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Leo Trotzki 19231222 Gruppierungen und Fraktionsbildungen

Leo Trotzki: Gruppierungen und Fraktionsbildungen*

[Nach Internationale Presse-Korrespondenz, 4. Jahrgang Nr. 13 (28. Januar 1924), S. 122-124]

Die Frage der Gruppierungen und Fraktionen stand im Mittelpunkt der Diskussion. In dieser Beziehung muss mit aller Klarheit gesprochen werden, da die Frage eine sehr brenzlige und verantwortungsreiche ist. Dabei wird sie durch die Bank falsch gestellt.

Wir sind die einzige Partei im Lande, und in der Epoche der Diktatur kann das gar nicht anders sein. Die einzelnen Bedürfnisse der Arbeiterklasse, der Bauernschaft, des Staatsapparates und seines Personals lasten auf unserer Partei und suchen durch deren Vermittlung politischen Ausdruck zu finden. Die Schwierigkeiten und Widersprüche der Entwicklung, die zeitweilige Nichtübereinstimmung der Interessen verschiedener Teile des Proletariats oder des Proletariats im Ganzen und der Bauernschaft – alles das stürmt auf die Partei durch ihre Arbeiter- und Bauernzellen ein, durch den Staatsapparat, durch die studierende Jugend. Sogar episodische, zeitweilige Unstimmigkeiten und Schattierungen der Meinungen vermögen in irgendeiner entfernten Instanz den Druck bestimmter sozialer Interessen zum Ausdruck bringen; episodische Unstimmigkeiten und zeitweilige Gruppierungen der Meinungen vermögen unter gewissen Verhältnissen sich in dauernde Gruppierungen zu verwandeln; diese letzteren können sich ihrerseits früher oder später zu organisierten Fraktionen entwickeln; schließlich wird die fest gebildete Fraktion, dadurch, dass sie in Gegensatz tritt zu den anderen Teilen der Partei, um so mehr Einflüssen unterworfen, die von außerhalb der Partei kommen. Das ist die Dialektik der innerparteilichen Gruppierungen, in einer Epoche, in der die Kommunistische Partei notgedrungen in ihren Händen die Führung des politischen Lebens monopolisiert. Welcher Schluss ergibt sich daraus? Wollen wir keine Fraktionen – so darf es keine dauernden Gruppierungen geben; wollen wir keine dauernden Gruppierungen – so müssen wir auch die zeitweiligen Gruppierungen vermeiden; schließlich um die Partei vor zeitweiligen Gruppierungen zu bewahren, ist es erforderlich, dass es in der Partei überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten gibt, denn wo zwei Meinungen sind, dort wird man sich schon immer gruppieren. Wie aber soll man andererseits Meinungsverschiedenheiten in einer eine halbe Million Mitglieder zählenden Partei vermeiden, die in ausnehmend komplizierten und schweren Verhältnissen das Leben des Landes lenkt? Das ist der wesentliche Gegensatz, der in der Lage der Partei der proletarischen Diktatur selbst wurzelt, und diesen Gegensatz kann man nicht nur durch formale Behandlung aus der Welt schaffen.

Jene Anhänger der alten Richtung, die für die Resolution der Zentrale in der Überzeugung stimmen, dass alles beim Alten bleibt, urteilen zum Beispiel so: Kaum hat man die Schrauben des Parteiapparates etwas gelockert, und schon haben sich Tendenzen zu allen möglichen Gruppierungen ergeben; man muss die Schraube jetzt wieder fester anziehen. Von dieser knappen Weisheit sind Dutzende von Reden und Artikeln „gegen die Fraktionsbildung" durchtränkt. Diese Genossen halten in der Tiefe ihres Wesens dafür, dass die Resolution des ZK entweder ein politischer Schnitzer ist, den man verschmieren muss, oder ein geschicktes Manöver des Apparates, das man ausnützen muss. Ich glaube, dass sie sich ganz grob irren. Und wenn etwas die größte Desorganisation in die Partei hineinbringen kann, so jenes hartnäckige Festhalten an der alten Richtung unter dem Scheine eines willigen Eingehens auf die neue.

