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Leo Trotzki 19231223 Die Frage der Parteigenerationen

Leo Trotzki: Die Frage der Parteigenerationen

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 4. Jahrgang Nr. 13 (28. Januar 1924), S. 125-128]

In einer der Resolutionen, die während der Moskauer Diskussion gefasst wurden, begegnete ich einer Beschwerde darüber, dass die Frage der Parteidemokratie durch die Streitigkeiten über das gegenseitige Verhältnis der Generationen, durch persönliche Ausfälle und dergleichen kompliziert sei. Diese Beschwerde zeugt von einer Unklarheit des Denkens. Persönliche Ausfälle ist eine Sache, die Frage über das Gegenseitigkeitsverhältnis der Generationen aber ist eine ganz andere. Die Frage der Parteidemokratie augenblicklich, ohne eine Analyse des Bestandes der Partei – sowohl im sozialen Sinne als auch im Sinne des Alters und der politischen Betätigungsdauer – aufzurollen, würde heißen, die ganze Frage in Nichts aufzulösen.

Die Frage der Parteidemokratie ist aber doch nicht zufällig, in erster Reihe als die Frage des gegenseitigen Verhältnisses der Generationen aufgetaucht. Eine solche Fragestellung wurde durch die ganze Geschichte unserer Partei vorbereitet. Schematisch lässt sich ihre Geschichte in vier Perioden einteilen: a) die viertelhundertjährige Vorbereitungsperiode bis zur Oktoberrevolution, die in der Geschichte einzig dasteht; b) der Oktober; c) die Periode nach dem Oktober und d) „Der neue Kurs" das heißt die sich eröffnende Periode.

Dass die Geschichte vor Oktober trotz ihres Reichtums, ihrer Kompliziertheit und der Unterschiedlichkeit der durchgemachten Etappen nur eine Vorbereitungsperiode darstellte, ist augenblicklich vollkommen unbestreitbar. Der Oktober ergab die ideelle und organisatorische Überprüfung der Partei und ihres Personalbestandes. Unter dem Oktober verstehen wir die schärfste Periode des Kampfes um die Macht, angefangen sagen wir von den Aprilthesen des Genossen Lenin und endigend mit der faktischen Besitzergreifung des Staatsapparats. Das Kapitel Oktober, das Monate zählt, ist seinem Inhalte nach nicht weniger bedeutend als die gesamte Vorbereitungsperiode, die Jahre und Jahrzehnte zählt. Der Oktober gewährte nicht nur eine fehlerlose, in ihrer Art einzige Überprüfung der großen Vergangenheit der Partei, sondern wurde auch selbst zur Quelle der größten Erfahrung für die Zukunft. Durch den Oktober hat die Partei zum ersten Mal ihren wirklichen Wert erkannt.

Nach der Eroberung der Macht beginnt ein rasches Wachstum in der Partei, sogar ein ungesundes Anschwellen. Von ihr angezogen werden, wie von einem mächtigen Magnet, nicht nur die weniger bewussten Elemente der Werktätigen, sondern auch offensichtlich fremde Elemente: Streber, Karrieristen und politische Mitläufer. In dieser überaus chaotischen Periode erhält sich die Partei als bolschewistische Partei nur kraft der faktischen inneren Diktatur der alten Garde, die die Prüfung des Oktobers bestanden hatte. In den Fragen von auch nur irgendwie prinzipieller Bedeutung nehmen die neuen Mitglieder der Partei – nicht nur aus der Mitte der Werktätigen, sondern auch die klassenfremden Elemente – fast widerspruchslos die Führung der älteren Generation an. Die karrieristischen Elemente hielten dafür, dass sie sich ihre Lage in der Partei durch einen solchen Gehorsam am besten sicherstellen. Diese Elemente aber haben sich verrechnet. Die Partei hat sich auf dem Wege einer strengen Selbstsäuberung von ihnen befreit: Ihre Reihen sind enger geworden, aber das Selbstbewusstsein der Partei hat sich gehoben. Man kann sagen, dass die Selbstüberprüfung der Partei und die Säuberung den Ausgangspunkt bildeten, zu dem sich die neue Partei der Nachoktoberperiode selbst anerkannte: als eine Halbmillionenkollektive, die nicht nur unter der Führung der alten Garde steht, sondern auch selbst berufen ist, sich in den grundlegenden Fragen der Politik auszukennen, sie zu überdenken und zu lösen. In diesem Sinne stellen die Säuberung und die gesamte mit ihr verbundene kritische Periode gewissermaßen die Einleitung zu jenem tiefen Umschwung dar, der sich augenblicklich im Leben der Partei bemerkbar macht und wahrscheinlich in ihre Geschichte unter der Bezeichnung des neuen Kurses eingehen wird.

