Leo Trotzki‎ > ‎1923‎ > ‎

Leo Trotzki 19231222 Der neue Kurs

Leo Trotzki: Der neue Kurs*

[Die Aktion, 14. Jahrgang 1924, Heft 1/2 (Januar), Spalte 9-14, Übersetzung von Alexandra Ramm]

Die Frage der Gruppen- und Fraktionsbildungen hat in der Diskussion den Mittelpunkt eingenommen. Man muss sich in dieser Angelegenheit mit aller Deutlichkeit aussprechen, da es sich um eine akute und verantwortungsvolle Frage handelt, die fast überall falsch gestellt wird. Wir sind die einzige Partei im Lande. Und es kann in der Epoche der Diktatur nicht anders sein. Die mannigfaltigen Bedürfnisse der Arbeiterklasse, des Bauerntums, des Staatsapparats wie sein Personalbestand drücken auf unsere Partei, in dem Bestreben, mit ihrer Hilfe sich einen politischen Ausdruck zu verschaffen. Die Schwierigkeiten und Widersprüche der Entwicklung, die jeweiligen Gegensätze der Interessen verschiedener Teile des Proletariats sowie des Gesamtproletariats und der Bauernschaft – das alles drückt auf die Partei durch ihre Arbeiter- und Bauernzellen, durch den Staatsapparat, durch die studierende Jugend. Sogar episodische, zeitweilige Meinungsverschiedenheiten und -schattierungen sind imstande, den Druck bestimmter, spezieller Interessen auf eine fern liegende Instanz auszuüben. Episodische Meinungsverschiedenheiten und jeweilige Gruppierungen von Ansichten können unter gewissen Bedingungen zu stabilen Gruppierungen werden. Und diese letzteren können sich ihrerseits früher oder später zu organisierten Fraktionen entwickeln. Schließlich unterliegen die sich so bildenden Fraktionen, indem sie gegeneinanderstehen, einem von außerhalb der Partei kommenden Einfluss. Das ist die Dialektik der innerparteilichen Gruppierungen in einer Epoche, in der die Kommunistische Partei notgedrungen die Leitung des politischen Lebens monopolisiert. Was folgt daraus? Will man keine Fraktionen, darf man keine dauernden Gruppierungen wollen. Will man keine dauernden Gruppierungen, vermeide man jeweilige Gruppierungen. Will man aber die Partei von jeweiligen Gruppierungen bewahren, dann muss man darauf achten, dass in der Partei überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten entstehen; denn wo zwei Meinungen sind, gruppieren sich die Menschen stets. Wie aber sind Meinungsverschiedenheiten zu vermeiden in einer Partei von einer halben Million Menschen, die das Leben eines Landes unter besonders komplizierten und schwierigen Verhältnissen leitet?

Das ist das grundlegende Problem, das sich aus der Lage der Partei und der proletarischen Diktatur von selbst ergibt. Und dieses Problem ist durch formale Griffe allein nicht aus der Welt zu schaffen. Jene Anhänger des alten Kurses, die für die Resolution des Zentral-Komitees in der Überzeugung stimmten, dass alles beim alten bleiben würde, urteilen etwa so: „Kaum hat sich der Deckel des Apparats etwas gehoben, und schon haben sich Tendenzen zu allerhand Gruppenbildungen bemerkbar gemacht. Also muss man den Deckel wieder fest schließen." Dutzende von Reden und Artikel „Gegen den Fraktionismus" sind von dieser kurzen Weisheit erfüllt. In der Tiefe ihrer Seele glauben diese Genossen, dass die Resolution des ZK entweder ein politischer Fehler sei, den man vertuschen; oder aber ein Apparat-Trick, den man ausnützen müsse. Ich bin der Meinung, dass sie sich in gröbster Weise irren. Wenn etwas die Partei in verhängnisvollster Weise desorganisieren kann, ist es das Festhalten am alten Kurs unter der Maske der würdevollen Annahme des neuen Kurses. Die öffentliche Meinung der Partei bildet sich unvermeidlich heraus aus Gegensätzen und Meinungsverschiedenheiten. Diesen Prozess nur im Apparat zu lokalisieren und der Partei dann fertige Früchte in Gestalt von Parolen, Befehlen. usw. aufzutischen, bedeutet ideologisch und politisch eine Kraftlosmachung der Partei. Die Gesamtpartei am Zustandekommen der Beschlüsse teilnehmen zu lassen, bedeutet den jeweiligen geistigen Gruppierungen entgegenkommen bei Gefahr ihrer Verwandlung in dauernde Gruppierungen und sogar in Fraktionen. Was ist also zu tun? Gibt es keinen Ausweg? Gibt es denn keinen Raum für das Parteileben zwischen dem Beginn des Parteiabsolutismus und dem Regime der fraktionellen Parteizersplitterungen? Es gibt solche Linie. Und die ganze Aufgabe der innerparteilichen Leitung besteht darin, jedes Mal, besonders an Wendepunkten, sie entsprechend den gegebenen konkreten Verhältnissen zu finden. Die Resolution des ZK sagt offen, das bürokratische Regime in der Partei bilde eine der Ursachen der Fraktionsgruppierungen. Diese Wahrheit bedarf wohl zur Zeit kaum eines Beweises. Der alte Kurs war von einer „entwickelten" Demokratie weit entfernt und hat doch die Partei nicht im geringsten vor illegalen Fraktionsbildungen, ja nicht einmal vor dem Ausbruch der Diskussion bewahrt.