Die öffentliche Meinung der Partei bildet sich unvermeidlich aus den Gegensätzen und Meinungsverschiedenheiten heraus. Diesen Prozess nur auf den Apparat zu lokalisieren, während man der Partei alsdann die fertigen Früchte in der Form von Parolen, Befehlen usw. beibringt, heißt die Partei ideell und politisch entkräften. Die Partei zur Teilnehmerin an der Formulierung der Beschlüsse zu machen – heißt den zeitweiligen ideellen Gruppierungen entgegenkommen unter der Gefahr, sie in dauernde Gruppierungen und sogar in Fraktionen zu verwandeln. Was ist nun richtig? Gibt es in der Tat keinen Ausweg? Sollte sich denn keine Linie finden zwischen einem Regime der „unbedingten Partei„stille" und einem Regime der Zerreißung der Partei in Fraktionen? Ja, es gibt eine solche Linie, und die ganze Aufgabe der innerparteilichen Führung besteht darin, sie jedes einzelne Mal, besonders bei Wendepunkten, entsprechend der gegebenen konkreten Lage zu finden. Die Resolution der Zentrale sagt direkt, dass das bürokratische Regime in der Praxis eine der Quellen der Fraktionsgruppierungen ist. Diese Wahrheit bedarf jetzt kaum der Beweise. Die alte Richtung war sehr weit entfernt von einer „ausgebildeten Demokratie", und trotzdem bewahrte sie die Partei nicht nur nicht vor illegalen Fraktionsbildungen, sondern auch nicht vor dem Ausbruch der Diskussionen, der an sich – es wäre lächerlich, davor die Augen zu schließen! – mit der Bildung zeitweiliger oder dauernder Gruppierungen schwanger geht. Zur Vermeidung dessen ist es erforderlich, dass die führenden Parteiorgane ihr Ohr den breiten Parteimassen leihen, nicht jede Kritik als die Äußerung eines Fraktionswesens betrachten, und dadurch die ehrlichen und disziplinierten Parteigenossen auf den Weg der Abgeschlossenheit und des Fraktionswesens stoßen. Eine solche Stellung der Frage über die Fraktionen bedeutet aber doch eine Rechtfertigung des Miasnikowschen Unwesens (Führer der „Arbeitergruppe" – Opposition in der RKP – Red.) – vernehmen wir hier die Stimme der höchsten bürokratischen Weisheit. Ist dem wirklich so? Erstens aber – stellt der von uns oben unterstrichene Satz ein genaues Zitat aus der Resolution der Zentrale dar, und zweitens: seit wann kommt eine Erläuterung einer Billigung gleich? Zu sagen, dass eine Eiterbeule das Resultat einer schlechten Blutzirkulation infolge eines ungenügenden Zustroms von Sauerstoff ist, heißt durchaus nicht, die Eiterbeule „billigen" und sie als einen normalen Bestandteil des menschlichen Organismus anerkennen. Es gilt nur eine Schlussfolgerung: die Eiterbeule muss aufgeschnitten und desinfiziert werden, außerdem aber – und das ist noch wichtiger – muss ein Fenster geöffnet werden, damit die frische Luft dem Blute besser Sauerstoff zuführen kann. Das Unglück besteht aber gerade darin, dass der stärkste Kampfflügel der alten Richtung des Apparates tief überzeugt ist von der Irrtümlichkeit der Resolution des ZK, ganz besonders in jenem ihrer Teile, in dem der Bürokratismus als eine der Quellen des Fraktionswesens bezeichnet wird. Und wenn die Anhänger des alten Kurses das nicht laut sagen, so lediglich aus formellen Gründen, wie überhaupt ihre ganze Denkweise vom Geiste des Formalismus durchdrungen ist, der die ideelle Grundlage des Bürokratismus darstellt.

Ja, die Fraktionen stellen das größte Übel in unseren Verhältnissen dar, und Gruppierungen – selbst zeitweilige – können sich in Fraktionen verwandeln. Es ist aber, wie die Erfahrung zeigt, vollkommen ungenügend, die Gruppierungen und Fraktionen als Übel zu bezeichnen, um dadurch ihre Entstehung unmöglich zu machen. Es bedarf einer bestimmten Politik, bedarf eines richtigen Kurses, um das in Wirklichkeit zu erreichen, wobei man sich jedes Mal der konkreten Lage anzupassen hat.