Eines muss von allem Anfang an klar verstanden werden: das Wesen der Reibungen und Schwierigkeiten, die wir augenblicklich vor uns haben, besteht nicht darin, dass die Sekretäre da oder dort über die Schnur gehauen haben und dass man ihnen einen kleinen Dämpfer aufsetzen muss, sondern darin, dass die Partei in ihrer Gesamtheit sich anschickt, in eine höhere geschichtliche Klasse überzugehen. Die Parteimassen sagen gewissermaßen zu dem führenden Apparat der Partei: „Ihr, Genossen, besitzt eine Erfahrung noch aus der Zeit vor dem Oktober her, die uns in der Mehrheit mangelt; aber unter Eurer Führung haben wir eine Nachoktobererfahrung gewonnen, die immer größere Bedeutung erhält. Und wir wollen nicht nur von Euch geleitet werden, sondern auch zusammen mit Euch an der Führung der Klasse teilnehmen. Wir wollen das nicht bloß deshalb, weil das unser Recht als Mitglieder der Partei ist, sondern auch deshalb, weil das lebenswichtig ist für die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit. Ohne unsere Erfahrung von unten, die nicht nur von oben her in Rechnung gestellt, sondern von uns selbst aktiv ins Leben der Partei hineingetragen wird, würde sich der leitende Parteiapparat verbürokratisieren und wir, einfache Mitglieder, fühlen uns angesichts der Parteilosen nicht im genügenden Grade ideologisch bewaffnet."

Der gegenwärtige Umschwung ist, wie gesagt, aus der ganzen vorhergegangenen Entwicklung entstanden. Auf den ersten Blick unmerkliche Molekularprozesse im Leben und Bewusstsein der Partei haben den Umschwung bedeutend früher vorbereitet. Die Absatzkrise gab der kritischen Gedankenarbeit einen gewaltigen Stoß. Das Herannahen der deutschen Ereignisse zwang die Partei, sich aufzuraffen. Gerade in diesem Moment stellte sich mit besonderer Schärfe heraus, wie sehr die Partei in zwei Etagen wohnt: in der oberen die entscheidet, und in der unteren – die von den Beschlüssen nur erfährt. Eine kritische Revision der innerparteilichen Lage wurde jedoch aufgeschoben infolge der gespannten und fieberhaften Erwartung der nahen Auslösung der deutschen Ereignisse. Als sich herausstellte, dass diese Auslösung durch den Gang der Dinge verzögert wird, stellte die Partei die Frage des neuen Kurses auf die Tagesordnung.

Wie das nicht selten in der Geschichte vorkam, hat der „alte Kurs" gerade in den letzten Monaten die negativsten und geradezu unerträglichsten Seiten einer Verschlossenheit des Apparates, einer bürokratischen Selbstgenügsamkeit und einer Ignorierung der Stimmungen, der Gedanken und Anforderungen der Partei an den Tag gelegt. Aus bürokratischer Trägheit ist der Apparat mit den ersten Versuchen, die Frage einer kritischen Revision des innerparteilichen Regimes auf die Tagesordnung zu setzen, feindlich zusammengeraten. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Apparat durch die Bank aus verbürokratisierten Elementen besteht oder gar aus irgendwelchen eingefleischten und unverbesserlichen Bürokraten. Nicht im geringsten! Die überwiegende Mehrheit der Funktionäre des Apparats, die die jetzige kritische Periode mitmachen und sich ihren Sinn klargelegt haben, wird vieles lernen und vieles aufgeben. Die ideell organisatorische Umgruppierung, die aus dem gegenwärtigen Momente des Umschwunges hervorgeht, wird letzten Endes sowohl für die Parteimassen aus Reih und Glied wie auch für den Apparat segensreiche Folgen haben. Im Apparat aber, so wie er sich an der Schwelle der gegenwärtigen Krise darstellt, haben die Züge des Bürokratismus eine außerordentliche, wahrhaft gefährliche Entwicklung erreicht. Und gerade diese Züge verleihen der augenblicklich vor sich gehenden ideellen Umgruppierung in der Partei den so scharfen Charakter, der berechtigte Befürchtungen hervorruft.