Um dies zu vermeiden ist es erforderlich, dass die Parteileitung aufmerksam auf die Stimme der breiten Parteimassen horcht, ohne in jeder Kritik den Ausdruck des Fraktionismus zu sehen und dadurch die gewissenhaften und disziplinierten Parteimitglieder auf den Weg der Verschlossenheit und des Fraktionismus zu stoßen. Aber eine solche Fragestellung bedeutet ja schon eine Ketzerei – hören wir die Stimme der höheren bürokratischen Weisheit sagen. Wirklich? Nun, erstens ist der unterstrichene Satz ein wörtliches Zitat aus der Resolution des ZK, und zweitens, seit wann bedeutet eine Interpretation eine Zustimmung? Wenn man sagt, dass ein Abszess die Folge einer schlechten Blutzirkulation sei, dann hat man damit den Abszess nicht befürwortet und noch lange nicht behauptet, dass er ein normaler Zustand eines gesunden Organismus sei. Die Schlussfolgerung wäre nur, dass man den Abszess öffnen und die kranke Stelle desinfizieren müsse. Außerdem, und das ist das Wichtigste, muss man das Fenster öffnen, damit frische Luft hineinströmen kann.

Aber darin besteht ja das Übel, dass der schlagfertigste Flügel der alten apparatistischen Richtung von der Schädlichkeit der Resolution, besonders jenes Teiles welcher den Bürokratismus als die Quelle des Fraktionismus erklärt, überzeugt ist. Und wenn die Anhänger des „alten Kurses" das nicht laut sagen, so nur aus formalen Erwägungen, wie überhaupt ihr ganzes Denken vom Geiste des Formalismus durchtränkt ist, der die geistige Basis des Bürokratismus bildet.

Ja, in unsrer Lage sind die Fraktionsbildungen das größte Übel, und Gruppierungen, sogar jeweilige, können sich leicht in Fraktionen verwandeln. Aber die Erfahrung lehrt, dass es nicht genügt, die Fraktionen und Gruppierungen als Übel zu erklären, um dadurch allein ihre Entstehung zu verhindern. Notwendig ist die Einhaltung einer gewissen Politik, eines richtigen Kurses, um diese Resultate zu erzielen, und es ist unerlässlich, sich den realen Verhältnissen anzupassen.

Es genügt, die Geschichte unsrer Partei aufmerksam zu verfolgen, selbst nur während der Revolution, das heißt während der Zeit, in der der Fraktionismus besonders gefährlich wurde, und es wird klar, dass der Kampf gegen diese Gefahr keinesfalls allein durch Verurteilungen und Verbote erschöpft werden kann.