Es genügt, sich gehörig in die Geschichte unserer Partei, wenn auch nur seit der Revolution, das heißt gerade seit jener Zeit hineinzudenken, seit der das Fraktionswesen besonders gefährlich geworden ist, und es leuchtet ein, dass der Kampf gegen diese Gefahr in keinem Falle sich in einer bloßen formellen Verurteilung und einem Verbot von Gruppierungen erschöpfen kann.

Die drohendste Unstimmigkeit entstand in der Partei im Zusammenhang mit der größten Aufgabe der Weltgeschichte, der Aufgabe der Machteroberung im Herbst 1917. Die Schärfe der Frage bei einem rasenden Tempo der Ereignisse verlieh den Meinungsverschiedenheiten beinahe unmittelbar einen scharf fraktionsmäßigen Charakter: die Gegner der Machteroberung, ohne es sogar zu wollen, schlossen sich faktisch mit Nichtparteielementen zum Blocke zusammen, veröffentlichten ihre Erklärungen in den Blättern der außerhalb der Partei stehenden Presse usw. Die Einheit der Partei stand auf des Messers Schneide. Auf welche Weise ist es gelungen, die Spaltung zu vermeiden? Nur durch die rasche Entwicklung der Ereignisse und ihren siegreichen Ausgang. Die Spaltung wäre unvermeidlich gewesen, wenn sich die Ereignisse einige Monate hingezogen hätten und um so mehr, wenn der Aufstand mit einer Niederlage geendigt hätte. Durch eine stürmische Offensive schritt die von der Mehrheit des ZK fest geführte Partei über die Opposition hinweg, die Macht erwies sich als erobert und die zahlenmäßig sehr geringe, aber im Parteisinne hochqualifizierte Opposition stellte sich auf den Boden der Tatsachen des Oktober. Fraktionswesen und Drohung mit einer Spaltung waren in diesem Falle besiegt worden. Nicht auf formal statutenmäßigem Wege, sondern durch die revolutionäre Handlung.

Die zweite große Unstimmigkeit entstand im Zusammenhang mit der Frage des Brest-Litowsker Friedens. Die Anhänger des revolutionären Krieges schlossen sich in eine regelrechte Fraktion, zusammen, mit einem eigenen Zentralorgan usw. Ich weiß nicht, inwieweit die kürzlich aufgetauchte Anekdote darüber, wie Genosse Bucharin nahe daran gewesen, die Regierung des Genossen Lenin zu verhaften, festen Boden unter sich hat. Allgemein gesprochen, sieht das etwas nach einem schlechten Abenteurerroman von Mayn Reed, nach einer schlechten kommunistischen – Pinkerton-Geschichte aus. Das ist anzunehmen. Die „Istpart" (Kommission für die Geschichte der Partei) wird es schon herausbekommen. Außer Zweifel steht jedenfalls, dass die Existenz einer linkskommunistischen Fraktion eine außerordentliche Gefahr für die Einheit der Partei bildete. Die Sache bis zur Spaltung zu treiben, hätte in jener Periode keine große Mühe gekostet und hätte von Seiten der Führung – keines großen Verstandes bedurft. Es hätte einfach genügt, die linkskommunistische Fraktion als verboten zu erklären. Die Partei hat dagegen eine kompliziertere Methode angewandt: Aussprachen, Erklärungen, Überprüfungen an Hand der politischen Erfahrung, während sie sich vorübergehend mit einer so abnormalen Erscheinung, wie die Existenz einer organisierten Fraktion innerhalb der Partei, abfand.

Wir hatten in der Partei eine ziemlich starke und hartnäckige Gruppierung in den Fragen des militärischen Aufbaues. Ihrem Wesen nach war diese Opposition gegen die Errichtung einer regulären Armee mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen: zentralisierter Militärapparat, Heranziehung von Spezialisten usw. Einige Augenblicke hat der Kampf einen außerordentlich heftigen Charakter angenommen. Aber auch hier wie im Oktober hat die Prüfung geholfen. Die einzelnen Unebenheiten und Übertreibungen der offiziellen Militärpolitik wurden, nicht ohne Mitwirkung der Opposition, gemildert – nicht nur ohne Einbuße, sondern sogar mit Vorteil für den zentralisierten Aufbau der regulären Armee. Die Opposition selbst wurde nach und nach aufgesaugt. Sehr viele ihrer aktivsten Vertreter wurden nicht nur zur militärischen Arbeit herangezogen, sondern übernahmen darin verantwortliche Stellen.