Es genügt, zu sagen, dass noch vor zwei bis drei Monaten allein die Erwähnung des Bürokratentums des Parteiapparats, des übermäßigen Druckes der Komitees und Sekretäre, bei den verantwortlichen und leitenden Vertretern des alten Parteikurses sowohl im Zentrum wie auch in der Provinz auf ein hochmütiges Achselzucken oder einen empörten Protest stieß. Ernennung der Funktionäre? Aber nichts dergleichen! Bürokratismus? Eine Erfindung! Opposition um der Opposition willen usw.! Diese Genossen haben die bürokratische Gefahr, deren Träger sie selbst waren, aufrichtig übersehen. Erst unter den entschlossenen Stößen von unten haben sie nach und nach anzuerkennen begonnen, dass es vielleicht doch einen Bürokratismus gibt, aber lediglich irgendwo an der Peripherie der Organisation, in einzelnen Gouvernements und Bezirken, dass er eine Abweichung der Praxis von der richtigen Linie darstellt usw. Und diesen Bürokratismus legten sie aus als ein einfaches Überbleibsel der Kriegsperiode, das heißt als etwas, was nach und nach abnimmt, wenn auch nicht genügend rasch. Man braucht nicht erst von der grundlegenden Falschheit einer solchen Behandlung und einer solchen Erklärung zu sprechen. Das Bürokratentum ist kein zufälliger Wesenszug einzelner provinzieller Organisationen, sondern eine allgemeine Erscheinung. Sie geht nicht vom Bezirk aus über das Gouvernement zum Zentrum, sondern eher umgekehrt aus dem Zentrum über das Gouvernement zum Bezirk. Sie stellt durchaus kein „Überbleibsel" der Kriegsperiode dar, sondern stellt das Resultat der Übertragung von Methoden, Gewohnheiten der Verwaltung auf die Partei dar, was sich gerade in den letzten Jahren verstärkt bot. Der Bürokratismus der Kriegsperiode, mag er in den einzelnen Fällen noch so ausgeartete Formen angenommen haben, ist ein Kinderspiel im Vergleich zur dem jetzigen Bürokratismus, der sich unter Verhältnissen friedlicher Entwicklung gebildet hat, als der Parteiapparat, ungeachtet des ideologischen Wachstums der Partei, hartnäckig fortfuhr, für sie zu denken und zu entscheiden.

Im Zusammenhang mit dem Gesagten erhält die einstimmig angenommene Resolution der Zentrale über den Parteiaufbau eine ungeheure prinzipielle Bedeutung, die voll und ganz von dem Bewusstsein der Partei erfasst werden muss. Es wäre in der Tat unwürdig, sich die Sache so vorzustellen, als ob das Wesen der Entscheidungen auf ein „milderes", „rücksichtsvolleres" Herangehen der Sekretäre und der Komitees an die Parteimasse und auf einige organisationstechnische Veränderungen hinausläuft. Die Resolution der Zentrale spricht ja doch nicht vergeblich von einem neuen Kurse. Die Partei schickt sich an, in eine neue Phase der Entwicklung einzutreten. Es handelt sich natürlich nicht um eine Zerschlagung der Organisationsprinzipien des Bolschewismus, wie das der eine oder andere darzustellen versucht, sondern um ihre Anpassung an die Verhältnisse der neuen Etappe in der Entwicklung der Partei. Die Frage dreht sich vor allem um die Herstellung gesünderer gegenseitiger Beziehungen zwischen den alten Parteibeständen und der nach dem Oktober zugewachsenen Mehrheit der Parteimitglieder.

Die theoretische Vorbereitung, die revolutionäre Stählung und die politische Erfahrung bilden das Grundkapital der Partei, und die Träger dieses Kapitals sind vor allem die alten Personalbestände der Partei. Andererseits ist die Partei ihrem ganzen Wesen nach eine demokratische Organisation, das heißt eine solche Gemeinschaft, die durch den Gedanken und den Willen aller ihrer Mitglieder ihren Weg bestimmt. Es ist vollkommen klar, dass in der überaus komplizierten Lage am Tage nach dem Oktober die Partei umso sicherer und richtiger ihren Weg einschlagen konnte, je voller sie die angesammelte Erfahrung der älteren Generation auszunutzen vermochte, indem sie deren Vertretern die verantwortlichsten Stellen in der Parteiorganisation übertrug. Anderseits führte und führt das durchwegs dazu, dass die ältere Generation, die in der Partei die Stellung von Kadern einnimmt und von den Fragen der Verwaltung ganz in Anspruch genommen wird, sich daran gewöhnt, für die Partei zu denken und zu entscheiden und gegenüber der Parteimasse in erster Linie rein schulmäßige, pädagogische Methoden der Heranführung an das politische Leben anwendet: Kurse der politischen Elementarwissenschaften, Prüfung der Parteikenntnisse, Parteischulen usw. Daher eben kommt die Bürokratisierung des Parteiapparats, seine Abgeschlossenheit, sein selbstgenügsames Innenleben, mit einem Worte alle jene Wesenszüge, die eine arg negative Seite des alten Kurses bilden. Von den Gefahren des weiteren Lebens der Partei in zwei scharf von einander abgegrenzten Etagen habe ich in dem Brief über die Jungen und die Alten in der Partei gesprochen, wobei ich unter den Jungen selbstverständlich nicht nur die studierende Jugend im Auge habe, sondern überhaupt die ganze Nachoktobergeneration der Partei, angefangen vor allem bei den Betriebs- und Fabrikzellen.