Die gefährlichste Meinungsverschiedenheit in der Partei entstand im Zusammenhang mit der größten Aufgabe der Weltgeschichte, mit der Aufgabe der Machtergreifung im Herbst 1917. Im rasenden Tempo der Ereignisse und bei der Wichtigkeit der Frage erhielt die Meinungsverschiedenheit sofort den alten Fraktionscharakter: die Gegner der Machtergreifung stellten sich, ohne es zu wollen, in eine Phalanx mit den Parteilosen, publizierten ihre Erklärungen in außerparteilichen Zeitungen usw. Die Einheit der Partei war auf des Messers Schneide. Wie gelang es, die Spaltung zu vermeiden? Nur durch die schnelle Entwicklung der Ereignisse und durch ihren siegreichen Verlauf. Die Spaltung wäre unvermeidlich gewesen, hätten sich die Ereignisse auf Monate hingezogen oder wäre der Aufstand misslungen. Mit dem stürmischen Angriff und der festen Leitung durch die Mehrheit des ZK ist die Partei über die Opposition hinweg geschritten. Die Macht war erobert, und die Opposition, zwar klein, aber im Parteisinne hochqualifiziert, hatte sich auf den Boden des Oktober gestellt. Der Fraktionsmus und die Gefahr der Spaltung waren überwunden nicht durch formale Paragraphen, sondern durch revolutionäres Handeln.

Die zweite wichtige Meinungsverschiedenheit entstand im Zusammenhang mit der Frage über den Brest-Litowsker Frieden. Die Anhänger des revolutionären Krieges haben eine richtige Fraktion gebildet, mit einem eignen Organ usw. Ich weiß nicht, welchen Ursprung die vor kurzem entstandene Anekdote hat, dass Bucharin damals so etwas wie die Absicht gehabt habe, den Genossen Lenin zu verhaften. Im allgemeinen ähnelt es einer kommunistischen Pinkertoniade. Wir wollen glauben, dass die Geschichte der Partei auch das aufklären wird. Es steht jedenfalls fest, dass das Bestehen einer links-kommunistischen Fraktion die Einheit der Partei ernstlich bedroht hatte. Die Sache zur Spaltung zu bringen, war in dieser Periode keine schwierige Aufgabe und erforderte von der Leitung nicht viel Verstand; es genügte, die linkskommunistische Fraktion als verboten zu erklären. Die Partei hatte jedoch kompliziertere Methoden angewandt: die Diskussion und die Nachprüfung der politischen Erfahrung, sich zeitweilig abfindend mit einer so anormalen und bedrohlichen Erscheinung wie das Vorhandensein einer organisierten Fraktion innerhalb der Partei. Wir besaßen in der Partei eine ziemlich starke und geschickte Gruppe in der Frage des militärischen Aufbaues. Im Wesentlichen war diese Opposition gegen die Aufstellung einer regulären Armee mit allen sich daraus ergebenden Folgen: einen zentralisierten Militärapparat, Hinzuziehung von Spezialisten usw. Zeitweilig nahm der Kampf einen sehr scharfen Charakter an. Auch jetzt, wie im Oktober, half die Prüfung unsrer Waffen. Gewisse Schroffheiten und Übertreibungen der offiziellen Kriegspolitik verliefen nicht nur ohne Schaden, sondern waren vom Vorteil für die Aufstellung einer zentralisierten regulären Armee. Viele der aktivsten Vertreter der Opposition sind nicht nur in der militärischen Tätigkeit aufgegangen, sondern haben in der Armee verantwortliche Posten eingenommen.

Scharfe Gruppierungen bildeten sich auch zur Zeit der denkwürdigen Diskussion über die Gewerkschaften. Jetzt, im Lichte der historischen Erfahrung, rückblickend auf diese Periode, wird es klar, dass es sich gar nicht um die Gewerkschaften und nicht einmal um die Arbeiterdemokratie gehandelt hatte: in diesem Streite fand die tiefe Schwäche der Partei ihren Ausdruck, deren Ursache der zu fest gebundene wirtschaftliche Knoten des militärischen Kommunismus war. Der ganze ökonomische Organismus des Landes war durch die festen Schrauben bedroht. Unter der Hülle der formalen Diskussion über die Gewerkschaften und die Arbeiterdemokratie suchte man auf Umwegen neue Wirtschaftsformen. Den wirklichen Ausweg öffnete die Abschaffung der Ernährungsverteilung und des Brotmonopols, wie die allmähliche Befreiung der Staatsindustrie. Diese historischen Entschlüsse wurden einstimmig angenommen und sie erledigten die Diskussion über die Gewerkschaften gänzlich, um so mehr, als die Gewerkschaften auf der Basis des NEP im ganz andren Lichte erschienen; die Resolution über die Gewerkschaften musste nach wenigen Monaten radikal geändert werden.