Scharf traten die Gruppierungen in der Periode der denkwürdigen Diskussion über die Gewerkschaften hervor. Augenblicklich, wo wir die Möglichkeit besitzen, diese Epoche in ihrer Gesamtheit zu überschauen und sie mit der gesamten Erfahrung der Nachzeit zu beleuchten, erscheint es vollkommen natürlich, dass der Streit nicht um die Gewerkschaften und nicht einmal um die Arbeiterdemokratie ging: auf dem Wege über diese Streitigkeiten fand eine tiefe Unzulänglichkeit der Partei Ausdruck, deren Ursache die allzu lange Dauer des Wirtschaftsregimes des Kriegskommunismus war. Der gesamte ökonomische Organismus des Landes war in aussichtsloser Klemme. Unter dem Deckmantel einer formellen Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften und die Arbeiterdemokratie wurde auf Umwegen nach neuen wirtschaftlichen Pfaden gesucht. Der wirkliche Ausweg eröffnete sich in der Abschaffung der Zwangserfassung des Getreides und. des Getreidemonopols und der schrittweisen Befreiung der staatlichen Industrie aus den Daumenschrauben der Herrschaft der „Zentralstellen". Diese geschichtlichen Beschlüsse wurden einstimmig gefasst, und sie verschütteten vollkommen die Diskussion über die Gewerkschaften, umso mehr, als auf der Grundlage der Nep die Rolle der Gewerkschaften selbst sich in einem ganz anderen Lichte zeigte und die Resolution über die Gewerkschaften nach einigen Monaten radikal abgeändert werden musste.

Den dauerhaftesten und wegen mancher ihrer Eigenschaften höchst gefährlichen Charakter trug die Gruppierung der „Arbeiteropposition". In ihr widerspiegelten sich gebrochen die Strahlen, sowohl die Widersprüche des Kriegskommunismus wie auch die einzelnen Fehler der Partei, sowie einzelner objektiven Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaues. Aber auch hier beschränkte sich die Sache nicht auf ein formelles Verbot. In Bezug auf die Beschlüsse über die Fragen der Parteidemokratie wurden formelle Schritte unternommen, aber in Bezug auf die Säuberung der Partei faktische, im höchsten Grade wichtige Schritte, die dem entgegenkamen, was an der Kritik und an den Forderungen der „Arbeiteropposition" richtig und gesund war. Und was die Hauptsache ist, dank dem, dass die Partei durch ihre wirtschaftlichen Beschlüsse und Maßnahmen von ausnehmender Wichtigkeit im Grundlegenden und Wesentlichen die hervorgetretenen Unstimmigkeiten und Gruppierungen überschattete, wurde es möglich, beziehungsweise versprach es reale Erfolge, als der X. Parteitag das formelle Verbot der Fraktionsbildung erließ. Aber es ist selbstverständlich – das beweisen uns sowohl die Erfahrungen der Vergangenheit, wie auch der gesunde politische Verstand – dass allein das Verbot an sich nicht nur keine absolute, sondern überhaupt keine irgendwie ernste Garantie der Bewahrung der Partei vor neuen ideellen und organisatorischen Gruppierungen in sich schloss. Die Hauptgarantie ist die Richtigkeit der Führung, ein rechtzeitiges Augenmerk gegenüber allen Forderungen der Entwicklung, die sich in der Partei widerspiegeln, eine Biegsamkeit des Parteiapparates, der die Parteiinitiative nicht paralysiert, sondern organisiert, der sich nicht fürchtet vor den Stimmen der Kritik und der nicht das Gespenst des Fraktionswesens an die Wand malt. Das Andiewandmalen von Gefahren ist überhaupt meistens ein Produkt der Furcht. Der Beschluss des X. Parteitages, der das Fraktionswesen verbietet, kann nur den Charakter einer Beihilfe haben, gibt aber an sich noch nicht den Schlüssel zu allen und jeden inneren Schwierigkeiten. Es wäre ein zu grober, organisatorischer Fetischismus, anzunehmen, dass ein bloßer Beschluss allem, unabhängig vom Gang der Entwicklung der Partei, von den Fehlern der Führung, vom Konservativismus des Apparates, von äußeren Einflüssen usw., imstande ist, uns vor Gruppierungen und fraktionsmäßigen Erschütterungen zu bewahren. So an die Sache heranzugehen, wäre an sich schon arg bürokratisch.