Worin kam jene Unzulänglichkeit zum Ausdruck, die die Partei immer schärfer und schärfer zu empfinden begann? Eben darin, dass die Masse der Parteimitglieder sich sagte oder fühlte: „Mag man im Parteiapparat richtig oder nicht richtig denken und entscheiden, jedenfalls denkt und entscheidet man dort zu oft ohne uns und über uns hinweg. Wenn aber von unserer Seite eine Stimme des Missverstehens, des Zweifels, des Einwandes oder der Kritik sich erhebt, bekommen wir zur Antwort ein Anschnauzen, eine Aufforderung zur Disziplin und noch öfter eine Beschuldigung der Oppositionsstreberei und selbst der Fraktionsbildung. Wir sind der Partei ergeben bis zum Letzten und bereit, ihr alles hinzugeben. Aber wir wollen aktiv und bewusst an der Ausarbeitung der Parteimeinung und der Festlegung der Wege des Handelns der Partei teilnehmen!" Zweifellos wurden die ersten Äußerungen dieser Stimmungen unter den einfachen Mitgliedern nicht rechtzeitig erfasst und von dem führenden Apparat der Partei berücksichtigt, und dieser Umstand wurde eine der wichtigsten Ursachen jener parteifeindlichen Gruppierungen in der Partei, deren Bedeutung man selbstverständlich nicht zu übertreiben braucht, deren warnenden Sinn aber zu unterschätzen unzulässig wäre.

Die Hauptgefahr des alten Kurses, wie er sich im Resultate sowohl großer historischer Ursachen wie auch unserer Fehler ergab, besteht darin, dass er eine Tendenz zu einer immer größeren Ausspielung einiger tausend Genossen an den Tag legt, die den führenden Bestand darstellen – gegenüber der übrigen Parteimasse als Objekt der Einwirkung. Wenn dieses Regime hartnäckig auch weiter aufrechterhalten bleibt,, so würde es letzten Endes zweifelsohne die Gefahr einer Ausartung der Partei herbeizuführen drohen, und zwar gleichzeitig an ihren beiden Polen, das heißt sowohl unter der Parteijungmannschaft wie auch in den führenden Kaders. Hinsichtlich der proletarischen Grundlage der Partei, der Betriebszellen, der Studierenden usw., ist der Charakter der Gefahr vollkommen klar. Bedeutende Kreise der Partei, die sich nicht als aktive Teilnehmer der allgemeinen Parteiarbeit fühlen und die keine entsprechende und rechtzeitige Antwort auf ihre an die Partei gerichteten Anforderungen erhalten, würden beginnen, für sich ein Surrogat zu suchen – einen falschen Ersatz – für die Parteitätigkeit in Form aller möglichen Gruppierungen und Fraktionsbildungen. In diesem Sinne gerade sprechen wir von der symptomatischen Bedeutung solcher Gruppierungen, wie die „Arbeitergruppe".

Aber auch auf dem anderen Pol, auf dem Pol der Leitenden, ist die Gefahr jenes Kurses nicht geringer, der sich zu lange erhalten hat und im Bewusstsein der Partei als Bürokratismus auftaucht. Es wäre eine lächerliche und unwürdige Vogelstraußpolitik nicht zu verstehen oder nicht zu bemerken, dass die von der Resolution des ZK formulierte Beschuldigung des Bürokratismus eine Beschuldigung eben gegen die führenden Kader der Partei ist. Es geht nicht um einzelne Abweichungen der Parteipraxis von der richtigen idealen Linie, sondern eben um den Kurs des Apparats, um seine bürokratische Tendenz. Schließt der Bürokratismus die Gefahr einer Ausartung in sich oder nicht? Es wäre Blindheit, diese Gefahr zu verleugnen. Die Bürokratisierung droht bei ihrer dauernden Entwicklung mit der Losreißung von der Masse, mit der Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf Fragen der Verwaltung, der Auswahl und Versetzung von Funktionären mit einer Verengerung des Horizontes, einer Schwächung des revolutionären Instinktes, das heißt einer größeren oder geringeren opportunistischen Ausartung der älteren Generation, wenigstens eines bedeutenden Teiles von ihr. Solche Prozesse gehen langsam und fast unmerklich vor sich, treten aber plötzlich in Erscheinung. In dieser Warnung, die sich auf eine objektive marxistische Voraussicht stützt, irgend welche „Beleidigung", einen „Anschlag" und anderes zu erblicken, ist nur möglich bei krankhaft bürokratischer Pedanterie und bei einem Hochmut des Apparatmenschen.

