englischen Menschewiki und Liberalen, die Unabhängigen und alles, was man zusammen das englische Kerenskitum nennen möchte, wird die Konservativen ablösen.

Die Unmöglichkeit bis zu dem Zeitpunkt dieser Veränderungen will der konservative Flügel der Bourgeoisie zu einem faschistischen Krieg gegen Sowjet-Russland ausnützen. Worin bestand die Aufgabe des Lord Curzon, als er uns das Ultimatum sandte? Er hoffte, dass wir so handeln wurden, dass man es als Verletzung der großbritannischen Regierung und als Verletzung der öffentlichen Meinung aller englischen Philister, Klein- und Spießbürger – darunter auch der Klein- und Spießbürger in der Arbeiterpartei – auslegen konnte.

Wir mussten es den Philistern nahebringen, worum es sich hier handelt, und da ihr Schädel aus einem Stoffe geschaffen ist. dessen Durchdringung eine längere Zeit erfordert, war die zehntägige Frist nicht ausreichend. Unsere Aufgabe bestand darin, folgendes sagen zu nnen: Du, Lord Curzon, verteidigst die Würde der englischen Nation, wir verteidigen sie noch mehr, bist Du großmütig, so sind wir noch großmütiger, noch viel friedliebender gesinnt; willst Du nicht den Krieg, so wollen wir ihn dreimal nicht! Das war der Sinn unserer Antwort.

II.

Das erste formelle Resultat unserer Politik war, dass es allem Anschein nach keinen Abbruch der Beziehungen geben wird. Wir haben aber keine Garantien für die Beständigkeit der so geschaffenen Lage. Es handelt sich da nicht nur um einen Abbruch der Beziehungen mit Großbritannien. Unsere Nachbarn sind Polen und Rumänien, und trotz aller Versicherungen Lord Curzons über seine friedliebenden Pläne, wollten uns unsere „Freunde" an unserer Westgrenze militärische Schwierigkeiten bereiten, und die ein, zwei Jahre – solange noch die nationalen Blocks voraussichtlich an der Macht sein werden – ausnutzen.

Die Vorsicht, die wir an den Tag legten, hatte gute pädagogische Folgen. Sie machte die Pläne der Bourgeoisie für die Gegenwart zunichte. Wir haben uns wieder eine Atempause für die nächste scharfe Periode errungen. Einen vollständigen Frieden haben wir keinesfalls, vor allem weil die unbeständige Lage in Europa weiter besteht und auch der gigantische revolutionäre Prozess im Osten weiter fortschreitet. Das ist es eben, weshalb England der Beschluss unseres 12. Parteikongresses über die nationale Frage so sehr beunruhigt. Wir entfalten und vervollkommneten unsere nationale Politik und wollen sie in jeder Hinsicht und vor allem innerhalb des Sowjet-Bundes durchfuhren, was auf die Ostvölker äußerst große Wirkung ausüben wird. Insbesondere wollen wir diese Politik auch auf dem Gebiete unserer Heeresorganisation durchführen.

Der Befreiungsprozess der unterdrückten Völker vollzieht sich so rasch, als wir Genossen wünschen. Darum müssen wir alles aufbieten, dass während der nächsten fieberhaften Periode unsere Armee nicht geschwächt, sondern gestärkt werde. Obwohl wir unserer Hauptaufmerksamkeit und unsere größten Kräfte jetzt dem wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes zuwenden, machten wir auch die ersten Schritte zum Aufbau unserer Armee auf Grund des Milizprinzips. Ein Fünftel unserer Infanterie-Divisionen wird nur aus Berufsmilitär bestehen. Die übrigen Soldaten bleiben in der Fabrik oder auf dem Lande und werden nur von Zeit zu Zeit zu Übungen und zur Ausbildung einberufen. Zur Befestigung unserer Armee müssen wir unsere Luftflotte entwickeln. Auf jeden Schlag, sogar auf jeden Nadelstich, der gegen uns gerichtet ist. werden wir durch die Befestigung unserer Luftflotte antworten. Präsentierte man uns ein Ultimatum, so bauten wir eine Aeroplan-Truppe aus und nannten sie „Ultimatum". Eine solche Truppe besteht schon bei uns. Es kam der Umsturz in Bulgarien, und wir stellen eine neue Luft-Truppe auf und nennen sie, wenn Genosse Tschitscherin es unerlaubt, „Das rote Bulgarien". Wenn wir alle Angriffe der Bourgeoisie in Aeroplane verwandeln werden, so werden wir dadurch diesen Angriffen einmal ein Ende setzen können

Aber um unsere Arbeit an der Entfaltung der Luftflotte und unserer ganzen Kriegstechnik möglich und fruchtbar zu gestalten, müssen wir vor allem unsere Industrie und die Grundlage unserer Industrie, die Metall-Industrie entwickeln. Und Metall brauchen wir höllisch dringend. Wir haben sehr wenig Metall. An Stelle von allem, was ich Euch über die internationale Politik erzählt habe, hätte ich auf die Krage, warum Curzon uns sein Ultimatum schickte, einfach antworten können, dass – während in Amerika auf jeden Menschen ungefähr 20 Pud Stahl kommen und bei uns vor dem Kriege auf jeden Einwohner 1 Pud 32 Pfund entfielen – jetzt auf jeden Einwohner 14 Pfund entfallen. Ich denke, dass jeder Arbeiter, vor allem jeder Metallarbeiter unseres Landes sich diese Ziffern einprägen muss. Es gibt keine bessere Propaganda, kein besseres Erziehungsmittel als dieses. Wir haben wenig Metall und die neue Kultur und die neue Technik ist die Technik des Metalls. Die Gewerkschaften erreichten, dass die Arbeiter fast dieselbe Summe auf die Reproduktion seiner Lebensenergie, seiner Nerven und Muskeln verwenden kann, wie vor dem Kriege. Wir führen aber in der Industrie, eine extensive Wirtschaft. Das darf nicht lange so bleiben. Die wichtigste Aufgabe, die unser Schicksal auf eine lange Periode bestimmen wird, ist jetzt die rationelle, wissenschaftliche Organisation der Industrie. Die Konzentration und die richtige Organisierung der Produktion ist heute eine ebenso heikle Aufgabe, wie im Oktober der Kampf um die Staatsmacht

Durch unerhörte Bemühungen bauen wir Schritt für Schritt auf der errungenen Grundlage eine neue Lebensform auf. Auf alle Fragen des Arbeiterlebens, auf alle Kleinigkeiten müssen wir antworten können. Der Arbeiter wird von uns, in erster Reihe von den Gewerkschaften, auf alle Fragen seines Lebens Antwort fordern. Die heute bestehende Lebensform ist noch die alte, kleinbürgerlich-bürgerliche Form. Die Arbeiterklasse wird das Bedürfnis haben, über ihr Alltagsleben nachzudenken. Und die Presse muss jede Kleinigkeit dieses Lebens widerspiegeln.

Die Grundlage der wissenschaftlichen Organisation der Industrie ist das Metall. Unsere Kultur ist aber eine Holzkultur. Das Holz ist ein wunderschönes Ding, aber nur an seinem Platze. Je weiter wir fortschreiten, um so mehr Metall werden wir brauchen. Die künftige Epoche ist die Epoche des Eisens, des Betons und des Glases. In den Blutgefäßen unseres wirtschaftlichen Organismus fließt all zu wenig Eisen. und die nächste Periode unseres wirtschaftlichen Kampfes wird von dem Kampf um das Metall ausgefüllt sein. Mehr Metall für unsere Wirtschaft! Mehr Metall auch im Charakter des Volkes. Es lebe das Metall!

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