Am dauerhaftesten und in gewisser Beziehung am gefährlichsten war die Gruppierung der „Arbeiteropposition“. In ihr äußerten sich sowohl die Widersprüche des militärischen Kommunismus wie die einzelnen Fehler der Partei und die objektiven Hauptschwierigkeiten des sozialistischen Aufbaues. Aber auch dabei erledigte sich die Angelegenheit nicht allein durch formale Verbote. Auf dem Gebiete der Entscheidungen in der Frage der Parteidemokratie waren formale Schritte getan, auf dem Gebiete der Säuberung der Partei jedoch waren wichtige reale Schritte unternommen worden unter Beachtung dessen, was an der Kritik der „Arbeiteropposition" gesund und notwendig war, hauptsächlich dadurch, dass die Partei durch ihre wirtschaftlichen Beschlüsse und Maßnahmen von großer Bedeutung die wesentlichen Meinungsverschiedenheiten und Gruppierungen erledigt hatte. Erst der X. Kongress der Partei hat die Fraktionsbildungen mit Aussicht auf Erfolg verbieten können. Aber es ist verständlich, – und dafür zeugt sowohl die Erfahrung der Vergangenheit wie der gesunde politische Verstand dass das Verbot allein weder eine reale noch sonst irgend eine Garantie gegen geistige und organisatorische Gruppierungen in der Partei bildet. Eine Garantie kann nur sein die richtige Leitung und die rechtzeitige Beachtung der sich ergebenden Entwicklung der Partei und des Parteiapparates, der die Parteiinitiative nicht paralysiert, sondern fördert, der sich vor den Stimmen der Kritik nicht fürchtet und nicht durch Gespensterseherei den Fraktionismus heraufbeschwort. Der Beschluss des X. Kongresses, der die Fraktionsbildungen verbietet, kann nur einen Hilfscharakter haben, an sich verbürgt er noch keine Lösung gegen alle inneren Schwierigkeiten. Es wäre ein zu plumper Organisationsfetischismus zu glauben, dass allein ein nackter Beschluss, unabhängig von dem Verlauf der Parteientwicklung, die Kraft besitze, uns vor Gruppierungen und Fraktionsbildungen zu bewahren. Eine solche Ansicht ist an sich tief bürokratisch.

Die krasseste Illustration dazugibt die Geschichte der Petrograder Organisation. Bald nach dem X. Kongress, auf dem die Bildung von Gruppen und Fraktionen verboten wurde, entbrannte in Petrograd ein Organisationskampf, der zu zwei sich scharf gegenüberstehenden Gruppierungen führte. Wie es auf den ersten Blick scheint, wäre es das einfachste gewesen, „mindestens eine der zwei Gruppierungen" zu verbieten. Das ZK hatte sich jedoch kategorisch geweigert, diese ihm von Petrograd empfohlene Methode zu befolgen. Das ZK übernahm die direkte Vermittlung zwischen den beiden Gruppierungen und erreichte dadurch – wenn auch erst allmählich – nicht nur ihre Mitarbeit, sondern auch ihr völliges Aufgehen in der Parteiorganisation. Dieses Beispiel von großer Wichtigkeit soll man nicht vergessen. Es ist zur Erleuchtung manches bürokratischen Kopfes unerlässlich. Wir haben oben gesagt, dass jede einigermaßen dauerhafte Gruppierung in der Partei, um so mehr eine organisierte Fraktion, die Tendenz habe, den Ausdruck irgend welcher besonderer, spezieller Interessen zu werden. Jede falsche Richtung, die im Grunde einer Gruppierung liegt, kann in ihrer Entwicklung der Ausdruck der dem Proletariat feindlichen oder halb feindlichen Klassen werden. Aber das alles bezieht sich ebenfalls und zwar in viel stärkerem Maße auf den Bürokratismus. Davon muss man ausgehen. Dass der Bürokratismus eine falsche, ungesunde Richtung ist, ist wohl unstreitbar. Und wenn es so ist, birgt er die Gefahr in sich, an seiner Entwicklung die Partei von dem richtigen, das heißt dem Klassenweg, abzudrängen. Darin besteht eben seine Gefahr. Es ist sehr lehrreich und bedrohlich, dass gerade diejenigen Genossen, die in jeder Meinungsverschiedenheit und Gruppierung einen Ausdruck der Entwicklung der Klasseninteressen sehen, dieses Kriterium auf den Bürokratismus nicht anwenden wollen. Dieses spezielle Kriterium wäre aber gerade dabei am Platze, denn wir besitzen im Bürokratismus ein ausgesprochenes Übel, das zwar offiziell verurteilt wird, das sich aber noch in keiner Weise erledigt hat. Wie wäre es auch auf einmal zu erledigen! Wenn nun der Bürokratismus, wie es die Resolution der ZK sagt, droht, die Partei von den Massen zu trennen und folglich den Klassencharakter der Partei zu schwächen, so ergibt sich daraus, dass der Kampf gegen den Bürokratismus keinesfalls von vornherein einem Kampfe unter antiproletarischem Einfluss gleichzustellen ist.