Ist jedoch die Gefahr einer solchen Ausartung in Wirklichkeit groß? Der Umstand, dass die Partei diese Gefahr begriff oder empfand und aktiv auf sie reagierte – wodurch sie auch im besonderen die Resolution des Pol.-Büros ins Leben rief – zeugt von der tiefen Lebensfähigkeit der Partei und erschließt allein dadurch lebendige Quellen des Gegengiftes gegen die bürokratische Vergiftung. Darin liegt die Hauptgarantie der revolutionären Selbsterhaltung der Partei. Soweit aber der alte Kurs sich bemühen würde, sich um jeden Preis durch ein Schweigegebot, eine immer künstlichere Auslese, eine Einschüchterung, mit einem Wort durch Methoden zu erhalten, die auf bürokratischem Misstrauen zur Partei beruhen, würde eine faktische Gefahr der Ausartung eines wesentlichen Teiles des Kaders unvermeidlich herauswachsen. Die Partei kann nicht bloß vom Kapitale der Vergangenheit leben. Es genügt, dass die Vergangenheit die Gegenwart vorbereitet hat. Notwendig aber ist, dass die Gegenwart ideologisch und praktisch auf der Höhe der Vergangenheit steht, um die Zukunft vorzubereiten. Die Aufgabe der Gegenwart ist denn auch: das Schwergewicht der Parteiaktivität nach der Seite der Grundschicht der Partei zu verschieben.

Man mag sagen, dass eine solche Art der Verschiebung des Schwergewichtes sich nicht auf einmal, sprungweise, vollzieht; die Partei kann die älteren Generationen nicht sozusagen „ins Archiv abgeben" und mit einem Male ein neues Leben beginnen. Es verlohnt sich wohl kaum, bei einem solch armselig-dummen demagogischen Einwand stehen zu bleiben. Nur Verrückte können davon reden, die ältere Generation ad acta zu legen. Die Rede geht gerade darum, dass die ältere Generation bewusst den Kurs ändere und dadurch allein sich ihren weiteren führenden Einfluss in der gesamten Arbeit der selbsttätigen Partei sichere. Es ist notwendig, dass die ältere Generation den neuen Kurs nicht als ein Manöver betrachtet, nicht als einen diplomatischen Schachzug, nicht als eine vorübergehende Konzession, sondern als neue Etappe in der politischen Entwicklung der Partei. Dann werden sowohl die führende Generation wie die Partei im ganzen den Haupttreffer gewinnen.

Die soziale Zusammensetzung der Partei.

Die Frage ist selbstverständlich mit dem gegenseitigen Verhältnis der Generationen nicht erschöpft. In weiterem historischen Sinne wird die Frage entschieden durch die soziale Zusammensetzung der Partei, und vor allem durch das spezifische Gewicht der Fabrik- und Betriebszellen, durch den Proletarier von der Drehbank insbesondere.

Die erste Aufgabe der Klasse, die die Macht erobert hat, war die Schaffung eines Staatsapparats unter Einschluss der Armee, der Organe der Wirtschaftsverwaltung usw. Aber die Installierung eines Staats-, Genossenschafts- und anderer Apparate bedeutet seinem ganzen Wesen nach eine Schwächung und Verwässerung der grundlegenden Fabrik- und Betriebszellen der Partei und ein außerordentliches Wachstum der administrativen Elemente, sowohl proletarischer wie auch anderer Herkunft in der Partei. Darin liegt der Widerspruch der Lage. Ein Ausweg aus ihr ist nur denkbar auf dem Wege ernster, wirtschaftlicher Erfolge, eines gesunden Pulsierens des Fabrik- und Betriebslebens und eines ständigen Zustroms von Arbeitern, die an der Drehbank verbleiben, zur Partei. In welchem Tempo dieser Grundprozess verläuft, welche Flut- und Ebbezeiten er durchmachen wird, lässt sich jetzt schwer vorhersagen. Selbstverständlich muss auch im gegebenen Stadium unserer wirtschaftlichen Entwicklung alles geschehen, um eine möglichst große Anzahl von Arbeitern vom Schraubstock in die Partei hineinzuziehen. Aber eine ernstliche Änderung der Parteizusammensetzung, zum Beispiel in dem Umfange, dass die Fabrik- und Betriebszellen zwei Drittel der Partei bilden, kann erst ganz langsam und lediglich auf der Grundlage sehr emsiger wirtschaftlicher Erfolge erreicht werden. Jedenfalls sind wir verpflichtet, noch mit einer sehr langwierigen Periode zu rechnen, im Laufe deren die erfahreneren und aktiveren Parteimitglieder – darunter natürlich auch jene proletarischer Herkunft – in den verschiedenen Stellen des staatlichen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen und Parteiapparats beschäftigt sein werden. Und diese Tatsache an sich birgt schon Gefahren, da sie als eine der Quellen des Bürokratismus dient. Durchaus eine Sonderstellung nimmt in der Partei, und muss notwendigerweise einnehmen, die Schulung der Jugend. Schon durch die Erziehung einer neuen Sowjetintelligenz, mit einem großen Prozentsatz Kommunisten, vermittels der Arbeiterfakultäten, der Parteiuniversitäten, der höheren speziellen Lehranstalten, reißen wir junge proletarische Elemente vom Schraubstock nicht nur für die Zeit des Unterrichtes los, sondern der allgemeinen Regel gemäß auch für das ganze weitere Leben. Die Arbeiterjugend, die durch die höheren Schulen gegangen ist, wird zu ihrer Zeit natürlich von dem industriellen, dem staatlichen oder dem Parteiapparat selbst verschlungen werden. So entsteht ein zweiter Faktor, der das innere Gleichgewicht der Partei zum Nachteil der Grundzellen, der Fabriken und Betriebe, umstößt.