Das krasseste Beispiel des Gesagten gibt die Geschichte der Petersburger Organisation. Bald nach dem X. Parteitag, der die Gruppierungen und Fraktionsbildungen verbot, flammte in Petersburg ein heftiger, organisatorischer Kampf auf, der zu zwei sich scharf gegenüberstehenden Gruppierungen führte. Auf den ersten Blick schien es das einfachste zu sein, eine der Gruppierungen (wenigstens eine) als schädlich, verbrecherisch, fraktionsmäßig usw. zu bezeichnen. Das ZK aber lehnte eine solche Methode, die ihr von Petersburg aus vorgeschlagen wurde, kategorisch ab. Das ZK übernahm die direkte Vermittlung zwischen den beiden Gruppierungen und erreichte schließlich – allerdings nicht sofort – nicht nur deren Zusammenarbeit, sondern auch ihr Aufgehen in der Organisation. Dieses Beispiel von ausnehmender Wichtigkeit sollte man nicht vergessen; es ist geradezu unersetzlich zur Ausmistung der einen oder anderen bürokratischen Schädel.

Oben haben wir ausgeführt, dass jede irgendwie ernste und dauerhafte Gruppierung in der Partei, um so mehr eine organisierte Fraktion, die Tendenz besitzt, zum Ausdruck irgendwelcher besonderen sozialen Interessen zu werden. Jede falsche Abweichung die der Gruppierung zugrunde liegt, kann bei ihrer Entwicklung zum Interessenausdruck einer dem Proletariat feindlichen oder halb feindlichen Klasse werden. Alles das aber bezieht sich insgesamt und sogar in erster Linie auf den Bürokratismus. Von da muss auch ausgegangen werden. Dass der Bürokratismus eine falsche, ungesunde Abweichung ist, das steht wie man hoffen sollte, unstreitbar fest. Ist dem aber einmal so, so droht er in seiner Entwicklung die Partei vom richtigen, das heißt vom Klassenwege abzubringen. Gerade darin besteht seine Gefahr. Es ist aber außerordentlich lehrreich und zugleich sehr beunruhigend, dass jene Genossen, die hartnäckiger, schärfer und zuweilen am gröbsten darauf bestehen, dass jede Unstimmigkeit, jede Gruppierung der Meinungen, selbst eine zeitweilige den Ausdruck verschiedener Klasseninteressen darstellt, dieses Kriterium nicht auf den Bürokratismus anwenden wollen. Dabei ist hier das soziale Kriterium am meisten angebracht, denn im Bürokratismus haben wir es mit einem ganz zweifelsfrei feststehenden Übel zu tun, einer bestimmten und unbestreitbar schädlichen Abweichung, die offiziell verurteilt, aber in keiner Weise überlebt ist. Und wie soll man sie auch sofort ausmerzen? Wenn aber der Bürokratismus, wie die Resolution der Zentrale sagte, die Partei von den Massen loszureißen droht, infolgedessen also auch die Gefahr einer Schwächung des Klassencharakters der Partei in sich birgt, so ergibt sich schon daraus, dass der Kampf gegen den Bürokratismus in keinem Falle von vornherein mit irgendeiner nichtproletarischen Erscheinung identifiziert werden darf. Im Gegenteil, das Streben der Partei, ihren proletarischen Charakter zu wahren, muss unvermeidlich in der Partei selbst eine Abwehr gegen den Bürokratismus erzeugen. Selbstverständlich lassen sich unter der Flagge dieser Abwehr verschiedene Tendenzen einführen, darunter auch falsche, ungesunde und schädliche. Enthüllen lassen sich diese schädlichen Tendenzen nur durch die marxistische Analyse ihres Ideengehaltes. Rein formal aber die Abwehr gegenüber dem Bürokratismus einer Gruppierung gleichzustellen, die als Abflussrohr fremder Einflüsse dienen soll, heißt, selbst vorsätzlich ein „Abflussrohr" bürokratischer Einflüsse zu sein.