Im Gegenteil, das Bestreben der Partei, ihren proletarischen Charakter zu bewahren, führt unvermeidlich zu einer Abwendung vom Bürokratismus. Es ist selbstverständlich, dass unter der Flagge einer solchen Abwendung sich verschiedene Tendenzen verbergen können, darunter auch falsche, schädliche und ungesunde. Diese schädlichen Tendenzen aufdecken kann nur die marxistische Analyse ihres ideologischen Inhaltes. Aber die rein formale Ablehnung des Bürokratismus mit einer feindlichen Einflüssen unterliegenden Gruppierung zu motivieren, heißt bewusst ein „Kanal" bürokratischer Strömungen zu sein.

Der Gedanke, dass die Meinungsverschiedenheiten im Kampfe, wie die Gruppierungen, einen Kampf verschiedener Klasseneinflüsse darstellen, ist nicht so einfach und plump zu verstehen. Die Frage zum Beispiel, ob man im Jahre 1920 Polen mit dem Säbel berühren sollte oder nicht, hatte in unseren Reihen episodische Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen. Die einen waren für eine kühnere Politik, die anderen – für eine vorsichtige. Waren dabei verschiedene Klassentendenzen wirksam? Es wird wohl kaum einer wagen, dies zu behaupten. Das war eine Meinungsverschiedenheit in der Bewertung der Verhältnisse, der Kräfte und der Mittel. Das Hauptkriterium in der Bewertung der Frage war bei beiden Parteien das gleiche. Die Partei kann manchmal die gleiche Aufgabe auf verschiedenen Wegen lösen, und es können dabei Meinungsverschiedenheiten darüber entstehen, welcher Weg der kürzere, der bessere, der praktischere sei. Solcher Art Meinungsverschiedenheiten können unter Umständen breite Kreise der Partei betreffen, das wird aber noch keinesfalls bedeuten, dass es sich um einen Kampf zweier Klassentendenzen handelt. Man kann nicht daran zweifeln, dass es bei uns nicht nur einmal, sondern noch dutzendmal passieren wird, denn wir haben noch einen schweren Weg vor uns. Nicht so sehr die politischen Fragen wie, sagen wir, die wirtschaftlich-organisatorischen Probleme des sozialistischen Aufbaues werden Meinungsverschiedenheiten und jeweilige Gruppierungen schaffen. Die wichtigste Maßnahme in solchen Fällen ist die politische Kontrolle mittels der sich stets gleichbleibenden marxistischen Analyse. Aber eben die konkrete marxistische Kontrolle und nicht die erstarrte Schablone als Selbstverteidigungsmittel des Bürokratismus. Jene uneinheitlichen geistigen und politischen Inhalte, die jetzt gegen den Bürokratismus auftreten, nachzuprüfen und nachzukontrollieren wird um so leichter sein, je ernster wir den Weg des neuen Kurses betreten werden. Dies jedoch ist undurchführbar ohne ernste Änderung in der Haltung und dem Selbstgefühl des Parteiapparates, der jede Kritik am alten, formal verurteilten aber noch nicht liquidierten Kurs als Fraktionismus verdächtigt. Wenn der Fraktionismus eine Gefahr ist, – und das ist er – so ist es ein Verbrechen, die Augen zu schließen gegen die Gefahr des konservativ-bürokratischen Fraktionismus. Gerade gegen diese Gefahr ist die einstimmig angenommene Resolution des ZK gerichtet.