Die Frage, ob ein Kommunist aus proletarischer, intellektueller oder anderer Mitte stammt, hat natürlich ihre Bedeutung. In der ersten, nachrevolutionären Periode erschien die Frage der Beschäftigung vor dem Oktober sogar entscheidend, denn das Losreißen vom Schraubstock zu diesen oder jenen Sowjetfunktionen stellte damals etwas Vorübergehendes dar. Jetzt ist in dieser Beziehung bereits eine tiefe Veränderung deutlich geworden. Es besteht kein Zweifel, dass die Vorsitzenden der Gouvernementsvollzugsausschüsse oder die Divisionskommissare einen bestimmten sozialen Sowjettypus darstellen, in erheblichem Grade sogar unabhängig davon, aus welcher Mitte der einzelne von ihnen hervorgegangen ist. In den letzten sechs Jahren haben sich ziemlich feststehende Gruppierungen der Gesellschaftsschichtung im Sowjetleben ergeben.

Wir haben infolgedessen – und dabei auf eine verhältnismäßig dauernde Periode – eine solche Lage vor uns, dass ein sehr erheblicher und der bestgeschulte Teil der Partei von verschiedenen Apparaten der Führung und der Verwaltung, der Wirtschaft und der Kommandostellen verschlungen wird; ein anderer erheblicher Teil studiert; ein dritter Teil ist auf die Dörfer verstreut und arbeitet in der Landwirtschaft, und nur ein vierter Teil (der Zahl nach gegenwärtig weniger als ein Sechstel) besteht aus Proletariern, die am Schraubstock stehen. Es ist vollkommen natürlich, dass das Wachstum des Parteiapparats und die dieses Wachstum begleitenden Wesenszüge der Bürokratisierung nicht von den Fabrik- und Betriebszellen erzeugt werden, die durch den Apparat zusammengefasst werden, sondern gerade durch jene anderen Funktionen der Partei, die von ihr durch die Vermittlung der staatlichen Apparate der Verwaltung, der Wirtschaft, der Kommandostellen und des Schulwesens ausgeübt werden. Mit anderen Worten: die Quelle des Bürokratismus in der Partei ist die zunehmende Umstellung der Aufmerksamkeit und der Kräfte nach der Seite der Regierungsapparate und -institutionen bei ungenügend raschem Wachstum der Industrie. Angesichts dieser grundlegenden Tatsachen und Tendenzen müssen wir uns über die Gefahren einer Ausartung der alten Parteikaders durch den Apparat um so mehr klare Rechenschaft geben. Es wäre ein grober Fetischismus, anzunehmen, dass die alten Kader lediglich deshalb, weil sie aus der besten revolutionären Schule der Welt hervorgegangen sind, in sich eine selbstgenügsame Garantie gegen alle und jederlei Gefahren einer ideologischen Versandung und opportunistischen Ausartung bieten. Nein! Die Geschichte wird durch die Menschen gemacht, aber die Menschen machen die Geschichte, darunter auch ihre eigene, durchaus nicht immer bewusst. Letzten Endes wird natürlich die Frage durch die großen Faktoren internationaler Bedeutung entschieden: durch den Gang der revolutionären Entwicklung in Europa und das Tempo unseres wirtschaftlichen Aufbaues Aber die ganze Verantwortung fatalistisch auf diese objektiven Faktoren zu legen, ist ebenso unrichtig, wie Garantien nur in dem subjektiven Radikalismus zu suchen, den man von der Vergangenheit geerbt hat. Bei ein und derselben revolutionären Gestaltung und bei ein und denselben internationalen Verhältnissen kann die Partei besser oder schlechter den zerstörenden Tendenzen widerstehen, je nach ihrem Bewusstsein, mit dem sie den Gefahren gegenübersteht, und je nach der Aktivität, mit der sie diese Gefahren bekämpft.