Den Gedanken an sich, dass die Unstimmigkeiten in der Partei, und um so mehr die Gruppierungen, einen Kampf verschiedener Klasseneinflüsse bedeuten, darf man dagegen nicht zu primitiv und grob verstehen. In der Frage darüber zum Beispiel, ob wir Polen im Jahre 1920 mit dem Bajonett zu sondieren hatten, hatten wir episodische Unstimmigkeiten unter uns. Die einen waren für eine kühnere Politik, die anderen – für eine vorsichtigere. Waren das verschiedene Klassentendenzen? Das wird kaum jemand zu behaupten wagen. Das waren Unstimmigkeiten in der Einschätzung der Lage, der Kräfte, der Mittel, aber das grundlegende Kriterium der Einschätzung war auf beiden Seiten das gleiche Die Partei kann häufig, die eine oder andere Frage auf verschiedene Weise lösen, und Unstimmigkeiten tauchen hinsichtlich dessen auf, welcher dieser Wege besser, kürzer und ökonomischer ist. Diese Art Unstimmigkeiten können, je nach dem Charakter der Frage, breite Massen der Partei erfassen. Das wird aber durchaus nicht unbedingt bedeuten, dass es sich hier um einen Kampf zweier Klassentendenzen handelt. Man braucht nicht daran zu zweifeln, dass das uns nicht nur ein einziges Mal, sondern Dutzende Male in Zukunft noch passieren wird, denn der Weg, den wir vor uns haben, ist schwierig, und nicht nur die politischen Aufgaben, sondern auch, sagen wir die organisatorisch-wirtschaftlichen Fragen des sozialistischen Aufbaues werden zu Unstimmigkeiten und zeitweiligen Meinungsgruppierungen führen. Die politische Überprüfung aller Schattierungen durch die marxistische Analyse ist für unsere Partei stets die unerlässlichste Vorbeugungsmaßnahme. Aber eben nur die konkrete marxistische Überprüfung; nicht aber eine automatische Schablone als Werkzeug der Selbstverteidigung des Bürokratismus. Jenen ideell politischen Inhalt, der nicht durch und durch gleichartig ist, der gegenwärtig gegen den Bürokratismus auftritt zu überprüfen und durchzuführen, alles Fremde und Schädliche aus ihm auszumerzen, wird sich um so erfolgreicher erreichen lassen, je ernster wir den Weg des neuen Kurses beschreiten Das aber lasst sich seinerseits nicht verwirklichen ohne einen ernsten Umschwung in der Stimmung und dem Selbstgefühl des Apparates der Partei. Wir sind im Gegenteil die Zeugen einer neuen Offensive des Parteiapparates, der jede Kritik des alten – formell verurteilten, aber noch nicht liquidierten – Kurses an Widerrufen mit dem Hinweis auf das Fraktionswesen abtut. Wenn das Fraktionswesen gefährlich ist – und dem ist so – so ist es verbrecherisch, die Augen vor der Gefahr eines konservativ-bürokratischen Fraktionswesens zu verschließen. Gerade gegen diese Gefahr richtet sich in erster Linie die einstimmig angenommene Resolution des ZK.