Die Sorge um die Einheit der Partei ist die wichtigste und brennendste Sorge der überwiegenden Mehrheit der Genossen. Und da muss man offen sagen: wenn zurzeit eine ernste Gefahr für die Einheit oder auch nur für die Einmütigkeit der Partei besteht, so liegt sie in dem rasenden Bürokratismus. Gerade aus diesem Lager kamen Stimmen, die man nicht anders als provokatorisch bezeichnen kann. Gerade aus diesem Lager wagte man zu sagen: wir fürchten uns nicht vor Spaltungen. Gerade die Vertreter aus diesem Lager wühlen in der Vergangenheit und schleppen aus ihr alles, was die Parteidiskussion nur verschärfen kann; sie beleben künstlich Erinnerungen an alte ausgefochtene Kämpfe, an alte Spaltungen, um den Geist der Partei unmerklich und allmählich an die Möglichkeit eines so ungeheuren, selbstmörderischen Gedankens, wie einer neuen Spaltung, zu gewöhnen. Die notwendige Geschlossenheit der Partei versucht man im Gegensatz zu bringen zu der Notwendigkeit eines weniger bürokratischen Regimes. Würde die Partei diesen Weg beschreiten und die wichtigsten Lebenselemente ihrer eignen Demokratie opfern, dann würde sie nichts gewinnen, aber den inneren Kampf verschärfen und ihre eignen Grundfesten erschüttern. Es geht nicht an, einseitig und ultimativ von der Partei Vertrauen für den Apparat zu fordern, ohne Vertrauen zu der Partei selbst zuhaben. Darin liegt der Kern der Frage. Das voreingenommene bürokratische Misstrauen zu der Partei, zu ihrer Orientierungsfähigkeit und Diszipliniertheit ist die Hauptursache aller Übel des Apparatregimes. Die Partei wünscht keine Fraktionen und wird sie zu verhindern wissen. Es ist ein Unsinn zu glauben, dass die Partei ihren Apparat zerschlagen wolle oder zulassen würde, dass es von irgend einer Seite geschehen wird. Die Partei weiß, dass zum Teil die wertvollsten Elemente den Apparat bilden, die große Teile der vergangenen Erfahrung verkörpern. Sie will jedoch den Apparat erneuern und ihn daran erinnern, dass er ihr Apparat, von ihr gewählt und von ihr untrennbar sei.

Durchdenkt man die in der Partei geschaffene Lage, besonders wie sie jetzt durch die Diskussion restlos enthüllt ist, so wird die doppelte Perspektive der weiteren Entwicklung ganz klar. Entweder bedeuten die jetzt in der Partei stattfindenden ideologisch-organisatorischen Umgruppierungen in der Linie der Resolution des ZK den Anfang – natürlich nur den Anfang – eines neuen großen Kapitels in der Geschichte der Partei, dann wird es der von uns allen gewünschte und für die Partei segensreichste Ausweg sein. Dann wird man mit den agitatorischen und oppositionellen Übertreibungen und erst recht mit den vulgärdemokratischen Tendenzen der Partei leicht fertig werden. Oder aber der zum Gegenangriff übergehende Parteiapparat wird dem Einfluss seiner konservativsten Elemente verfallen und unter der Flagge des Kampfes gegen den Fraktionismus die Partei auf ihre gestrigen absolutistischen Positionen zurückwerfen. Dieser zweite Fall wird der viel schmerzlichere sein; er wird natürlich die Entwicklung der Partei nicht aufhalten, wird aber zwingen, diese Entwicklung mit viel größeren Anstrengungen und Erschütterungen zu bezahlen, denn er wird den gegen die Partei gerichteten Strömungen überflüssige Nahrung geben.

Das sind die zwei objektiv gesehenen Möglichkeiten. Der Sinn meines Briefes „Der neue Kurs" besteht darin, der Partei den ersten Weg als den ökonomischeren und gesünderen betreten zu helfen. Auf der Position dieses Briefes bestehe ich ganz und gar und schiebe alle tendenziösen und lügnerischen' Deutungen beiseite.

* Anmerkung des Verfassers. Ich will versuchen, in folgenden Artikeln eine Bewertung jener Fragen zu geben, die heute im Zentrum der Parteidiskussion stehen. Ich werde bemüht sein, meinen Ausführungen einen aufklärenden Charakter zu geben, rechnend mit jenem Durchschnittsparteimitglied, ohne das es unnütz ist, von Parteidemokratie zu sprechen. Von dem Leser erwarte ich eine ruhige und sachliche Stellungnahme. Versuchen wir zuerst einander zu verstehen, erhitzen können wir uns nachher. L T

Kommentare