Es ist vollkommen natürlich, dass die durch die ganze Läge hervorgebrachte Verschiedenartigkeit der sozialen Zusammensetzung der Partei die negativen Seiten des Kurses des Apparates nicht abschwächt, sondern im Gegenteil, außerordentlich verschärft. Es gibt und kann kein anderes Mittel zur Überwindung des korporativen und instanzenmäßigen Geistes einzelner Bestandteile der Partei geben, als ihre aktive Annäherung an das Regime der Parteidemokratie. Durch die Aufrechterhaltung der „unbedingten Stille", durch die Trennung von allen und allem trifft der Parteibürokratismus gleich schwer, wenn auch verschieden, sowohl die Betriebszellen wie auch die Wirtschafter, die Militärpersonen und die studierende Jugend.

Besonders scharf reagiert, wie wir sehen, die studierende Jugend auf den Bürokratismus. Nicht umsonst hat Genosse Lenin vorgeschlagen, zum Kampf gegen den Bürokratismus die Studierenden in breitester Form heranzuziehen. Ihrer Zusammensetzung und ihren Verbindungen nach widerspiegelt die studierende Jugend alle sozialen Schichten, die in unsere Partei eintreten, und saugt in sich ihre Stimmungen auf. Infolge ihrer Jugend und ihrer Empfänglichkeit ist sie geneigt, diesen Stimmungen unmittelbar aktive Formen zu verleihen. Als studierende Jugend strebt sie, zu erklären und zu verallgemeinern. Damit ist durchaus nicht gesagt, dass die Jugend in allen ihren Handlungen und Stimmungen gesunde Tendenzen hervorkehrt. Wenn dem so wäre, so würde das eins von beiden bedeuten: Entweder ist es in der Praxis der Partei mit allem glänzend bestellt oder die Jugend hat aufgehört, ihre Partei widerzuspiegeln. Aber weder das eine noch das andere trifft zu. Die Behauptung, dass nicht die Zellen der Lehranstalten, sondern die Zellen der Fabriken und Betriebe unsere Basis darstellen, ist im Prinzip richtig. Wenn wir aber sagen, dass die Jugend das Barometer ist, so räumen wir gerade ihren politischen Handlungen keine grundlegende, sondern eine symptomatische Bedeutung ein. Das Barometer macht nicht das Wetter, sondern zeigt es nur an. Das politische Wetter wird in der Tiefe der Klassen und in jenen Gebieten gemacht, wo die Klassen miteinander zusammenstoßen. Die Betriebszellen schaffen eine direkte und unmittelbare Verbindung der Partei mit der für uns grundlegenden Klasse, mit dem Industrieproletariat. Die Dorfzellen stehen in weit schwächerem Grade eine Fühlung mit der Bauernschaft her. Mit ihr verbinden uns in der Hauptsache die Armeezellen, die jedoch in ganz bestimmte Verhältnisse gestellt sind. Schließlich spiegelt die studierende Jugend, die aus allen Schichten und Zwischenschichten der Sowjetöffentlichkeit angeworben wird, in ihrer bunten Zusammensetzung alle unsere Vorzüge und Nachteile wider. Und wir wären schwerfällige Dummköpfe, würden wir ihren Stimmungen nicht aufs Aufmerksamste unser Ohr leihen. Es kommt noch hinzu, dass ein bedeutender Feil unserer neuen Studentenschaft aus Parteimitgliedern mit einer für die junge Generation hinreichend ernsten revolutionären Parteivergangenheit besteht. Und ganz vergebens schimpfen gegenwärtig die unwilligen Apparatmenschen auf die Jugend. Sie ist unsere Kontrolle und unsere Ablösung, und der morgige Tag gehört ihr.

Kehren wir indes zur Frage der parteimäßigen Überwindung der Verschiedenheit der einzelnen Teile und Gruppen der Partei, die durch ihre Staatsfunktionen auseinandergerissen werden, zurück. Wir sagten und wiederholen es hier, dass der Bürokratismus in der Partei durchaus nicht die absterbende Erbschaft irgendeiner vorhergegangenen Periode ist; im Gegenteil, diese Erscheinung ist eine dem Wesen nach neue Erscheinung, die sich aus den neuen Aufgaben der Partei, ihren neuen Funktionen, aus den neuen Schwierigkeiten und aus ihren neuen Fehlern ergibt.

Das Proletariat verwirklicht seine Diktatur durch den Rätestaat. Die Kommunistische Partei ist die führende Partei des Proletariats und infolgedessen auch seines Staates. Und die ganze Frage läuft darauf hinaus, wie diese Führung zu verwirklichen ist, ohne sich zu eng mit dem bürokratischen Apparat des Staates zu verquicken und ohne sich in dieser Verquickung einer bürokratischen Ausartung auszusetzen.