Die Sorge um die Einheit der Partei ist die wesentlichste und brennendste Sorge der überwiegenden Mehrheit der Genossen. Hier muss aber gerade heraus gesagt werden: wenn augenblicklich eine ernste Gefahr für die Einheit besteht oder wenigstens für die Einmütigkeit der Partei, so ist das der wütende Bürokratismus. Gerade aus diesem Lager haben sich Stimmen vernehmen lassen, die man nicht anders nennen kann als provokatorisch. Gerade von dieser Seite wagte man zu sagen: „Wir fürchten die Spaltung nicht." Gerade die Vertreter dieses Lagers wühlen in der Vergangenheit und suchen alles hervor, was möglichst große Heftigkeit in die Parteidiskussion hineinbringen kann, indem sie künstlich die Erinnerungen an den alten Kampf und die alten Spaltungen beleben, um unmerklich und nach und nach das Denken der Partei an die Möglichkeit eines solch wahnsinnigen, selbstmörderischen Verbrechens, wie eine neue Spaltung zu gewöhnen. Das Bedürfnis der Partei nach Einheit wollen sie mit dem Bedürfnis nach einem weniger bürokratischen Regime in heftigsten Gegensatz bringen. Würde sich die Partei auf diesen Weg begeben und die notwendigsten Lebenselemente ihrer eigenen Demokratie opfern, so würde sie nichts gewinnen als eine Verschärfung des inneren Kampfes und eine Erschütterung ihrer Grundpfeiler. Es geht nicht an, seitens der Partei einseitig und ultimativ Vertrauen zu ihrem Apparat zu fordern, wenn man zur Partei selbst kein Vertrauen hat. Darin liegt das Wesen der Frage. Ein voreingenommenes bürokratisches Misstrauen zur, Partei, zu ihrem Bewusstsein und zu ihrer Diszipliniertheit ist die Hauptursache aller Übel der Herrschaft des Apparates. Die Partei will keine Fraktionen und wird keine zulassen. Es ist ungeheuerlich, anzunehmen, dass die Partei zulassen wird, dass man ihren Apparat zerschlägt oder dass sie ihn selbst zerschlägt. Die Partei weiß, dass zum Apparat die wertvollsten Elemente gehören, die einen ungeheuren Teil der Erfahrung der Vergangenheit verkörpern. Aber sie will den Apparat erneuern und erinnert ihn daran, dass er ihr Apparat ist, von ihr gewählt wird und sich von ihr nicht loslösen darf.

Wenn man die eingetretene Lage in der Partei durchdenkt, ganz besonders so, wie sie sich in der Diskussion entpuppte, bis zu Ende durchdenkt, so werden zweierlei Perspektiven der weiteren Entwicklung klar. Entweder wird die gegenwärtig in der Partei vor sich gehende ideell-organisatorische Umgruppierung auf der Linie der Resolution des ZK wirklich einen Schritt auf dem Wege des organisatorischen Wachstums der Partei bedeuten, den Beginn – selbstverständlich nur den Beginn – eines neuen, großen Kapitels, und dann wird das der für uns alle wünschenswerteste und für die Partei segensreichste Ausgang sein. Dann wird es leicht sein, mit den Übertreibungen der Diskussion und der Opposition und um so mehr mit den vulgärdemokratischen Tendenzen fertig zu werden. Oder aber der zum Gegenangriff übergegangene Parteiapparat wird mehr oder weniger unter den Einfluss seiner konservativsten Elemente gelangen und mit der Losung des Kampfes gegen das Fraktionswesen die Partei erneut auf die gestrigen Positionen der „unbedingten Parteistille" zurückwerfen. Dieser Weg wird viel schmerzhafter sein; er wird natürlich die Entwicklung der Partei nicht aufhalten, wird aber zwingen, diese Entwicklung mit großen Anstrengungen und Erschütterungen zu bezahlen, denn er führt den schädlichen, zersetzenden, parteifeindlichen Tendenzen neue Nahrung zu. Das sind objektiv die sich eröffnenden Möglichkeiten. Der Sinn meines Briefes „Der neue Kurs" bestand darin, der Partei zu helfen, den ersteren Weg zu beschreiten, als gesünderen und ökonomischeren. Und auf dem Hauptpunkte dieses Briefes bestehe ich voll und ganz, wobei ich die tendenziösen und lügnerischen, Auslegungen über ihn von mir weise.

* Ich versuche, in einigen Artikeln eine Einschätzung jener Fragen zu geben, die gegenwärtig im Mittelpunkte der Parteidiskussion stehen. Ich werde bestrebt sein, meinen Ausführungen einen erläuternden Charakter zu geben, um sie auch dem einfachen Parteimitglied zugänglich zu machen, ohne die es eitel ist, über Parteidemokratie zu sprechen. Seitens des Lesers erwarte ich eine ruhige und nachdenkliche Behandlung des Themas. Versuchen wir zuerst einander zu verstehen, uns zu erhitzen haben wir immer noch Zeit. L. T.

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