Die Kommunisten innerhalb der Partei und innerhalb des Staatsapparats gruppieren sich auf verschiedene Art. Im Staatsapparat befinden sie sich in hierarchischer Abhängigkeit voneinander und in komplizierten persönlichen Verhältnissen den Phrasen gegenüber. Innerhalb der Partei sind sie alle gleichberechtigt, so weit es sich um die Bestimmung der grundlegenden Aufgaben und Methoden der Parteiarbeit handelt. Die Kommunisten arbeiten am Schraubstock, sitzen im Betriebsrat, verwalten die Unternehmen, die Trusts, die Syndikate, stehen an der Spitze des Obersten Volkswirtschaftsrates usw. Soweit es sich um die Führung der Wirtschaft seitens der Partei handelt, berücksichtigt sie – und muss sie berücksichtigen – die Erfahrung, die Beobachtung, die Meinung aller ihrer Mitglieder, die auf den verschiedenen Stufen der administrativen Wirtschaftsleitungen verteilt sind. Darin besteht ja der grundlegende, mit nichts zu vergleichende Vorzug unserer Partei, dass sie die Möglichkeit hat, in jedem gegebenen Moment die Industrie mit den Augen eines kommunistischen Drehers vom Schraubstock, eines kommunistischen Gewerkschafters, eines kommunistischen Direktors, eines roten Kaufmannes betrachten und unter Zusammenfassung der sich gegenseitig ergänzenden Erfahrungen aller dieser Funktionäre die Linie der Führung der Wirtschaft im allgemeinen und eines gegebenen Zweiges im besonderen festlegen zu können.

Es ist ganz natürlich, dass diese Art wirklicher Parteiführung nur auf den Grundlagen einer lebendigen aktiven Parteidemokratie verwirklicht werden kann. Und umgekehrt, je mehr die „apparatmäßigen" Methoden überwiegen, um so mehr wird die Parteiführung ersetzt durch eine Verwaltung ihrer Vollzugsorgane (Komitees, Büros, Sekretariate usw.). Wir sehen, wie sich bei einer Verstärkung dieses Kurses alle Dinge in den Händen einer kleinen Personengruppe konzentrieren, zuweilen eines einzigen Sekretärs, der ernennt, absetzt, Direktiven erteilt, zur Verantwortung zieht usw. Bei einer derartigen Ausartung der Führung tritt der grundlegende und unschätzbare Vorzug der Partei – ihre vielseitige kollektive Erfahrung – in den Hintergrund. Die Führung erhält einen rein organisatorischen Charakter und artet nicht selten in eine gewöhnliche Kommandoerteilung und Befehlshaberei aus. Der Parteiapparat dringt in alle Detailaufgaben und Fragen des Staatsapparats ein, lebt von seinen täglichen Sorgen, gelangt unter seinen Einfluss und sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Wenn die Parteiorganisation als Kollektive reicher an Erfahrung ist als ein beliebiges Organ des Staatsapparats, so kann das durchaus nicht gesagt werten von den einzelnen Funktionären des Parteiapparats. Es ist in der Tat naiv, anzunehmen, dass ein Sekretär, kraft seines Sekretärtitels, in sich die ganze Summe des Wissens und Könnens verkörpert, das für die Parteiführung notwendig ist. In Wirklichkeit schafft er sich einen untergeordneten Apparat mit bürokratischen Abteilungen, mit bürokratischen Informationen und papiernen Auskünften und trennt sich durch diesen Apparat, der ihn in nahe Fühlung mit dem Staatsapparat bringt, von der lebendigen Partei ab. Es vollzieht sich hier das, was der bekannte deutsche Ausspruch folgendermaßen ausdrückt: „Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben." Die ganze Vielfältigkeit der bürokratischen Alltagsarbeit des Staatsapparats dringt in den Parteiapparat ein und schafft in ihm einen bürokratischen Zug. Die Partei als Kollektive empfindet ihre Führung nicht, da sie diese nicht verwirklicht. Daher die Unzufriedenheit oder das Missverstehen sogar in jenen Fällen, wo die Führung im Wesentlichen richtig ist. Aber sie vermag sich nicht auf der richtigen Linie zu halten, soweit sie sich in Kleinigkeiten verausgabt, ohne einen systematischen, planmäßigen und kollektiven Charakter anzunehmen. Auf diese Weise stößt der Bürokratismus nicht nur die innerparteiliche Geschlossenheit um, sondern schwächt auch deren richtige Einwirkung auf den Staatsapparat. Das wird durch die Bank von jenen nicht bemerkt und verstanden, die am lautesten über die führende Rolle der Partei gegenüber dem Staatsapparat schreien.

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